Kiews dunkelste Stunde

Ukraine: Das Blutbad vom Maidan wird das Land unwiderruflich verändern

Titelgeschichte. Das Blutbad vom Maidan wird die Ukraine unwiderruflich verändern

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Stimmen vom Maidan: profil dokumentiert anhand von Interviews, Einträgen auf sozialen Netz­werken, Medien­berichten und Agentur­meldungen die dramatischen Stunden von Donnerstag auf Freitag, in denen die Ukraine am Rande des Bürgerkrieges stand.

Ich sterbe
Letzte Nachricht der Sanitäterin Olesya Zhukovka, die von einer Kugel in den Nacken getroffen wurde, im sozialen Netzverk Vkontakte

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Die Polizei darf nun Schusswaffen mit sich tragen und wird diese im Einklang mit den Gesetzen der Ukraine gebrauchen. Auf den Straßen werden nicht nur Einsatzkräfte, sondern auch friedliche Bürger getötet, in Kiew und westlichen Regionen haben gewaltsame Ausschreitungen begonnen.
Innenminister Witali Sachartschenko laut Nachrichtenagentur RIA Nowosti

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Ich habe ihm gesagt: „Sei vorsichtig, bleib weg von dort, gehen wir lieber nach Hause.“ Er lachte und sagte: „Papa, mach dir keine Sorgen! Ich habe einen magischen blauen UN-Helm, mir wird nichts passieren.“ Das waren die letzten Worte, die ich von ihm gehört habe.
Der Vater des 19-jährigen Ustym Golodnyuk, einem der am Maidan von Scharfschützen getöteten ­Demonstranten

+++ Lesen Sie hier: Interview - Außenminister Sebastian Kurz fordert eine internationale Untersuchung der ­Gewaltverbrechen in der Ukraine +++

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Hier ist jeder ein Held. Und niemand ist ein Held. Statt Gesichtern siehst du Gasmasken, Sauerstoffmasken, Grippemasken, Schimasken. Du könntest Schulter an Schulter mit irgendjemandem auf der Barrikade stehen, und in der Früh am Maidan an ihm vorbeigehen, ohne ihn oder sie zu erkennen. Und wenn wir dann unsere Gesichter zeigen, ist es möglicherweise nur die Stimme, an der wir uns erkennen. Aber nach stundenlangem Schreien, Fluchen, Rauch oder Tränengas Schlucken klingen auch alle Stimmen gleich. Schwach. Heiser. Krank.
Glaub bloß nicht, dass alles und jeder in Ordnung ist, wenn ein Angriff ein isoliertes Ereignis bleibt oder jemand nur mit einer nicht-tödlichen Waffe getroffen wird. In einer Nacht hatten wir 43 Verwundete. Einer wurde mit einem Hartgummigeschoß in den Kopf getroffen, ein anderer hat sich die Hand gebrochen, als er von einem ausgebrannten Bus stürzte. Alle anderen hatten Erfrierungen. Von Zeit zu Zeit hat die Feuerwehr ihre Schläuche auf die Burschen gerichtet statt auf die brennenden Reifen. Das Wasser ist saukalt und mit Eisbrocken vermischt. Und die Männer haben sich richtiggehend in Eisskulpturen verwandelt.

Sergiy Fedorchuk, Euromaidan-Kämpfer, in einem Blog auf der Website sprotiv.org

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Schwarzer Rauch, Detonationen und Schüsse rund um den Präsidentenpalast. Treffen an anderen Ort verlegt. Offizielle panisch.
Polens Außenminister Radoslaw Sikorski twittert auf dem Weg zu Verhandlungen mit Präsident Viktor ­Janukowitsch

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Wir in Kiew verstehen nicht, warum Russland in Bezug auf die Ukraine den Kopf in den Sand steckt. Warum sind es die Außenminister von Deutschland und Polen, die in Kiew mit dem Präsidenten und der Opposition verhandeln?
Denis Denissow, ukrainischer Politologe, im russischen Fernsehen

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Die Lage in der Ukraine ist vollkommen inakzeptabel und nicht zu verteidigen. Es muss eine internationale Antwort geben. Wir werden Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die Gewalt beraten.
Der britische Außenminister William Hague am ­Donnerstagnachmittag nach dem Treffen der EU-Außenminister in Brüssel

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Die US-Sanktionen ermutigen die Randalierer. Die EU diskutiert ebenfalls Sanktionen und schickt Abordnungen in die Ukraine. Das kann man als Erpressung bezeichnen.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow laut Nachrichtenagentur Itar-Tass

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Manche Hitzköpfe setzen die Frage der Einführung der Sanktionen auf die Tagesordnung. Das ist das Letzte, was man machen kann. Nach der Einführung der Sanktionen bleibt nur eines: die Botschaften zu schließen und einen Krieg zu erklären.
Sergej Kljujev, Abgeordneter der Regierungspartei

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Es gibt kein Zurück mehr. Wenn sie jetzt nicht aufhören mit der Gewalt, dann wird es Krieg geben. Wir haben eine Station in der St.-Georg-Kathedrale aufgebaut, wir zählen allein hier 21 Leichen. Wir versuche gerade, die Familien der Toten zu kontaktieren, damit sie ihre Töchter und Söhne nach Hause bringen und ein Begräbnis für sie organisieren können.
Solomiya W., Koordinatorin von EuroMaidanSOS im Gespräch mit profil

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Der Präsident ist der Ansicht, dass für die Ereignisse in der Ukraine die Extremisten verantwortlich sind.
Dmitry Peskov, Sprecher von Russlands Präsident ­Wladimir Putin

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Unbestritten ist, dass sich unter den gewalttätigen wie auch unter den friedlichen Protestierenden etliche Rechts- und Linksradikale finden. Jedoch spiegelt die Bewegung in gewisser Hinsicht die gesamte ukrainische Bevölkerung wider. Die starke Betonung der Beteiligung rechtsextremer Randgruppen an den Protesten in einigen internationalen Medienberichten ist ungerechtfertigt und irreführend.
Von 38 an ukrainischen, europäischen und ­amerikanischen Universitäten lehrenden Sozial- und Geisteswissenschaftern unterzeichnete Erklärung

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Westliche Politiker weigern sich, die Schuld der ukrainischen Opposition für die Wiederaufnahme des Konflikts zu sehen. Trotz aller Fotobeweise und Zeugenaussagen sowie dem gesunden Verstand zum Trotz machen sie ausschließlich die ukrainische Staatsführung für die Gewalt verantwortlich.
Kommentar in der russischen Zeitung „Rossijskaja Gaseta“

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Sie haben uns jegliche Existenzgrundlage genommen. Deshalb sind wir auf der Straße, um unser Lebensrecht zurückzuerobern.
Vermummter Demonstrant im YouTube-Film „Let’s riot“, der von Aktivisten gedreht wurde

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Wir müssen die Diktatur jetzt und für immer beseitigen. Jetzt trägt Janukowitsch für jeden getöteten oder verstümmelten Menschen persönlich die moralische Verantwortung. Bringt das gefährliche Tier vor Gericht!
Auszüge aus dem Brief der inhaftierten ukrainischen ­Oppositionsführerin Julia Timoschenko

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Es ist die Hölle: Ich habe die Nacht auf dem Maidan verbracht. Ich betrachte mich als friedlichen Menschen, der nichts anderes will als ein besseres Leben für dieses Land – und von einer Minute auf die andere war ich mitten im Krieg: hier in Kiew, in dieser liebenswerten Stadt, meiner Heimat. Ich sah die Menschen, die jetzt Extremisten genannt werden, obwohl es ehrenwerte Leute sind, die ihr Leben und ihre Existenz für die Zukunft der Ukraine opfern. Ich sah das Gewerkschaftshaus brennen, in dem Mädchen vom Feuer eingeschlossen waren. Für die Eskalation sind nur einige wenige Bastarde verantwortlich. Aber die Wunden, die jetzt geschlagen wurden, werden jahrelang nicht verheilen. Die politischen Führer, die jetzt kommen, werden sehr viel Weisheit und Verantwortungsbewusstsein brauchen: Denn sie müssen beweisen, dass die Opfer des Maidan nicht umsonst gestorben sind.
Svitlana Zalishchuk, Aktivistin und ehemalige TV-Journalistin, im Interview mit profil

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Ich habe gebetet wie nie zuvor in meinem Leben. Ich dachte, dass wir jetzt sterben würden, als sie begannen, das Gewerkschaftshaus niederzubrennen – aber ich war dazu bereit. Ich bin geblieben und habe weitergebetet.
Orthodoxer Priester am Maidan

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Bislang gab es zu Beginn jedes Gottesdienstes eine Fürbitte „für unsere gottbehütete Ukraine, unsere Regierung und das Heer“. Nun wird für „unsere gottbehütete Ukraine und das ukrainische Volk“ gebetet.
Statement des ukrainisch-orthodoxen Kiewer Patriarchen Filaret

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Wir sind entrüstet über die Handlungen des Präsidenten und der Regierung. Wir haben beschlossen, nicht mehr anzutreten, obgleich wir die Ukraine sehr lieben. Sollen wir lächeln, wenn es in der Ukraine so viel Blut und Opfer gibt?
Die ukrainische Skirennläuferin Bogdana ­Mazozka und ihr Trainer Oleg Mazozki begründen ihre vorzeitige Abreise von den Olympischen Spielen in Sotschi

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Die Ukrainer sehnen sich nach einer Gesellschaft, in der Diebe bestraft und Wohltäter von der Regierung ermutigt werden. Du hast das Gegenteil getan. Deshalb sollst du das Land nicht länger regieren. Wach auf, Viktor! Draußen vor dem Fenster siehst du eine andere Ukraine. Tritt zurück!
Auszüge aus dem offenen Brief von Oleksandr Suhonyak, dem Chef des ukrainischen Banken­verbandes, an Präsident Janukowitsch

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Wenn ihr dieses Abkommen nicht unterstützt, habt ihr das Kriegsrecht, und die Armee kommt. Ihr werdet alle sterben.
Polens Außenminister Sikorski bei Verhandlungen mit Oppositionellen, ITV News

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Ich bin vom Maidan weggegangen und habe nicht mehr den Mut zurückzukehren: Ich will nicht sterben. Am Dienstag bin ich mit tausenden anderen vor dem Parlament gestanden – Alte und Junge, Frauen und Männer, Geschäftsleute und Studenten, 80 Prozent ohne jede Schutz-ausrüstung und völlig friedlich. In der Nähe des Mariinsky-Parks war eine furchtbare Schlacht im Gang. Ich habe Asthma, das Tränengas brannte mir in den Lungen, Steine flogen. Wir haben es dann irgendwie geschafft, aus dem Schlamassel herauszukommen und ein paar Stunden zu schlafen. In der Früh bin ich am Michaelskloster vorbeigegangen. Dort lagen zehn Tote. Ich habe mich niedergekniet und für sie gebetet.
Ostap Yadnak, Aktivist und Geschäftsmann aus Lviv (Lemberg), im Interview mit profil

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Ich werde alles unternehmen, um die Ruhe in der Ukraine wiederherzustellen und weitere Opfer in diesem Konflikt zu vermeiden. Ich erkläre, dass ich hiermit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ini-tiiere. Außerdem will ich eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 veranlassen.
Viktor Janukowitsch laut einer Mitteilung des ­Präsidialamtes

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Besorgt über den tragischen Verlust von Leben in der Ukraine, ein sofortiges Ende des Blutvergießens anstrebend und entschlossen, den Weg für eine politische Lösung der Krise zu ebnen, haben wir, die unterzeichnenden Parteien, Folgendes vereinbart …
Erster Satz des zwischen Regierung und Opposition am Freitag ausgehandelten Kompromisses

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Eilt: Ukrainisches Parlament stimmt für die Freilassung der inhaftierten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko
Meldung der Nachrichtenagentur Associated Press

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Wir sehen Janukowitschs Erklärung als Täuschungsmanöver. Die nationale Revolution geht weiter.
Dmitrij Jarosch, Chef der nationalistischen Gruppe Rechter Sektor, im sozialen Netzverk Vkontakte

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Ich lebe!
Twitter-Nachricht von Olesya Zhukovka, der auf dem Maidan ­lebensgefährlich verletzten Sanitäterin, aus dem Spital

Lesen Sie die Titelgeschichte von Anna Giulia Fink, Andrej Iwanowski (Moskau), Martin Staudinger und Robert Treichler in der aktuellen Printausgabe oder als e-Paper (www.profil.at/epaper)!