Held und Buhmann

Ukraine: Oppositionsführer Vitali Klitschko zwischen allen Fronten

Ukraine. Oppositionsführer Vitali Klitschko zwischen allen Fronten

Drucken

Schriftgröße

Es gibt nur eines, das schwerer ist, als in der Ukraine ein Volksheld zu sein – einer zu bleiben. Als Vitali Klitschko vergangenen Donnerstag spät abends vor dem Dynamo-Stadion im Zentrum von Kiew eintrifft, wird er mit Buh-Rufen empfangen. „Schande, Schande“, brüllt die Menge dem Mann entgegen, der gerade noch die wichtigste Symbolfigur für den Protest gegen die Regierung war: „Lügner, du wolltest unser Führer sein?“
Klitschko kommt aus dem Präsidentenpalast zurück, wo er an der Spitze einer Oppositionsdelegation fünf Stunden lang versucht hat, Staatschef Viktor Janukowitsch wenn schon nicht den Rücktritt, dann wenigstens Zugeständnisse an die Demonstranten abzuringen. Viel ist dabei nicht herausgekommen.

„Ich will keine Toten”
„Ich weiß, dass meine Rede euch enttäuschen wird“, ruft Klitschko nun fast verzagt: „Aber ich will keine Toten. Ich fürchte mich davor, in die Augen der Mütter zu sehen und auf die Frage zu antworten, warum ihre Kinder starben.“ In den Stunden zuvor sind bei den Demonstrationen mehrere Menschen ums Leben gekommen. Klitschkos Hand zittert, notiert ein Online-Reporter der deutschen „Zeit“, der die Szene beobachtet, aber vielleicht ist es ja auch nur die Kälte in dieser Nacht.

+++ Ukraine: „Auf dem Weg in die Autokratie” +++

Woche neun des „Euromaidan“ – der Protestbewegung, die sich im November an der überraschenden Entscheidung der Regierung Janukowitsch entzündet hat, sich zugunsten einer Annäherung an Russland von der EU abzuwenden. Eine Reihe von Gesetzen mit tiefen Eingriffen in die Presse- und Versammlungsfreiheit, die seither im Eilverfahren durchgepeitscht wurde, lässt nicht von ungefähr an „gelenkte Demokratie“ nach dem Gusto von Wladimir Putin denken. Hinzu kommt die generelle Unzufriedenheit mit Janukowitsch, dessen System den westlich orientierten Ukrainern als ebenso autoritär wie korrupt gilt.

Zwischen die Fronten
Mit Vitali Klitschko hätte der „Euromaidan“ das, was der Arabische Frühling nie hervorgebracht hat: einen Anführer, der nicht nur im Land selbst, sondern auch im demokratischen Ausland Ansehen und Sympathie genießt – und der bei den Demonstrationen unter hohem persönlichen Risiko ganz vorne dabei ist. Doch je länger sich die Proteste hinziehen, desto mehr gerät er auch politisch zwischen die Fronten – und läuft nunmehr Gefahr, zwischen der Regierung und ihren Gegnern zerrieben zu werden.

Brutales Geschäft
Politik ist in der Ukraine ein brutales Geschäft, bei dem Handgreiflichkeiten im Parlament noch zu den harmloseren Methoden gehören. Politische Gegner müssen durchaus damit rechnen, unter fragwürdigen Umständen angeklagt, abgeurteilt und ins Gefängnis geworfen zu werden: Die – auch nicht unumstrittene – frühere Regierungschefin Julia Timoschenko etwa sitzt nach einem zweifelhaften Korruptionsprozess in Haft. Wenn es wirklich ernst wird, sind nicht einmal Mordversuche ausgeschlossen: Der frühere Präsident Viktor Juschtschenko etwa überlebte nur knapp ein Attentat mit Dioxin, das sein Gesicht fast bis zur Unkenntlichkeit entstellte.

Politik in der Ukraine ist zudem höchst unübersichtlich. Wie in vielen anderen postsowjetischen Staaten ist Opposition gegen eine autokratische Führung auch hier nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit dem Streben nach Demokratie – sie kann bloß Symptom eines Machtkampfs um die Dominanz im System sein.

Was Vitali Klitschko für die Rolle des Hoffnungsträgers prädestiniert, ist die Tatsache, dass er nie an diesem schmutzigen Spiel teilgenommen hat. Weder ist er in der Ukraine aufgewachsen, noch war er Teil der Elite des Landes.

„Ich bin multikulturell”
Klitschko, 42, wurde in der Sowjetunion sozialisiert. Seine Mutter ist Russin, sein Vater Ukrainer und als hochrangiger Luftwaffen-Offizier lange Zeit in Zentral-asien stationiert. Vitali wird in Kirgisistan geboren, sein um fünf Jahre jüngerer Bruder Wladimir in Kasachstan. Später übersiedelt die Familie in die damalige Tschechoslowakei.

„Das Gute, was wir von der Sowjetunion haben: Nationalität bedeutet nichts. Ich bin multikulturell“, sagt er einmal in einem Interview. Die Karriere als Boxer verschlägt ihn und seinen Bruder in den 1990er-Jahren nach Deutschland.

Hart, aber herzlich
Dort machen die beiden nicht nur Sport-, sondern auch Society-Karriere – als eine Art jugendfreie Schwergewichts-Variante. Keine Skandale, keine Drogen, kein Alkohol. Hart, aber herzlich: „Ich bin total treu und total romantisch“, erzählt Vitali der Zeitschrift „Bild der Frau“ im Jahr 2003, damals 31 Jahre alt und Vater eines dreijährigen Sohnes sowie einer acht Monate alten Tochter: „Vor ihrer Geburt war ich viel härter. Kinder machen die Seele weich. Durch sie sehe ich die Welt mit anderen Augen. Wenn ich nach Hause komme und mit ihnen spielen kann, ist das so ein schönes Gefühl.“

Dafür darf er auch Sachen sagen, die man keinem anderen durchgehen lassen würde. Zum Beispiel: „Boxen ist ein Männersport. Narben machen einen Mann charismatisch. Eine Frau machen sie nicht schöner.“ Ab 2004 lebte Vitali Klitschko in zwei grundverschiedenen Welten. Einerseits im Tingel-Tangel-Zirkus, in den Sportler mit einer gewissen Prominenz fast zwangsläufig hineingezogen werden: Fernsehgalas, Promi-Hochzeiten, Klatschspalten-Präsenz.

Und andererseits im harten Geschäft der Politik, härter noch: der Politik eines postsowjetischen Staates mit unsicherem Verhältnis zur Demokratie. 2004 ist das Jahr, in dem sein heutiger Gegner Viktor Janukowitsch zum ersten Mal Präsident der Ukraine wird – in einer Wahl, von so deutlichen Hinweisen auf Manipulation überschattet, dass ihr nicht nur die Opposition die Anerkennung verweigert, sondern auch die OSZE, die EU und die USA.

Orange-farbene Revolution
Das ist der Punkt, an dem die Brüder Klitschko sich einzumischen beginnen. „Wir haben uns stets für einen offenen und demokratischen Wahlprozess eingesetzt. Was wir allerdings jetzt aus Kiew über Agenturen, Freunde und Bekannte mitgeteilt bekommen, ist leider das konkrete Gegenteil“, teilen sie in einer Stellungnahme aus dem Trainingslager mit. Wenig später beginnt die orange-farbene Revolution. Die Wahl wird annulliert, eine neue angesetzt, Janukowitsch verliert, Viktor Juschtschenko wird Präsident, Julia Timoschenko Ministerpräsidentin. Aufbruchsstimmung.

Am 1. Dezember 2005 werden die Klitschko-Brüder in München mit dem TV-Preis Bambi ausgezeichnet, eine Veranstaltung mit Promis von Bill Clinton abwärts. Zehn Tage später kündigt Vitali, der inzwischen seinen Ausstieg aus dem Boxsport verkündet hat, seine Kandidatur bei den Parlamentswahlen in der Ukraine und als Bürgermeister von Kiew an. Er scheitert beide Male.

Es folgen: ein erneutes – erfolgloses – Antreten bei den Bürgermeisterwahlen in Kiew und ein – siegreiches – Box-Comeback. Klitschko holt sich damit den Titel des Schwergewichts-Weltmeisters zurück und verteidigt ihn zehn Mal erfolgreich, bis er im Dezember 2013 zum „Weltmeister im Ruhestand“ ernannt wird.

Bilanz: 47 Profi-Kämpfe, 45 gewonnen, 41 davon durch k.o.
In der Zwischenzeit ist das Politkarussell in der Ukraine mit Schwung weitergelaufen. Julia Timoschenko wurde 2006 als Ministerpräsidentin von Viktor Janukowitsch abgelöst, hat diesen 2007 wiederum aus dem Amt gedrängt und ist erneut Regierungschefin. Janukowitsch siegte bei den Präsidentschaftswahlen 2010 sowohl über Juschtschenko als auch über Timoschenko, die in der Folge mit schwersten Korruptionsvorwürfen konfrontiert und vor Gericht gestellt wird.

Die Ukraine, der zweitgrößte Flächenstaat des europäischen Kontinents, ächzt an den Widersprüchen zwischen seinem Russland-affinen Osten und dem nach Europa orientierten Westen – und daran, dass die beiden Außenmächte versuchen, das Land auf ihre Seite zu ziehen.


Größere Kartenansicht

Bei den Parlamentswahlen 2012 tritt Klitschko als Spitzenkandidat seiner Partei Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (Udar) und mit einem betont europafreundlichen Programm an. Udar – auf Ukrainisch „Schlag“ – zieht als drittstärkste Fraktion in die Werchowna Rada, das ukrainische Abgeordnetenhaus, ein.

Er legt sich mit der dominierenden Partei der Regionen von Präsident Janukowitsch an und scheut dabei auch nicht vor Aktionismus zurück: etwa, indem er mehrmals im Parlament übernachtet, um eine Anwesenheitspflicht für Mandatare bei Abstimmungen zu erzwingen.

Im Juni 2013 geht Klitschko bei einer Umfrage zu den Präsidentschaftswahlen 2015 erstmals vor Janukowitsch in Führung, im darauffolgenden Oktober kündigt er seine Kandidatur an.

„Wir sind ein europäisches Land – mit unserer Mentalität, unserer Geografie – und wollen der Europäischen Union beitreten“, hat er bereits im Parlaments-Wahlkampf erklärt. Doch dann kommt der 21. November 2013 – der Tag, an dem dieser Plan ein für alle Mal durchkreuzt zu werden scheint. Die Regierung Janu-kowitsch stoppt überraschend die bereits weit gediehenen Vorbereitungen für ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen, das die Ukraine eng an die EU heranführen soll. „Russland hat die Ukraine mit Handelsblockaden, mit dem Zollmechanismus, mit dem Gaspreis erpresst“, fasst Elmar Brok, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im EU-Parlament, die Gründe für den überraschenden Schwenk zusammen.

An diesem Tag formiert sich in Kiew der „Euromaidan“, und damit ein Bündnis mit Klitschko an der Spitze, dem auch höchst fragwürdige Kräfte angehören. Mit von der Partie ist nicht nur Timoschenkos Vaterlandspartei, deren Führung der 39-jährige Scharfmacher Arseni Jazenjuk übernommen hat – sondern auch die ultranationalistische Partei „Swoboda“ (Freiheit). Ihr Chef, der 45-jährige Oleg Tjagnibok, sieht sich selbst als Anführer einer „Sondereinheit fürs Grobe“ und ist in der Vergangenheit immer wieder durch antisemitische Rhetorik aufgefallen.

Tjagnibok stammt aus Lwiw (Lemberg) in der Westukraine – also einem vormals polnischen Gebiet, das im Zuge des Zweiten Weltkriegs der Ukraine zugeschlagen wurde und eine lange nationalistische Tradition hat. Von dort kommen auch viele Angehörige des „Privyy Sektor“, eines losen Zusammenschlusses von Rechtsextremisten, die beim „Euromaidan“ die vorderste Front der gewaltbereiten Demonstranten bilden. Andrei Tarasenko, ihr Koordinator, kündigte bereits einen „Guerilla-Krieg“ gegen die Regierung an, sollte den Forderungen der Protestbewegung nicht entsprochen werden.

Während Klitschko am Donnerstag nach den erfolglosen Verhandlungen mit Präsident Janukowitsch zu Mäßigung und Gewaltverzicht aufrief, stachelten „Swoboda“-Führer Tjagnibok und Vaterlandspartei-Chef Jazenjuk ihre Anhänger zum „Kampf“ auf.

Ob es Klitschko gelingen würde, eine weitere Eskalation zu verhindern, war bis Freitag Abend unklar. Es wird wohl vom Ergebnis der Sondersitzung des Parlaments abhängen, die Janukowitsch für diese Woche einberufen hat. Eine Regierungsumbildung und die Zurücknahme einiger Gesetze hat der Präsident dabei zumindest in Aussicht gestellt.

Passiert das nicht, dann könnte Klitschko die Kontrolle bald entgleiten – selbst über seine engsten Anhänger. Das musste er an den Reaktionen auf sein Treffen mit dem Präsidenten erkennen: „Ich wurde von meinen eigenen Leuten scharf dafür kritisiert, dass ich Janukowitsch vor den Verhandlungen die Hand geschüttelt habe“, schreibt Klitschko in einem Blog, den er für die deutsche „Bild-Zeitung“ verfasst: „Vielleicht war das ein Fehler, aber ich wollte wirklich alles für den Frieden tun.“