Fahrlässige Tötung oder Freispruch?

Urteil im Pistorius-Prozess: "Fahrlässige Tötung" oder Freispruch?

Aktuell. Richterin Masipa sprach Oscar Pistorius vom Mord- und Totschlagsvorwurf frei

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+++ Urteil: Oscar Pistorius wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen +++

Die Anklage habe nicht zweifelsfrei beweisen können, dass der 27-Jährige das Model Reeva Steenkamp im Streit getötet habe, sagte Richterin Thokozile Masipa beim Beginn der Urteilsverlesung in Pretoria. Das Urteil selbst ergeht voraussichtlich am Freitag.

Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung wahrscheinlich
Die bisherigen Passagen des Urteils deuten eher darauf hin, dass Pistorius wegen fahrlässiger Tötung (engl.: culpable homicide) verurteilt werden könnte, als dass er freigesprochen wird. Er hatte Steenkamp mit Schüssen durch die geschlossene Badezimmertür seiner Villa getötet. Die Richterin sagte zwar, Pistorius habe offenkundig die Möglichkeit nicht in Betracht gezogen, dass er "die Person hinter der Tür töten könnte". Jedoch folgte sie nicht der Argumentation der Verteidigung, Pistorius habe im Reflex gehandelt.

Für die Staatsanwaltschaft kommt Masipas Einschätzung einer Niederlage gleich. Der als unerbittlich geltende Chefankläger Gerrie Nel hatte in seinem Plädoyer vor rund einem Monat verlangt, Pistorius in allen Anklagepunkten schuldig zu sprechen.

Griff nach Waffe "bewusste Entscheidung"
Als er nach der Waffe gegriffen habe, sei dies eine "bewusste Entscheidung gewesen", sagte Masipa. Der Sportler litt nach Aussage der Richterin zur Tatzeit nicht unter einer psychischen Störung. "Er wusste, was richtig und was falsch war." Pistorius habe "überhastet und zu gewaltsam reagiert", obwohl er die Zeit zum Nachdenken und für eine angemessene Reaktion gehabt habe. "Unter diesen Umständen ist es eindeutig, dass er fahrlässig handelte", sagte die Richterin, bevor sie die Sitzung auf Freitag vertagte.

Der an den Unterschenkeln amputierte Ausnahmesportler hatte seine Freundin im Februar 2013 in der Nacht auf den Valentinstag mit vier Schüssen getötet. Er gab an, das Model für einen Einbrecher gehalten zu haben. Hingegen nahm die Staatsanwaltschaft an, dass Pistorius seine Freundin im Wutanfall nach einem Streit tötete.

Starke Emotionen im Gerichtsaal
Wie schon während des gesamten sechsmonatigen Prozesses war auch am Donnerstag die Atmosphäre im Gerichtssaal vom Ausdruck starker Emotionen geprägt: Während die Richterin am Morgen ohne Verzögerung mit der Verlesung ihres Urteils begann, waren im Saal nur angespannte Gesichter zu sehen. Als sie die Mittagspause einläutete, lief Pistorius' Schwester Aimee zu ihrem älteren Bruder und umarmte ihn. Der Sportler war während der Verlesung immer wieder in Tränen ausgebrochen. Die Eltern seiner toten Freundin, Barry und June Steenkamp, verließen mit versteinerten Mienen den Saal.

Auch wenn sie ihm keine Mordabsicht unterstellt, steht Pistorius im Urteil der Richterin in keinem guten Licht da. Er sei ein "sehr armseliger Zeuge" gewesen, befand Masipa. Oftmals habe er ausweichend reagiert, und wenn er im Kreuzverhör auf Widersprüche hingewiesen worden sei, habe er "stets" seine Verteidigung verantwortlich gemacht. Zudem sei seine Argumentation nicht stimmig gewesen - einmal habe er von Notwehr gesprochen, ein anderes Mal von einem Unfall. Sein Verteidiger Barry Roux hatte ienen Freispruch verlangt. Er erklärte die tödlichen Schüsse seines Mandanten mit dessen Angststörung.

Zweifel an Zeugenaussagen
Zuvor hatte die Richterin bereits die Aussagen vieler Zeugen in Zweifel gezogen. Einige hätten Probleme mit den Fakten gehabt, als Beispiel nannte sie die Aussagen von Nachbarn, die aus großer Entfernung Schreie einer Frau und Schüsse gehört haben wollten. Doch seien sie nach Ansichten der Richterin zu weit entfernt gewesen, um eine zuverlässige Aussage liefern zu können.

Schuld daran könnte der außergewöhnliche Medienrummel um den Fall sein, sagte Masipa: "Ich denke, sie konnten nicht mehr unterscheiden, was sie persönlich wussten, was sie von anderen hörten oder aus den Medien erfuhren."

Sollte Pistorius verurteilt werden, ist das Justizdrama noch nicht zu Ende: Das Strafmaß würde dann erst zu einem späteren Zeitpunkt, in mehreren Wochen, verkündet. Davor hätte die Verteidigung noch Gelegenheit, mildernde Umstände geltend zu machen. Experten rechnen zudem damit, dass beide Seiten in Berufung gehen werden. Pistorius droht beim Szenario der fahrlässigen Tötung eine Haftstrafe von maximal 15 Jahren, nach unten hin ist aber alles offen - bis hin zur Bewährungsstrafe. Die Richterin hat also einen hohen Ermessensspielraum.

(APA/Red.)