Warum wird so wenig Essen nach Gaza geliefert?
Wie steht es um die Essenslieferungen nach Gaza derzeit?
Martin Frick
Wir hatten die längste Blockade des Gaza-Streifens in der Geschichte. Diese ist jetzt Gott sei Dank etwas gelockert worden. Aber die Menge, die wir in den Gazastreifen liefern dürfen, und ich sage bewusst dürfen, weil wir über 140.000 Tonnen Lebensmittel rund um den Gazastreifen gelagert haben, ist ein Bruchteil dessen, was wir könnten. Und ein Tropfen auf den heißen Stein, gemessen an dem, was notwendig wäre.
Warum dürfen Sie nicht mehr Lebensmittel nach Gaza liefern?
Martin Frick
Alles, was die Grenze überquert, wird von israelischen Sicherheitsbehörden geprüft. Wir können und dürfen nur das liefern, was die israelischen Behörden auch freigeben. Und da erleben wir immer wieder, dass etliche Lastwagen ohne Begründung abgelehnt oder aufgehalten werden. Die Behörden haben eine sehr sporadische Genehmigungspraxis. Aktuell gelangen allenfalls Mehl, Notfallnahrung und einige wenige Nahrungsmittelpakete nach Gaza. Wir versuchen natürlich, jeden Einfluss auszuüben, damit wir im größeren Maßstab wieder in den Gazastreifen fahren können. Wir haben seit Mai – also in etwas mehr als zwei Monaten – 1200 Lkws bewegt. Wenn ich das vergleiche, hatten wir während des Waffenstillstands 600 bis 700 Lastwagen pro Tag.
War das damals genug?
Martin Frick
Wir haben innerhalb kürzester Zeit viel erreichen können und tatsächlich auch eine Hungersnot abgewendet. Heute ist es so, dass wir 2,1 Millionen Menschen im Gazastreifen haben, die alle hungern. Und davon 470.000, also fast eine halbe Million, die akut von Hungersnot bedroht sind. Wir haben 90.000 Kinder, die komplett unterernährt sind. Und die Situation ist wirklich verheerend. Wir haben es geschafft, während des Waffenstillstands an über 400 Ausgabepunkten zu verteilen. Wenn wir jetzt überhaupt in den Gazastreifen fahren können, sind wir umlagert von verzweifelten Menschen. Da werden die Lastwagen spontan abgeladen, wo man den Menschen auch wirklich keinen Vorwurf daraus machen kann. Weil in der Verzweiflung die Sorge ist, dass der Lastwagen, den man sieht, der letzte ist, der es überhaupt dorthin schafft.
Die Menge, die wir in den Gazastreifen liefern dürfen, und ich sage bewusst dürfen, weil wir über 140.000 Tonnen Lebensmittel rund um den Gazastreifen gelagert haben, ist ein Bruchteil dessen, was wir könnten.
Direktor World Food Programme-Office Berlin
Hat sich die Lage vor Ort – im Vergleich zum vergangenen Jahr zum Beispiel – verschlimmert?
Martin Frick
Ich hätte es vor einem Jahr fast nicht für möglich gehalten, aber es ist noch viel, viel schlimmer geworden. Das Maß des Elends ist schwer vorstellbar. Menschen durchwühlen Abfall auf der Suche nach Essen. Eltern verzichten auf das Wenige, das sie zu essen finden, damit ihre Kinder überleben können. Wir haben so ein Maß von Verzweiflung selten gesehen. Außerdem sind bereits mehr als 470 humanitäre Helfer in diesem Konflikt getötet worden. Ein großer Teil davon waren UN-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Es gibt Berichte aus Israel, wonach Soldaten der IDF angeblich Befehle bekommen haben, auf Zivilisten, die bei den Lebensmittellieferungen stehen, zu zielen. Haben Sie davon auch mitbekommen?
Martin Frick
Wir kennen diese Berichte. Das betrifft aber nicht Verteilungen durch das World Food Programme, sondern Verteilstellen der Gaza Humanitarian Foundation. Ich muss auch nochmal betonen, dass es bei unseren Verteilstellen keine bewaffneten Sicherheitskräfte gibt, weil die UN dabei nach humanitären Prinzipien agieren.
Martin Frick
Das ist wirklich Unfug! Das World Food Programme arbeitet weltweit mit Hunderten Nichtregierungsorganisationen zusammen. Wir sind nicht nur dazu bereit, mit allen zusammenzuarbeiten, wir sind auch diejenigen, die innerhalb der UN-Familie das humanitäre Logistik-Cluster leiten. Unsere Kompassnadel ist der Bedarf der Menschen und das Bedürfnis, humanitäres Leid zu mindern. Wichtig ist dabei aber die Einhaltung humanitärer Prinzipien.
Also führen Sie auch keine heimliche Boykott-Kampagne?
Martin Frick
Nein. Und wenn das nach humanitären Prinzipien möglich ist, arbeiten wir selbstverständlich zusammen. Wir haben über 60 Jahre Erfahrung mit Logistik im Krisengebiet.
Die GHF behauptet, ein Großteil der Hilfslieferungen des WFP und anderer UN-Organisationen und NGOs sei in der Vergangenheit von der Hamas abgezweigt worden. Die GHF hätte eine bessere Methode, die das verhindert. Stimmt das?
Martin Frick
Wir haben das intensiv überprüft. Und bei uns fährt kein Lastwagen, ohne dass die israelischen Sicherheitsbehörden informiert sind. Wir haben öffentlich immer wieder betont, dass unsere Teams keine Belege für eine großflächige Abzweigung von Hilfsgütern in Gaza haben. Es herrscht gerade dennoch ein Zustand, in dem die öffentliche Ordnung so zusammengebrochen ist, dass das, was man dort sieht, mit einer vernünftigen und einer bedarfsorientierten Verteilung nichts zu tun hat.
Ich hätte es vor einem Jahr fast nicht für möglich gehalten, aber es ist noch viel, viel schlimmer geworden. Das Maß des Elends ist schwer vorstellbar. Menschen durchwühlen Abfall auf der Suche nach Essen.
Direktor World Food Programme-Office Berlin
Es steht wieder im Raum, dass ein neuer Waffenstillstand kommt. Was würde das für die Essenslieferungen und die Menschen in Gaza bedeuten?
Martin Frick
Das ist das absolut Dringendste, damit wir so viele Hilfsgüter wie möglich in den Gazastreifen transportieren können und damit sich die Situation dort beruhigt. Damit die Menschen nicht mehr verzweifelt sind, weil sie nicht wissen, wann der nächste Lastwagen kommt. Wir brauchen viele Verteilpunkte. Und um das überhaupt zu ermöglichen, benötigen wir in ähnlichem Umfang wie bei dem letzten Waffenstillstand die Möglichkeit, wirklich mit Masse in den Gazastreifen zu fahren. Weil man sich nicht vorstellen kann, dass es wirklich an allem fehlt. Lebensmittel sind ja nur ein Teil.
Sie beliefern – neben Gaza – auch andere Krisengebiete auf der Welt. Inwiefern unterscheidet sich die Lage in Gaza von anderen Gebieten?
Martin Frick
Wir haben eine unglaubliche Explosion des Hungers weltweit. Wir hatten im Dezember 2019, kurz vor Covid, ungefähr 135 Millionen Menschen, die akut auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen waren. Heute sind es mehr als 319 Millionen Menschen weltweit, die akut hungern.
Aus welchen Regionen stammen die?
Martin Frick
Das betrifft ganz stark den Mittleren Osten, die Sub-Sahara-Zone in Afrika, aber auch Afghanistan oder Haiti. Wir sind heute bei rund 300 Millionen Menschen, die akut Nahrungsmittelhilfe brauchen. Was vielleicht der Unterschied ist, dass wir in Situationen wie Sudan extrem unterfinanziert sind. Wir haben 26,5 Millionen Menschen, die in katastrophalen Hungerverhältnissen leben. Wir können dort nur jeden Sechsten erreichen. In Gaza ist zumindest für die unmittelbare Zukunft, für die nächsten zwei Monate, genug Material da. Das steht alles bereit, da ist das Problem der Zugang.