Hamas-Chef Abdelasis Al-Rantisi 2002 in seiner Wohnung in Gaza
Nahost

Wie die Hamas so mächtig werden konnte

Robert Treichler berichtet seit 25 Jahren über den Nahostkonflikt. Er saß beim Hamas-Chef von Gaza in dessen Wohnzimmer und begleitete einen Imam der Hamas durch den Alltag. Seit dem Massaker des 7. Oktober stellt er sich die Frage: Wie konnte die Terrororganisation so stark werden?

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Im Jänner 2002, an einem sonnigen Wintertag, bringt mich ein Taxi auf einer nicht asphaltierten Straße am Stadtrand von Gaza zu einem bescheidenen Wohnhaus. Die Palästinenserin, die ich dafür bezahlt habe, mich hierher zu bringen, sagt, ich solle im Auto warten, und klingelt an der Haustür. Ein Leibwächter kommt heraus. Die beiden wechseln ein paar Worte. Dann mustert er mich und verschwindet wieder im Haus. Ein paar Minuten später darf ich eintreten.

Drinnen erwartet mich Abdelaziz Al-Rantisi. 55 Jahre alt, gelernter Mediziner mit dem Fachgebiet Parasitologie und Genetik – und Mitbegründer der Hamas. Zu diesem Zeitpunkt ist Al-Rantisi das öffentliche Gesicht der islamistischen Organisation, offiziell fungiert der gelähmte, fast blinde Imam Ahmed Yassin als deren „geistlicher Führer“. Beide, Yassin und Al-Rantisi, stehen auf der „Wanted“-Liste der israelischen Regierung.

Auf einer altrosa Couch sitzend, hinter ihm ein farblich abgestimmter dekorativer Vorhang, rezitiert der Hamas-Boss die Ideologie seiner Bewegung: Niemals werde man den Staat Israel akzeptieren; jeder israelische Bürger jedes Alters, egal ob männlich oder weiblich, sei ein legitimes Angriffsziel, denn in Israel gelte die allgemeine Wehrpflicht, alle seien potenziell Soldaten.

Zu dieser Zeit tötet die israelische Armee hochrangige Terror-Paten mittels Raketenangriffen. Ich frage Al-Rantisi, für wie wahrscheinlich er es halte, demnächst Opfer einer solchen Operation zu werden. „Mein Schicksal liegt in Allahs Händen“, antwortet er ungerührt.

In den Gehirnen von Terroristen hausen Dogmen und Fanatismen, die gegen jegliche Menschlichkeit verstoßen. Damit konfrontiert zu werden, ist jedes Mal aufs Neue eine schaurige Erfahrung, aber nicht wirklich überraschend. Das Erstaunliche ist, dass die Hamas trotz ihres Extremismus so stark werden konnte – populär in der palästinensischen Bevölkerung und in ihrer Gefährlichkeit unterschätzt von vielen Playern.

Wie kam das?

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur