Wer blockiert das Renaturierungsgesetz wirklich?

SPÖ und Grüne werfen einander beim EU-Renaturierungsgesetz Blockadehaltung vor. Nur eine Seite hat recht.

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Es kommt nicht alle Tage vor, dass sich die neun österreichischen Bundesländer in einer Sache einig sind. Zwischen Wien und Vorarlberg liegen mitunter politische Welten – nicht jedoch beim geplanten Renaturierungsgesetz der EU, über das seltenes föderales Einvernehmen herrscht. 

Das geplante Gesetz soll unter anderem die verstärkte Aufforstung von Wäldern oder die Wiedervernässung von Mooren vorschreiben; außerdem sieht es vor, dass mehr Flüsse renaturiert werden. Die Länder haben bezüglich dieser Vorhaben mehrere Bedenken im Klimaministerium angemeldet – sie zweifeln mitunter an der Umsetzbarkeit der Maßnahmen. Ressortchefin Leonore Gewessler (Grüne) hätte sich deshalb bei der Abstimmung über das Gesetz im März enthalten müssen, der Termin wurde aufgrund einer fehlenden qualifizierten Mehrheit – das Gesetz muss mit Stimmen von mindestens 55 Prozent der EU-Staaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, beschlossen werden – auf Juni verschoben. 

Das stieß auf harte Kritik seitens der SPÖ: Umweltministerin Gewessler hätte sich dazu „entschieden“, sich in Brüssel zu enthalten und würde so das Gesetz blockieren, so Andreas Schieder, der rote EU-Spitzenkandidat, in der ORF-Pressestunde am vergangenen Sonntag. Die Grünen spielten den Ball sogleich zurück: Nicht Gewessler, sondern die drei roten Landeshauptleute Michael Ludwig, Hans Peter Doskozil und Peter Kaiser würden blockieren, so die Grüne Generalsekretärin Olga Voglauer. 

Verantwortlich für diese Fragen ist die Bundesregierung. Und innerhalb der Bundesregierung die Klimaministerin Gewessler, und die hat sich entschieden, in Brüssel sich zu enthalten, was dazu führt, dass [das Renaturierungsgesetz] blockiert ist [...].

Andreas Schieder (SPÖ)

ORF-Pressestunde, 5. Mai 2024

Falsch

Wer blockiert hier eigentlich wirklich? Um diese Frage zu klären, lohnt sich ein Blick in das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz. Die Mitwirkungsrechte der Bundesländer an der EU-Gesetzgebung sind dort in Artikel 23d geregelt. Darin heißt es, dass der Bund die Länder über Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union unverzüglich informieren muss, sofern sie den „selbstständigen Wirkungsbereich der Länder berühren” oder „sonst für sie von Interesse sein könnten“. Und: Wenn die Länder zu einem Vorhaben eine einheitliche Stellungnahme an den Bund übermitteln, dann ist der Bund bei Verhandlungen und Abstimmungen an diese Stellungnahme gebunden und darf davon nur aus außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichen. 

Beim Renaturierungsgesetz ist das passiert: Die neun Bundesländer haben dem Bundeskanzleramt bereits im November 2022 eine einheitliche Stellungnahme übermittelt, die im Mai 2023 aktualisiert wurde. Die aktualisierte Stellungnahme liegt profil vor. 

Darin heißt es nicht etwa, dass das Renaturierungsgesetz ganzheitlich abgelehnt wird, sondern es wird auf insgesamt 21 Seiten recht konkret aufgeschlüsselt, an welchen Passagen, Formulierungen und Absätzen sich die Länder stoßen. Es wird beispielsweise angeführt, dass die „in Art. 9 Abs. 4 geforderten Wiederherstellungsmaßnahmen für die landwirtschaftlich genutzten organischen Böden, bei denen es sich um trockengelegte Torfmoorflächen handelt, [...] abgelehnt“ werden. Aus Sicht der Länder bleiben „wesentliche Fragen um die Umsetzbarkeit“ offen. 

Leonore Gewessler ist an diese Stellungnahme gebunden – und muss sich auf europäischer Ebene enthalten. Die Aussage, Klimaministerin Gewessler hätte sich dazu entschieden, das Renaturierungsgesetz zu blockieren, ist falsch. Gewessler hat sich in dieser Sache nach den Bundesländern zu richten. Aus dem Klimaministerium heißt es dazu: „Klimaschutzministerin Leonore Gewessler steht inhaltlich hinter dem Gesetz und hat das auch immer betont. Die Enthaltung lag ausschließlich an der einheitlichen Stellungnahme der Bundesländer – daran können die Länder etwas ändern, jedoch nicht die Ministerin.“

Die SPÖ weist auf Anfrage darauf hin, dass es „sehr wohl in der Verantwortung der Regierung und insbesondere der zuständigen Ministerin liegt, unter den Bundesländern einen Konsens herzustellen – das wurde verabsäumt“. Außerdem kritisiert die SPÖ, dass es nie einen gemeinsamen Termin des Ministeriums mit allen neun Bundesländern gegeben habe. 

Eine einzelne Stimme unter den Bundesländern könnte den Weg frei machen für [das Renaturierungsgesetz].

Peter Kraus (Grüne)

Presseaussendung, 6. Mai 2024

Fakt

Die Grünen haben sich gegen Schieders Aussage prompt gewehrt, allen voran der Chef der Wiener Grünen, Peter Kraus. In einer Aussendung weist er den Vorwurf der Blockadehaltung an die SPÖ zurück: „Während Schieder und seine Fraktion im EU-Parlament für das Renaturierungsgesetz stimmen, ziehen Ludwig, Kaiser und Doskozil von ihren Sesseln aus die Mauer hoch.“ Die Wiener Grünen appellieren nun an Bürgermeister Ludwig, den Weg frei zu machen für das Renaturierungsgesetz – laut Kraus könnte bereits eine einzelne Stimme unter den Landeshauptleuten dafür sorgen. 

Tatsächlich könnte der Widerspruch eines einzelnen Bundeslandes dafür sorgen, dass Gewessler dem Renaturierungsgesetz in der aktuellen Form doch noch zustimmen dürfte. „Eine einheitliche Stellungnahme liegt vor, wenn mindestens fünf Länder ausdrücklich zustimmen und keines ausdrücklich widerspricht“, erklärt Verfassungsjurist Peter Bußjäger. Das heißt: Enthalten sich beispielsweise alle drei SPÖ-geführten Bundesländer, können die restlichen sechs immer noch eine gültige einheitliche Stellungnahme abgeben. Allerdings hat jedes Bundesland quasi ein Veto-Recht: Sollte sich Wien beispielsweise nicht nur enthalten, sondern der einheitlichen Stellungnahme aktiv widersprechen – das heißt in diesem Fall, das Renaturierungsgesetz aktiv zu befürworten – dann wäre der Weg für Gewesslers Zustimmung frei. Freilich ist es ein politischer Kniff der Grünen, die Verantwortung diesbezüglich alleine den SPÖ-geführten Bundesländern zuzuschanzen – immerhin könnte auch ein ÖVP-Bundesland unerwartet umschwenken – die Aussage von Peter Kraus ist jedoch richtig. 

Bloß: Kann eine einheitliche Stellungnahme wirklich so einfach abgeändert werden? Kraus meint dazu auf profil-Anfrage: „Die Landeshauptleute sind da an keine Fristen, Formalismen oder Ähnliches gebunden, sie können jederzeit ihre Stellungnahme überdenken.“ Der Wiener Klimastadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) argumentiert gegenüber der APA jedoch mit der ungeklärten „Frage der formalen Erfordernisse der Abänderung eines derartigen Beschlusses“. Welche Frage genau ungeklärt ist, konnte das Büro des Stadtrates Czernohorsky allerdings auch auf mehrmalige profil-Nachfrage nicht beantworten. 

Der Verfassungsjurist Peter Bußjäger bestätigt, dass der Beschluss abgeändert werden kann: „Die Länder können dem Bund jederzeit eine neue Stellungnahme präsentieren, die die alte ersetzt. Sie dürfen den Bund jedenfalls nie im Zweifel darüber lassen, was sie wirklich ablehnen.“ Selbst wenn die anderen Bundesländer nicht auf einen Vorschlag Wiens eingehen würden, „müsste man dann wohl sagen, dass keine einheitliche Länderstellungnahme mehr vorliegt, weil ein Land dezidiert dagegen ist“, so Bußjäger.

In einem sind sich SPÖ und Grüne dann doch einig: „Die Wahrheit ist ja, dass die ÖVP das ganze Gesetz nicht will“, sagt Andreas Schieder in der Pressestunde. Das dürften die Grünen ähnlich sehen, auch wenn Sie es zwischen den Zeilen kommunizieren: „Innerhalb der Bundesregierung sind wir Grüne und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler treibende Kraft für die Renaturierung“, schreibt die Generalsekretärin der Grünen, Olga Voglauer, auf Twitter. 

Julian Kern

Julian Kern

ist seit März 2024 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. War zuvor im Wirtschaftsressort der „Wiener Zeitung“.

Lena Leibetseder

Lena Leibetseder

ist seit 2020 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. Schreibt über Popkultur und Politik.