Gesellschaft

Au Backe

Das Charaktergesicht ist am Ende, die runden Wangen müssen weg. Das „Buccal Fat Removal“ greift um sich, der Heroin-Chic ist zurück. Das ist ein Skandal. Eine Ehrenrettung der Pausbacke.
Eva  Sager

Von Eva Sager

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Von Eva Sager

Jetzt nimmt man uns also auch noch die Backen. Gut, in unseren Gesichtern ist ja auch kaum noch etwas anderes übrig. Die Nasen sind alle schon gerade, die Lippen größer, die Stirnen glatter, die Augenbrauen gestraffter. Am Ende war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Pausbacken drankommen. Eine echte Chance hatten sie wohl von Anfang an nicht. Aber der Reihe nach.

Ins Berghain mit Chemielabor

Die Wurzel allen Übels, man hätte es ahnen können, liegt in den USA.

Genauer: bei den in Hollywood und Umgebung ausgeheckten Schönheitsidealen, die verlässlich alle 30 Jahre in den gleichen Horror münden, Stichwort: „Heroin-Chic“. Nun ist es also wieder modern, so auszusehen, als hätte man sich im Berliner Techno-Club Berghain gerade drei Tage lang ein halbes Chemielabor in die Birne gedonnert. Man ist wieder blass, fertig und außerordentlich dünn. Und weil das Jahrzehnt der Body-Positivity vorbei ist, man sich von Kurven, großen Pos und Diversität wieder verabschiedet, muss auch die Pausbacke um ihre Existenz fürchten. Das „Buccal Fat Removal“, die Wangenfettentfernung, greift um sich. Dabei wird der Fettpolster, der normalerweise zwischen Wangen- und Kieferknochen sitzt, beseitigt. Die Wangen wirken dadurch schlanker, die Backenknochen ausgeprägter, am Ende steht der „High-Fashion-Look“. So nennt man ein

Gesicht mit eingefallenen Wangen und hervorstechenden Backenknochen, also eines ohne ärgerliches Fettgewebe. Model Chrissy Teigen hat den Eingriff schon hinter sich. Und auch bei den Schauspielerinnen Zoë Kravitz, Sophie Turner und Lea Michele sind die Wangen jüngst deutlich schmaler geworden.

Die Pausbacke ist aus der Zeit gefallen. Ein zeitgenössischer Kasperl-Seppel hätte heute wohl keine runden, roten Wangen mehr, sondern skulpturierte Backenknochen, beziehungsweise „Model Cheekbones“. Auf der Videoplattform TikTok wurde allein dieser Begriff schon über 310 Millionen Mal aufgerufen. Unter dem Stichwort geben sich junge Menschen Tipps, wie man die eigenen Wangenknochen mit Make-up akzentuieren könnte. Die Operation an sich, also das eigentliche „Buccal Fat Removal“, wurde auch schon über 100 Millionen Mal geklickt.

Und hat man einmal sein Interesse bekundet, sorgt der Algorithmus verlässlich für Nachschub. Der Schlankheitswahn im Jahr 2023 verfügt über eine Reichweite, die er beim letzten Mal, Ende der 1990er-Jahre,also lange vor Instagram und TikTok, noch nicht hatte. Natürlich war es naiv, zu glauben, dass er komplett und für immer verschwunden wäre. „Diversity Washing“, also das Phänomen, dass sich Unternehmen in ihrer Werbung und im öffentlichen Auftreten diverser und moralischer geben, als sie es wirklich sind, ist überall. Auch wenn Modelabels betont unterschiedlich geformte Körper über die Laufstege schickten, war der Maßstab am Ende immer noch das weiße, dünne Model aus den Katalogen. Und das hat eben nun keine Pausbacken mehr.

Aus der Zeit gefallen

Pausbacken-Trägerin Maria Christina von Österreich (1547-1624)

Gesichts-Uniform

Das ist ein Skandal. Pausbacken sind nicht nur herzlich, sondern auch ehrlich. Sie werden rot, wenn man sich schämt, wenn man lügt oder sich freut. Kinder haben Pausbacken. Und Omas. Eine Pausbacke ist nicht nur Wangenfett, sie ist eine tragende Säule. Wenn sie verschwindet, dann fehlt zum Schluss auch der Charakter im Gesicht. Dann sehen alle gleich aus, uniform in ihrer Gesichtsform. Überall nur mehr gleichgeschaltete Wangen, ohne jede Überraschung, ohne die Herzlichkeit, die entsteht, wenn sich runde Backen beim Lachen in die Höhe schieben und dabei zwei Falten ins Gesicht meißeln. Dann ist nichts mehr da, das rot werden könnte. Keine pausbäckigen Oma-Gesichter, die einem heimlich 50 Euro zustecken. Nur mehr hohle Mondwangen in den Kinderbüchern. Das wäre nicht nur langweilig, sondern auch unmenschlich. Das Charaktergesicht darf nicht verschwinden, die runden Pausbacken müssen bleiben. Alles andere würde bedeuten, wir hätten aufgegeben.

Eva  Sager

Eva Sager

seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Gesellschaft und Gegenwart.