Der steirische Zuhälter, Kleinbetrüger und Drogendealer Unterweger hatte es damals schon mit weißem Anzug, Schäferhund Joy, Ford Mustang und narzisstischen Selbstinszenierungen zum Schauer-Promi der Wiener Society gebracht. 1974 war er wegen des Mordes an der 18-jährigen Deutschen Margret Schäfer, die er in einer Waldlichtung mit einer Stahlrute malträtiert hatte, um sie später, schwer verletzt und gefesselt, zu erwürgen, zu lebenslanger Haft in Stein verurteilt worden. Ende der 1980er-Jahre mutierte der (angeblich) aus dramatisch elenden Verhältnissen stammende „Jack“ jedoch zum Darling der linken Kulturschickeria. Sein in Stein verfasster autobiografischer, pathetisch-selbstmitleidiger Roman „Fegefeuer“ (von dem bis heute unklar ist, ob er ihn auch wirklich selbst geschrieben hat) und die Prosa-Arbeit „Tobendes Ich“ hatten Freilassungspetitionen von prominenten Künstlern wie Elfriede Jelinek, Erika Pluhar und Erich Fried zur Folge.
Tatsächlich kam Unterweger im Zuge der damaligen Justizliberalisierung nach insgesamt 16 Jahren Haft (zwei davon in U-Haft) frei – als Paradebeispiel für eine geglückte Resozialisierung. Nur: In seiner Freiheit wurden bis zu seiner erneuten Festnahme 1992 insgesamt elf Prostituierte auf ähnliche Weise wie sein erstes Opfer (mit Handschellen gefesselt und mit einem speziellen Knoten stranguliert) in Österreich, Prag und in den USA ermordet; stets an Orten, in deren unmittelbarer Nähe sich Unterweger zur gleichen Zeit wegen Lesungen, Theateraufführungen oder in seiner Rolle als Pseudo-Journalist (bevorzugtes Thema: das Rotlicht-Milieu) in Los Angeles aufgehalten hat. Unterweger stand erneut unter dringendem Tatverdacht, mehrere Sexarbeiterinnen in Vorarlberg, Wien und Graz getötet zu haben, flüchtete aber im Februar 1992 in die Schweiz, wo Bianca Mrak gerade als Kellnerin jobbte: „Er kam in einem VW Passat und fuchtelte mit einer Pistole herum. Ich wusste bis damals nicht, was ihm vorgeworfen wurde und dass er unter zigfachem Mordverdacht stand. Er beteuerte seine Unschuld, ich glaubte ihm und bat ihn gerade deswegen, sich zu stellen. Keine Chance. Aber ich hatte auch nicht die Kraft, allein zurückzubleiben. Wir fuhren also planlos durch Frankreich. Am Flughafen in Orly bei Paris bestiegen wir den Flieger nach Miami, was purer Zufall war. Wir nahmen einfach den nächstbesten Flug. Vorher räumte er noch die Reserven auf seiner Kreditkarte leer. Ich hatte noch ein bisschen Bargeld von meinem Job in der Schweiz.“
Die Einreise in die USA lief unbehelligt: „Wir mieteten uns eine Wohnung um 300 Dollar Monatsmiete. Mich schickte er strippen, was ich unglaublich hasste. Ich musste diesen furchtbaren Stangentanz machen, von dem ich überhaupt keine Ahnung hatte. Aber von irgendwoher musste das Geld ja kommen.“ Unterdessen sei er in der Wohnung gesessen, glaubte, dass er in Hollywood als Autor durchstarten könne, und telefonierte „auf meine Kosten mit all seinen zurückgelassenen Frauen, um News über die Fahndung zu kriegen.“ Mrak erzählt weiter: „Dass er mich ständig betrogen hat, sollte ich bald merken, denn ich wurde krank. Nichts Bleibendes, aber sehr unangenehm. Die Stimmung kippte zwischen uns. Angst hatte ich eigentlich nie vor ihm, es gab jedoch zwei Vorfälle von Gewalt, da verpasste er mir jeweils eine Ohrfeige. Einmal eine aus Eifersucht, als ich mit meinem Vater telefonierte. In Miami warf er mir auch eine Cola-Flasche in die Dusche nach.“
Nach wenigen Wochen im Bonnie-&-Clyde-Modus klickten im Februar 1992 die Handschellen: „Er wartete auf Geld aus Wien und schickte mich in so eine Mischung aus Café, Poststation und Wechselstube. Auf der Terrasse der Location saßen auffällig viele Männer hinter Zeitungen versteckt. Als ich kam und nach der Sendung fragte, setzte sich die gesamte Terrasse in Bewegung. Wenig später hatten sie uns beide. Dann klickten bei Jack und mir die Handschellen. Mich mussten sie jedoch schnell wieder freilassen, gegen mich lag nichts vor. Ich flog allein nach Wien zurück, Jack wurde später nach Graz überstellt.“ Die Liebesgeschichte sollte insgesamt nur drei Monate dauern und nahm ein unrühmliches Ende. Unterweger traktierte seine Geliebte aus der Haft mit ständigen Kontrollanrufen und Unschuldsbeteuerungen, die teilweise im Original in der Dokumentation zu hören sind. Ihre Wut gegen ihn hat sie eigentlich „gerettet“ – „aus den Fängen dieser Spinne, die immer darauf lauerte, wer ihr ins Netz gehen könnte“. Mrak erinnert sich an einen Knackpunkt: „Zwei Briefe, die Jack aus der Haft an mich und seine andere Geliebte Astrid Wagner (heute Rechtsanwältin in Wien, Anm.) schrieb, von der ich natürlich keine Ahnung hatte, wurden vertauscht. Ich hatte den Richter in Verdacht, dass ihm diese Verwechslung mit Absicht passiert ist – auch um mir die Augen zu öffnen. Ich habe den zuständigen Beamten Jahre später getroffen, da hat er mir das auch gestanden. Heute kann ich es erzählen, denn es gibt ihn leider nicht mehr.“
Bis dahin hatte die langjährige Lokaljournalistin, die kürzlich eine Tischlerlehre absolviert hat, an Unterwegers Unschuld geglaubt: „Heute bin ich überzeugt, dass alles an ihm durchgehend fake war. Im Rückblick erscheint er mir extrem unauthentisch. Als ich während seiner Haft in Graz in die Wohnung im Achten gegangen bin, habe ich genau dokumentiert gesehen, wie er alle seine Frauen nach Strich und Faden ausgenutzt hat. Eine um einiges ältere Unternehmerin, die noch heute lebt, hat beispielsweise sehr lange die Miete für ihn bezahlt. Unglaublich, wie viele auf ihn reingefallen sind.“ Auch Bianca ließ sich lange von ihrem „hoch manipulativen“ Lover benutzen: „Natürlich wollte er mich auch auf den Strich schicken, aber dagegen habe ich mich gewehrt. Er wollte mich an ein Escort-Service verchecken. Während ich mich bei einem Typen vorstellte, der mich dann fragte, ob ich auch lieb zu den Kunden sein werde, schmiss er in der Reiss-Bar Champagnerrunden. Als ich zurückkam, um ihm mitzuteilen, dass ich diesen Scheißjob auf keinen Fall machen werde, stand er umringt von Frauen an der Theke.“
Margit Haas, eine Journalistin und Freundin von Mrak, die in „Vienna Killing“ ebenfalls ausführlich zu Wort kommt, erinnerte sich in einem profil-Gespräch an die Faszination, die Unterweger auf Frauen ausübte: „Es war direkt unheimlich, wie die Frauen auf ihn abfuhren. Schon bei unserer ersten Begegnung in einer Bar konnte ich beobachten, wie Jack innerhalb weniger Minuten mehrere Telefonnummern zugesteckt bekam. Besonders die Damen aus der besseren Gesellschaft wollten alle gern aus ihren faden Ehen ausbrechen und mit einem echten Mörder ins Bett gehen.“ In seinen 673 Tagen in Freiheit hatte Unterweger, wie er seinem Gutachter Reinhard Haller erzählte, mit 151 Frauen geschlafen. In seinem Trophäenverzeichnis liest sich das folgendermaßen, wie Astrid Wagner in einem früheren profil-Interview erzählte: „Geiles Bumsen mit U, zärtlicher Sex mit E, wild, geil, keine Lust mit der Sopransängerin, es geht zu Ende.“ Bianca Mrak brauchte lange, bis sie nach dieser Geschichte, die schon ein Jahr vor Unterwegers Selbstmord in der Zelle im Juni 1994 zu Ende gegangen war, wieder beziehungsfähig wurde. Inzwischen ist sie seit sieben Jahren und erstmals in ihrem Leben wirklich glücklich: „Ich denke nicht mehr an Jack. Es wäre schwer, sich eingestehen zu müssen, dass man wahrscheinlich mit einem Serienmörder zusammen war.“ Unterweger wurde (nicht rechtskräftig) wegen des Mordes an neun Frauen verurteilt, zwei zusätzliche Opfer konnten ihm nicht zugeschrieben werden, weil die Körper bereits zu verwest waren.
Die dreiteilige ORF-Doku „Vienna Killing“, auf ORF ON zu streamen, ist das bemerkenswerte Debüt der deutschen Filmemacherin und Regisseurin Kirsten Brandt. Sowohl ästhetisch als auch mit ihrem Erzählmodus hebt sich die Produktion wohltuend vom üblichen True-Crime-Einheitsbrei ab. Rund 200 Stunden Material sammelte Brandt, teils aus dem „unschätzbar wertvollen“ ORF-Archiv, teils aus akribisch geführten Interviews mit dem Unterweger-Jäger und Chefermittler Ernst Geiger, einem FBI-Profiler, aber vor allem den Frauen, die maßgebliche Rollen in der Vita von Österreichs einzigem dokumentierten Serienkiller spielten: allen voran Bianca Mrak, Margit Haas, die Journalistin, die den Society-Hype um Unterweger hautnah miterlebte, Astrid Wagner, die sich als junge Juristin in den „Bad Boy“ hinter Gittern verliebte, und Frances Schoenberger, jene Grande Dame der Hollywood-Publizistik, die vermittelnd zwischen Bianca und dem bereits in Miami einsitzenden Unterweger einschritt, deren Telefongespräche organisierte und auch mitschnitt.
Einige davon sind in der Doku, meist in weinerlichem Ton, zu hören. Brandt analysiert Unterweger nach mehreren Jahren in seiner Welt als „emotionalen Parasiten“: „Ich habe mir richtig vorgestellt, wie er sich in den Herzen der Menschen einnistet.“ Lange brauchte sie, um die Telefongespräche, die sie stundenlang abhören musste, aus ihrem System zu schütteln: „Die meiste Zeit versucht er dabei, Bianca und Frances davon zu überzeugen, dass er nicht der Täter ist und die österreichische und amerikanische Polizei sich zusammengetan haben, um ihn als Sündenbock für Morde herhalten zu lassen, die er nicht begangen hat. Den Rest der Zeit spielt er seine Klaviatur der Kontrolltiraden und Liebesschwüre gegenüber Bianca rauf und runter. Mit wem trifft sie sich, wann, wo, wie lang, und warum war sie schon wieder nicht daheim, um auf seinen Anruf zu warten. Man hört förmlich seine Angst durch den Hörer, dass er langsam seine Macht über Bianca verliert und versucht, sie weiter in seinen Klauen festzuhalten. Bianca ist in der Zeit Unterwegers Pressesprecherin, Managerin, Assistentin, sie rennt den ganzen Tag durch die Gegend, um seine Aufträge aus Miami auszuführen, sammelt und berichtet ihm alles, was über ihn gesagt und geschrieben wird – während sie auf der Straße als Unterweger-Flittchen beschimpft und sogar einmal angespuckt wird.“