Champions League Finale: Ich durfte meinen Traum leben

Marcel Reif über das Champions League Finale: Ich durfte meinen Traum leben

Champions League Finale: Ich durfte meinen Traum leben

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Im Vorfeld des Champions-League-Finales am 28. Mai in San Siro, bei dem ich zum letzten Mal als Sky-Kommentator im Einsatz sein darf, werde ich nicht selten gefragt, ob es im Laufe meiner vielen Übertragungen ein Spiel gegeben habe, das in meiner persönlichen Werteskala ganz oben angesiedelt sei.

Es gibt kein Ranking. Ich habe großartige und fürchterlich schlechte Matches gesehen, aber jedes Spiel hat seine eigene Geschichte, seine Helden, Verlierer und Dramen - obwohl ich bei diesem Wort im Fußball vorsichtig bin. Ich habe immer gesagt, das allerbeste Spiel wird noch kommen. Das hält einen auch nach mehr als 20 kommentierten Endspielen in der Königsklasse noch hellwach.

"Torfall von Madrid"

Natürlich werde ich noch oft auf den "Torfall von Madrid" im Jahr 1998 angesprochen, als in Bernabeu vor dem Anpfiff von Real gegen Dortmund ein Zaun eingeknickt war und das daran befestigte Tor umgerissen hatte. 76 Minuten dauerte der Austausch, den ich gemeinsam mit Günther Jauch live überbrücken musste. Was wir damals von uns gaben, war der Situation geschuldet und nichts, wofür ich mich schämen müsste. Dafür gab es keine Gebrauchsanweisung und nichts, worauf ich mich vorbereiten konnte. Gelungen ist es letztlich auch deshalb, weil da zwei eng befreundete Menschen waren, die sich gegenseitig hochgeschaukelt haben.

Manchmal wähnte ich mich bei der ewigen Suche nach dem besten Spiel aller Zeiten schon fälschlicherweise am Ziel angelangt. 2011 spielte Barcelona in Wembley Manchester United an die Wand, und ich dachte: Besser geht's nicht. Im Vorjahr war ich Augenzeuge von Bayern München gegen Wolfsburg, als der eingewechselte Lewandowski den Werksklub wie im Rausch mit fünf Toren binnen neun Minuten erledigte.

Zirkusclowns gegen Bauarbeiter

Nein, es gibt nicht das eine Spiel, und ich freue mich vor dem aktuellen Showdown der Zirkusclowns von Real Madrid gegen die Bauarbeiter von Atlético besonders auf Mailand. San Siro ist die Oper des Fußballs, eine Bühne wie geschaffen für Helden und Bösewichte. 1990 durfte ich eine großartige WM wie in Trance erleben, sah Diego Maradonas Weltmeister gegen Kamerun kläglich ausrutschen. Momente, die ich gespeichert habe und die mich nachdenken lassen, was für einen Traumberuf ich doch habe.

Stürmerstar Gareth Bale von Real Madrid

Eine Anekdote möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Das Finale 1999 zwischen Bayern und Manchester United war gleichzeitig mein letzter Auftritt für RTL, das die Rechte an der Champions League verloren hatte. Jauch und ich trugen weiße Anzüge - die chinesische Trauerfarbe, weil wir praktisch arbeitslos dastanden. Zu Gast war der damalige Bayern-Präsident Franz Beckenbauer, der sich zwei Minuten vor Abpfiff beim Stande von 1:0 für die Bayern zur Ehrentribüne aufmachte, um von UEFA-Boss Lennart Johansson die Siegermedaille entgegenzunehmen. Als er dort eintraf, wunderte sich der Kaiser, dass er von Johansson völlig ignoriert wurde und dieser herzlichst Alex Ferguson umarmte. Dann blickte Franz auf die Anzeigentafel, und sein Gewinnerlächeln fror ihm buchstäblich ein. Dramen wie dieses gibt's in jedem Spiel -aber im Sinne des Theaters, wo oft der Held fällt und der Schurke gefeiert wird.

Klassenkampf im San Siro

Was erwartet uns am Samstag in San Siro? Ein Klassenkampf zweier Mannschaften, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite die Spektakel-Truppe von Real, die an einem guten Tag zaubern kann, als gäbe es kein Morgen. Mit Bale, Benzema und Ronaldo vorne, die sich um nichts kümmern, außer selbst zu glänzen. Dem Rest des weißen Balletts bleibt nur, für sie zu tanzen. Auf der anderen Seite ein perfekt geöltes Kollektiv, das den Ball gar nicht haben möchte, sondern nur auf die eine Gelegenheit lauert. Gute Spieler mit einem herausragenden Antoine Griezmann, aber keine, die ich unbedingt haben muss.

Die Königlichen aus dem Norden Madrids gegen die Schmuddelkinder aus der Unterstadt, Arm gegen Reich, David gegen Goliath. Real will mit seiner angeborenen Arroganz die gottgewollte Ordnung wieder herstellen, und Atlético ist auf dem Weg zum 11. Triumph nur ein lästiger Sparringpartner -und nicht einmal satisfaktionsfähig, wie die eisige Stimmung bei den Madrider Stadtderbys demonstriert. Niederlagen sind in den Vereinssatzungen von Real nicht vorgesehen, und sollte es doch schiefgehen, hat Zidane das Problem, nach LaLiga auch das zweite Finale verloren zu haben.

Meine Familie kommt mit nach Mailand und will meinen Abschied dort zelebrieren. Ich gehe ohne Groll, liebevoll und mit großer Dankbarkeit, dass ich meinen Traum leben durfte. Und ob auch feuchte Augen mit im Spiel sein werden, lasse ich auf mich zukommen.

Marcel Reif ist Grimme-Preisträger und kommentierte 17 Jahre lang die Topspiele der Deutschen Bundesliga und der UEFA Champions League live auf Sky.