"Cyberpunk 2077": Ist die Zukunft schon da?

Spielwiese #6: Aus Mensch wird Maschine - wie spielt sich das Hype-Game "Cyberpunk 2077"? Und wie nahe ist unsere Realität schon der Dystopie im Spiel?

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Als eines der meisterwarteten Spiele der letzten Jahre – der offizielle Entwicklungsstart war 2012 - pünktlich vor Weihnachten 2020 erschien, war die Vorfreude groß. „Cyberpunk 2077“ als Dystopie in Zeiten der Dystopie zu erkunden, ist verlockend, allerdings wurde der große kommerzielle Erfolg gleich zu Beginn durch massive Fehlfunktionen im Spiel getrübt, die Missstände in der Spielentwicklung offenlegten. Von zahlreichen Bugs bei der Veröffentlichung des Spiels - trotz monatelanger „Crunch Times“ der Entwickler, mit 13 Stunden dauernden Arbeitstagen -, überzogenen Erwartungen des Managements samt Verstimmung der Investoren auf Grund negativer Presse, enttäuschten SpielerInnen bis hin zur Verbannung von „Cyberpunk 2077“ aus dem PlayStation-Store, reichte die Eskalationsspirale. Mittlerweile hat sich der Mitgründer der Produktionsfirma CD Project Red, Marcin Iwińsky, bei den Fans entschuldigt, schließlich steht der gute Ruf des Entwicklers der „Witcher“-Serie auf dem Spiel, zudem sind drei Updates für die PC-Version erschienen, die kommenden Wochen sind für weitere Patches, kostenfreie Zusatzinhalte und die Optimierung für die älteren Konsolen reserviert. Erst zu Weihnachten 2021 sollen die Versionen für die PS5 sowie die Xbox X folgen.

Doch wie spielt sich das Hype-Game? Bei „Cyberpunk 2077“ handelt es sich um einen visuell und erzählerisch überzeugenden Shooter mit Rollenspielelementen. Von sehr plastischen NPCs (computergesteuerten Spielcharakteren) wie etwa Johnny Silverhand (gespielt von Keanu Reeves) und der tiefgründigen Panam, der grellen neonbeleuchteten Ästhetik von Night City, den heruntergekommenen Satellite Towns in der Peripherie, bis zu optional verfügbaren love interests: das Spielerlebnis ist hochgradig immersiv und die Suchtspirale rund um die zentralen Spielmechaniken in Form der Erfüllung von Quests, der Verbesserung der eigenen Fähigkeiten und dem Sammeln von Gegenständen und kybernetischen Upgrades dreht sich beständig und weiß dauerhaft zu motivieren. Die Wahlfreiheit in Lösungsstrategien von Konfliktsituationen (Hacken, Schleichen, Kämpfen) entspricht dem Genre-Standard, die eigenen Entscheidungen haben nachhaltigen Einfluss auf den Spielverlauf, der ihn mehrere unterschiedliche Enden der Story mündet. Einzig die Spielwelt wirkt stellenweise etwas leer, neuer Content ist jedoch bereits angekündigt. Die PC-Version lief bei mittelguten Grafik-Einstellungen selbst auf einem vier Jahre alten Spielelaptop flüssig und frei von groben Bugs.

Die Welt in „Cyberpunk 2077“ fußt auf dem Futurismus der 1980er-Jahre, einer Zeit, in der der Aufstieg von Heimcomputern und die rasante technologische Innovation auf eine zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit stießen. William Gibson, der Autor des Buchs „Neuromancer“, das als das Pionierwerk der Science-Fiction-Gattung Cyberpunk gilt und aus dem das Cyberpunk-Tabletop-Spiel Begriffe und Konzepte frei übernommen hat, sagte in einem Interview im Jahr 1990, dass wichtige Aspekte der Cyberpunk-Zukunft bereits eingetroffen wären. Gibson verweist darauf, wie die Ungleichheit des Reichtums den Zugang zu Behandlungen, die über Leben und Tod entscheiden, wie z. B. Organtransplantationen, bestimmt. Die im Spiel imaginierte technologische Zukunft der Medizin – Versorgung gibt es nur gegen teure Abos – hielt er bereits vor 30 Jahren für alltäglich, und meinte damit die fehlende staatliche Gesundheitsvorsorge in den USA. "Die Zukunft hat bereits stattgefunden", sagte Gibson damals. Wir leben heute in jener Zukunft, die sich die Schöpfer des Cyberpunks damals in Büchern, Filmen und Spielen vorgestellt haben.

Night City, der zentrale Dreh- und Angelpunkt im Spiel, repräsentiert trotz fremdartiger Architektur eine Zukunft, die sehr nahe an den großen technologischen Umbrüchen unserer Jetztzeit ist. Virtual Reality ist integraler Bestandteil von Cyberpunk, hat aber auch in unserer Gegenwart eine Marktnische erobert, wie die massentaugliche VR Brille Oculus Quest 2 von Facebook zeigt – nicht nur auf Grund der sehr guten Bedienbarkeit, sondern auch wegen des dahinterstehenden Werbemodells. Künstliche Intelligenz ist im Spiel wie auch in der Realität allgegenwärtig, wie künstlich optimierte Kamera-Apps, selbstfahrende Autos und digitale Agents im Service-Sektor zeigen. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine ist eines der zentralen Themen des Cyberpunk Genres. Auch Brain-Computer-Interfaces sind heute keine Zukunftsmusik mehr. Tesla-Gründer Elon Musk gründete 2016 das Start-up Neuralink, um Implantate zu erfinden, die menschliche Gehirne mit Computern verbinden. Damit könnten verschiedene Formen von Störungen des Gehirns oder der Wirbelsäule verstanden und behandelt werden. Zum Beispiel könnten gelähmte Menschen das implantierte Gerät benutzen, um Gadgets zu steuern. Musk stellt sich das Implantat jedoch auch als Mittel zur Verbesserung des eigenen Gehirns vor, das dem Menschen die Möglichkeit gibt, eine Symbiose mit künstlicher Intelligenz zu erreichen. Es trennt uns also nicht mehr viel von der technophilen Welt von „Cyberpunk 2077“.

 

Thomas Wernbacher ist Medienpsychologe und arbeitet als Senior Scientist am Zentrum für Angewandte Spieleforschung an der Donau-Universität Krems. Er ist Gründer der Picapipe GmbH und unterrichtet an der TU Wien. In seinen Arbeiten erforscht er den Einsatz sowie die Auswirkungen von spielerischen Ansätzen im Kontext von Mobilität, Bildung sowie von Gesundheit. Seine Expertise umfasst u. a. verhaltenstheoretische Konzepte in Form von Gamification und Nudging mit einem besonderen Fokus auf Incentivierungsmodellen. Der aktuelle Schwerpunkt seiner Forschungstätigkeit liegt auf der Kommunikation und Vermittlung nachhaltiger Entwicklungsziele im Kontext von Stadtentwicklung und Klimawandel.