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Hanau-Film: Herr Doktor Boll, wieso haben Sie das gemacht?

Der deutsche Filmemacher Uwe Boll („schlechtester Regisseur der Welt“) hat gegen den Willen der Angehörigen einen Film über den rechtsterroristischen Anschlag im hessischen Hanau gedreht.

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Am Abend des 19. Februar 2020 ermordete der 43-jährige arbeitslose Bankkaufmann Tobias Rathjen im hessischen Hanau Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Die Tat war rassistisch motiviert und ging schnell vonstatten. Gegen 21.50 Uhr näherte sich Rathjen einer Bar, die hauptsächlich von Menschen mit Migrationshintergrund besucht wird; zwölf Minuten später waren an zwei Tatorten neun Menschen tot. Danach fuhr er nach Hause, erschoss seine bettlägerige Mutter – und anschließend sich selbst. Der Anschlag  war intensiv geplant, Rathjen hatte in einem Schützenverein trainiert und besaß legal drei Schusswaffen, obwohl er mehrfach in Konflikt mit dem Gesetz geraten war. 

In einem vor der Tat veröffentlichten Pamphlet erläuterte Rathjen sein Weltbild, eine Ansammlung von Verschwörungstheorien, Misogynie, Verfolgungswahn und Rassismus. Hanau erschütterte Deutschland. „Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift, und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft. Und es ist schuld an schon viel zu vielen Verbrechen“, sagte Angela Merkel am Tag nach dem Anschlag. „Die Opfer waren keine Fremden. Hessen und Hanau waren ihre Heimat geworden“, sagte Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier bei einer Trauerfeier. Die Namen der Ermordeten sind ein Symbol gegen xenophoben Hass geworden. 

Und dann kam Uwe Boll. Kaum ein Bericht über den in Mainz lebenden Filmemacher kommt ohne das Label „schlechtester Regisseur der Welt“ aus. 

Daran ist er selbst nicht ganz unschuldig. Just zum zweiten Jahrestag des Anschlags von Hanau veröffentlichte der 56-Jährige nun einen Film über die Ereignisse und wirft damit einige Fragen auf. Die dringendsten: Wo ist die Grenze zwischen Aufklärung, Kunst und Verharmlosung? Und was ist das eigentlich: Kunst? Reicht es, sie nur zu behaupten?

Bekannt (und berüchtigt) wurde der Regisseur und Produzent für seine Verfilmungen populärer Videospiele, durchgehend handlungsarme Gewaltorgien, zynische Exzesse ohne Substanz, die Boll, der sich nach eigenem Bekunden „einen Scheißdreck für Videospiele“ interessiert, nur herstellte, weil sich damit Geld verdienen ließ. Mit schwankender Qualität und stets großer Brutalität wagt er sich auch an reale Ereignisse, das Littleton-Schulmassaker in „Heart of America“ (2003) etwa oder auch den Massenmord an den europäischen Juden in „Auschwitz“ (2011). Als die Pläne zu „Hanau“ im März 2021 publik wurden, war die Empörung – wenig überraschend – groß. 

In einem offenen Brief wandten sich der Bürgermeister von Hanau und die Angehörigen der Opfer an Boll. „Wir alle – die Familien der Opfer, der Magistrat sowie die Stadtverordnetenvorsteherin und die Fraktionen – fordern Sie mit Nachdruck auf, die Vorbereitungen sofort einzustellen und auf die Dreharbeiten zur Realisierung dieses Films zu verzichten.“ Boll hat versucht, Kontakt zu Angehörigen aufzunehmen. Mit ihm sprechen – oder gar Teil seines Films werden – wollte aber niemand. Boll sagt: „Ich wollte einen Film über den Täter machen, deswegen war mir das dann nicht so wichtig.“ 

Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov spielen in „Hanau“ keine Rolle. „Es ist kein Film, der die Opfer in irgendeiner Form würdigt. Es ist auch kein Film, der die Opfer herabwürdigt, es ist einfach ein Film, der die Opfer als Opfer darstellt“, erzählt Boll im Gespräch mit profil. 

Was er – laut der Einschätzung seiner Mitbürgerinnen und  Mitbürger – darf oder soll und was nicht, das hat Uwe Boll noch nie interessiert; eine latent asoziale Haltung zieht sich durch sein Leben und Werk. 

Gegen Ende der 1980er-Jahre arbeitet er als Sportchef bei Radio Leverkusen. Als ihn der neue Chefredakteur rausschmeißt, zersticht er dessen Autoreifen und terrorisiert ihn wochenlang mit nächtlichen Anrufen. Er will ihm Angst machen. Bevor die Polizei seine Anrufe zurückverfolgen kann, hört er wieder auf. „Da war ich noch jünger und radikaler“, sagt Boll lachend. Radikal ist er freilich immer noch, impulsiv und auf eine sehr eigenwillige Art auch immer ehrlich. Zu oft sagt er zu schnell genau, was er sich denkt, und verschont dabei nichts und niemanden. Darunter leidet wahrscheinlich am allermeisten er selbst.  

„Ich habe als Kind ganze Tage im Kino verbracht“, berichtet Boll. Bereits als Zehnjähriger beschließt er, Regisseur zu werden. Abgelehnt von den Filmhochschulen in Berlin, München und Wien studiert er in Köln Literaturwissenschaft, mit einer Doktorarbeit zur „Gattung Serie und ihre Genres“ wird er 1994 promoviert.

„Ich war denen in Wien zu genrespezifisch und nicht künstlerisch genug“, meint er. Parallel zum Studium entsteht 1991 in Eigenproduktion sein Debüt: „German Fried Movie“, aus wirtschaftlichen Gründen ein Episodenfilm: „Das ist clever, wenn man kein Geld hat, weil man die Schauspieler nicht so lange braucht.“ Erfolgreich ist er nicht. In der Internet Movie Database (IMDb) kommt der Film auf 1,5 von 10 Sternen. Mit den darauffolgenden Filmen „Barschel – Mord in Genf“ (1992) und „Amoklauf“ (1993) legt Boll den thematischen Grundstein für seine Karriere: Gewalt, Gier und Mord, die „Treiber der Weltgeschichte“. 

In der deutschen Filmbranche bleibt er ein Außenseiter. „Hier hat man keine Chance auf Förderungen, nur weil man gute Ideen hat“, meint Boll – und produziert seine Filme fortan in Kanada und den USA, wo man mit Gewalt noch Geld verdienen kann. Ben Kingsley, Jason Statham, J. K. Simmons oder Burt Reynolds – indem er kurzfristig anfragt und nicht wählerisch ist, kann Boll dort sogar prominente Darsteller für sich gewinnen. „Ben Kingsley hat für zwei Wochen eine Million bekommen, das ist dem halt 
lieber, als zu Hause rumzusitzen.“ Künstlerisch und ökonomisch floppen seine Filme der 2000er-Jahre zwar immer noch, aber das ist für sein damaliges Geschäftsmodell unerheblich: Er finanziert seine Arbeit mit deutschen Medienfonds, international als „Stupid German Money“ belächelt. 

Tausende Anleger investieren in Boll-Fonds. Dass die dadurch finanzierten Filme an der Kinokasse scheitern, stört die Investoren nicht besonders, weil sich durch die Verluste Steuervorteile ergeben. 2005 schließt die deutsche Regierung dieses Schlupfloch, Bolls Produktionen werden wieder kleiner. Um zu sparen, dreht er oft mehrere Filme am gleichen Set, „Bloodrayne: The Third Reich“ entsteht gleichzeitig mit dessen Parodie „Blubberella“ – und im Anschluss noch spontan „Auschwitz“. Boll spielt wahlweise einen SS-Soldaten oder Adolf Hitler.  

Die Kritiker hassen Boll. Und er schlägt zurück, sogar wortwörtlich. Der frühere Amateurboxer Uwe „Raging“ Boll lud 2006 zu einem Boxkampf in Vancouver ein und knockte Journalisten aus. 

300.000 Menschen unterschrieben 2008 die von dem Videospieltester Robert Harvey eingebrachte Petition „Stop Dr. Uwe Boll“, in der dieser zum Rückzug aus dem Filmgeschäft aufgefordert wird. Unbeeindruckt machte er weiter. Seine 2017 veröffentlichte Autobiografie trägt den Titel „Ihr könnt mich mal!“. „Ich muss damit leben, dass ich starke Emotionen gegen mich erzeugt habe“, sagt er heute. 2016 hörte er dann wirklich auf und konzentrierte sich auf sein Gourmetrestaurant „Bauhaus“ in Vancouver, das klassische deutsche Küche anbot. Dafür bekam er im Gegensatz zu seinen Filmen auch durchwegs gute Kritiken. Kurz vor Corona schloss er das Lokal, zog wieder nach Deutschland. 

Ach du Scheiße, schon wieder einer, denkt er sich, als er vom Anschlag in Hanau hört, doch die Videos des Täters im Internet und dessen Manifest inspirieren ihn; er will dieses „psychotische Täterprofil“ filmisch verarbeiten. Zur Abschreckung, wie er meint. Für Boll ist Tobias Rathjen „das erste QAnon-Opfer“. 

„Im Manifest dringt durch, dass der Täter QAnon-Anhänger war, eine Verschwörungstheorie aus den USA, die auch bei uns durch die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen immer mehr ankommt“, erklärt der Politikwissenschafter Florian Hartleb. Die ersten 40 Minuten von „Hanau“ zeigen den Täter in Selbstgesprächen, von einer „reinrassigen Weltordnung“ fantasierend, im Glauben, dass er schon sein ganzes Leben überwacht werde. Diese Inhalte kommen direkt aus dem Manifest. Die Morde inszeniert Boll mit einer unerträglichen Selbstverständlichkeit, ganz ohne schnelle Schnitte oder filmische Stilmittel.

Aus einem Gutachten des forensischen Psychiaters Henning Saß geht hervor, dass Tobias Rathjen klare Anzeichen einer paranoiden Schizophrenie zeigte, „krankheitsbedingte Fantasien“ und „politisch-ideologischer“ Fanatismus seien untrennbar miteinander verwoben gewesen. „Er ist wie Franz Fuchs ein einsamer Wolf, ein rechtsextremer Einzeltäter, der zwar Teil eines ideologischen Rudels ist, aber allein handelt und persönliche Frustration mit politischer Radikalisierung vermischt“, analysiert Politikwissenschafter Hartleb.

„Natürlich schwingt die Frage mit, ob man den Täter durch zu viel Aufmerksamkeit glorifiziert“, fürchtet Hartleb. Aber: „Das Phänomen des rechtsextremen Einzeltäters, wie schon in Halle oder Christchurch, wird immer größer. Deswegen ist es auch wichtig, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen.“ Trotzdem findet der Extremismus-Experte, dass es bei Boll wohl einen größeren zeitlichen Abstand gebraucht hätte. Der Regisseur sieht das anders. „Keiner, der den Film gesehen hat, wird darin ein Vorbild sehen und sagen: Geil, ich bring jetzt alle um“, meint Boll. Als der Shitstorm „Hanau“ erreichte, sei der Film schon fast fertig gewesen, finanziert habe er ihn vollständig aus eigener Tasche, sonst hätte er sich das noch einmal überlegt. 

„Die Leute würden das feiern, wenn Haneke ‚Hanau‘ gemacht hätte“, meint er. Bolls Intention ist nicht grundsätzlich daneben. Es geht ihm, durchaus erkennbar, nicht darum, die Opfer zu verhöhnen. Trotzdem ist „Hanau“ weit davon entfernt, auch nur ein mittelmäßiger Film zu sein. Bisweilen wird er unerträglich wie die Tat selbst. Vielleicht ist Uwe Boll für solche Themen der falscheste Regisseur überhaupt. Vielleicht ist er aber auch der einzig richtige. Nicht nur wegen seiner finanziellen Unabhängigkeit, sondern auch, weil er keinen Ruf zu verlieren hat. Die Kinos zeigen „Hanau“ nicht, Netflix sei interessiert, so Boll, will aber noch abwarten, wie groß der Skandal wirklich wird. „Vielleicht war es auch ein Fehler, so schnell einen Film zu machen. Aber jetzt ist er nun mal da.“