„Ich wollte dieser Bande angehören“

Kino-Ikone Jean-Pierre Léaud über Cannes, Angst und Politik

Interview. Kino-Ikone Jean-Pierre Léaud über Cannes, Angst und Politik

Drucken

Schriftgröße

Am 28. Mai wird der menschenscheue Charakterdarsteller Jean-Pierre Léaud 70 – seit exakt fünfeinhalb Jahrzehnten gilt er als Filmstar. Im Mai 1959 veränderte die Uraufführung des Jugenddramas „Les quatre cents coups“ („Sie küssten und sie schlugen ihn“) bei den Filmfestspielen in Cannes Léauds Leben: Als 14-Jähriger spielte er in François Truffauts Kinodebüt, dem ersten der fünf Antoine-Doinel-Filme, den rebellischen Helden, eine Rolle, die er erst 1979 wieder ablegen sollte. Zwischen 1965 und 1974 war Léaud everybody’s darling: Er drehte mit Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und Jean Eustache, trat in Pasolinis „Porcile“ auf und in Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“. Seither haben sich die Manierismen seines Spiels, die kühle Exaltiertheit seiner Auftritte im französischen Kino der 1960er- und 1970er-Jahre in echte Exzentrik verwandelt. Der späte Léaud, zu studieren etwa in Aki Kaurismäkis Suizid-Comedy „I Hired a Contract Killer“ (1990), in Bertrand Bonellos „Le pornographe“ (2001), zuletzt noch in Noémie Lvovskys „Camille redouble“ (2012), ist ein stoischer Sonderling, ein Meister der lakonischen Komik an der Grenze zur depressiven Verstimmung.

Drei Nächte verbringt der in Paris sehr zurückgezogen lebende Jean-Pierre Léaud Anfang November 2013 in Wien. Auf Einladung der Viennale besucht er eine Vorführung jenes epochalen, 769 Minuten langen Films, den Jacques Rivette mit ihm 1970 drehte: „Out 1 – Noli me tangere“, die improvisierte Geschichte einer labyrinthischen Intrige, in der die sozialen und politischen Folgen des Mai 1968 plastisch werden. Im Hotel Hilton bezieht Léaud mit seiner Frau Brigitte Duvivier Quartier. Interviews will er, wie gewohnt, nicht geben, auch das ORF-Team, das ein paar Etagen tiefer im Pressezentrum der Viennale auf seinen Einsatz hofft, lässt er nicht vor. Nur profil gewährt er Audienz, aus einem einzigen Grund, wie er zugibt: Er habe ein schlechtes Gewissen. Denn drei Wochen zuvor hatte er überraschend zugesagt, in seiner Heimatstadt Paris für ein Interview zur Verfügung zu stehen. Wenige Tage vor dem Treffen aber sagte er das profil-Gespräch telefonisch ab: Es gehe leider doch nicht, nicht jetzt, und schon gar nicht in Paris – konkretere Gründe könne er nicht nennen. Er entschuldigte sich, meinte nur bedrückt, er sei Interviews eben nicht mehr gewohnt. Darum also das nachgeholte Gespräch in Wien, eine Bringschuld.

Die Tür zu seiner Suite öffnet sich. Ein kleiner Mann im dunkelblauen Pullover steht mit ernstem Gesicht neben einer freundlich lächelnden Dame im Halbdunkel des Eingangsbereichs. Man muss zwei Mal hinsehen, um ihn zu erkennen: Es ist Jean-Pierre Léaud; schüchtern und etwas fahrig begrüßt der Herr mit dem langen schwarzgrauen Haar seine Gäste, gibt der Gästebetreuerin murmelnd zu verstehen, dass sie nicht böse sein, aber bitte nebenan warten solle. Dann legt Léaud fest, dass das Gespräch im Schlafzimmer seiner Suite stattfinden soll, er mit dem Rücken zur Wand, an einem kleinen Tisch neben dem Bett. Man holt Stühle aus dem großen Wohnzimmer, setzt sich. Er entschuldigt sich noch einmal für seine Absage und erklärt, warum sie sein musste: Ein Journalist, der für nichts als eine Stunde Interview nach Paris reisen wolle? Mit dem Flugzeug? Extra wegen ihm? Da habe er Angst gekriegt – er sei ja weder Robert De Niro noch Al Pacino.

profil: Erinnern Sie sich an den Abend des 4. Mai 1959? Als Sie – noch keine 15 Jahre alt – im geliehenen Anzug neben François und Madeleine Truffaut in der Festivallimousine saßen und zur Welt­premiere von „Sie küssten und sie schlugen ihn“ in Cannes gefahren wurden? Ahnten Sie damals schon, dass sich Ihr Leben unwiderruflich ändern würde?
Jean-Pierre Léaud: Es war unmöglich, sich das bewusst zu machen, dafür war ich wirklich zu jung. Aber als mir nach der Vorführung im Saal heftig applaudiert und ich im Triumph hochgehoben wurde, in Anwesenheit von Legenden wie Jean Cocteau, wusste ich, dass gerade etwas Tiefgreifendes geschah, dass ich dabei war, mich zu integrieren in die Gedankenwelt der „Cahiers du Cinéma“, jener Cinephilenbasis, aus der damals alle Autorenfilmer hervorgingen. Aber ich stand unter dem persönlichen Schutz Truffauts, der sehr genau wusste, was dieser plötzliche Erfolg für ein Kind bedeutete. Wir alle kennen Truffauts Humanismus aus seinen Filmen, aber er war eben auch jenseits des Kinos sehr sensitiv, beobachtete genau, was mit meinem weiteren Leben geschah. Truffauts früher Tod 1984 war ein enormer Schock für mich.

profil: Sie waren im Herbst 1958 aus Ihrem Internat in Pintigny ausgerissen und fast 200 Kilometer weit gefahren, um an Truffauts Casting in Paris teilnehmen zu können. Der Regisseur erzählte einst, dass Sie als Kind schockieren, vor den Kopf stoßen, unbedingt populär werden wollten.
Léaud: Mit 14 oder 15 kann man natürlich keinen Karriereplan haben. Ich hatte damals nur eine einzige Vision: Ich wollte um alles in der Welt dieser Bande angehören, die dabei war, eine Bewegung namens Nouvelle Vague ins Leben zu rufen. Ich wollte, musste Teil des Autorenfilms werden. Bis heute kommen Regisseure aus aller Welt auf mich zu, denen die Geschichte der Nouvelle Vague am Herzen liegt, weil sie in mir einen Überlebenden jener Zeit erkennen. Ich repräsentiere ja bis heute das damalige Kino. Die Regisseure, mit denen ich in den vergangenen 20 Jahren gearbeitet habe, sind fast immer jünger als ich: Olivier Assayas, Serge Le Péron, Tsai Ming-liang – oder Aki Kaurismäki, der mich in einem der frühen Filme seines Bruders Anfang der 1980er-Jahre sogar ganz direkt imitiert und parodiert hat.

profil: „Out 1“ mit Jacques Rivette zu drehen, war ein Wagnis – nicht nur wegen der Überlänge und des Improvisationsprinzips. Es gab keine Dramaturgie, keine Story im eigentlichen Sinn. Empfanden Sie „Out 1“ als Abenteuer?
Léaud: Ja, schon. Es war ein Werk, das nach dem Mai ’68 kam, als das Kino begann, sich bestimmte Fragen politischer und ästhetischer Natur neu zu stellen. So entschloss sich Rivette, „Out 1“ in acht Episoden für das Fernsehen zu drehen. Natürlich ist dieser Film nicht jedermanns Sache. Ich kannte Rivette als zeitweiligen Chefredakteur der „Cahiers“, vor allem aber aus der Cinémathèque, wo er regelmäßig anzutreffen war. Er galt damals vielen von uns als Meister, wurde fast kultisch verehrt; denn ihn hielt man für denjenigen, der im Innersten jedes Films am meisten erkennen konnte. Er stellte Querverbindungen und Zusammenhänge her, die uns alle verblüfften: Er konnte etwa eine Einstellung bei Fritz Lang mit den Beziehungen zweier Figuren in einem Film Jean Renoirs assoziieren. Natürlich bestand die Nouvelle Vague aus vielen Köpfen, aus mir, Godard und Truffaut, aber es ist seltsam, dass von Rivette, der am präzisesten war, heute viel weniger die Rede ist.

profil: Es könnte an Rivettes vergleichsweise sprödem Stil liegen.
Léaud: Die Schauspielerin Bulle Ogier sagte in einem Interview, dass Rivette zwar ein wunderbarer Regisseur gewesen sei, sie aber persönlich mit ihm nicht warm werden konnte. Sie wäre nach der Arbeit nie auf den Gedanken gekommen, mit ihm auf einen Drink oder essen zu gehen. Ich sehe das ganz anders: Ich genoss es sehr, gemeinsam mit ihm nach einem Film-erlebnis noch durch die Nacht zu spazieren und über das Gesehene zu diskutieren. Ehe die Arbeit an „Out 1“ begann, rief Rivette seine Schauspieler zusammen und teilte uns mit, jeder sei für seine Figur selbst verantwortlich. Er werde uns keinerlei Dialoge schreiben. Es gebe so etwas wie einen geheimnisvollen Plot, eigentlich ein Komplott, aber das Personal und deren Gespräche müssten wir schon selbst erfinden. Diese Ansage erzeugte bei den meisten von uns eine ungeheure Kreativität, aber manche schüchterte es wohl auch ein. Man kann, wenn man derart autonom arbeiten soll, schon das Gefühl kriegen, man drehe im Leeren, wie in einer Blase. Ich fand es sehr aufregend. Ich spiele in „Out 1“ ja einen Taubstummen, gebe vor, nur nonverbal kommunizieren zu können.

profil: Da mussten Sie ja wenigstens keine Dialoge erfinden.
Léaud: Aber ich musste zunächst andere Wege suchen, mich auszudrücken. Das war gar nicht leicht, die Gesten wurden viel stilisierter; ich hatte also erst nur meine Arme, meine Beine und mein Gesicht für die Kommunikation. Dann hatte jemand die Idee, dass der Mann, den ich da verkörperte, ein Musikinstrument spielen könnte! Aber welches? Saxofon, Trompete, Querflöte – das erschien uns alles zu voluminös. Schließlich kam Rivette auf die Idee, eine Mundharmonika zu verwenden.

profil: Die Sie nicht spielen konnten?
Léaud: Nein, null. Aber ich lernte es, in den Wochen vor Drehbeginn. Die Leute der „Cahiers du Cinéma“ hatten damals ein Haus in Marrakesch gemietet, dort ruhte man sich von der Arbeit aus. Serge Daney war da und ein paar andere; ich reiste ihnen nach. In Marrakesch gab es 1970 an sonstigen Unterkünften nur das luxuriöse Hotel Mamounia – Hitchcock hatte dort „The Man Who Knew Too Much“ gedreht. Im „La Mamounia“ stiegen damals wenige Ausländer ab, wenn man welche traf, waren es in erster Linie Hippies. Ich selbst war immer nur im Anzug unterwegs, hatte keine Lust, mich als Hippie zu verkleiden. In Marrakesch lernte ich zwei Briten kennen, die ein feines Gehör hatten: Sie spielten abends immer kleine Trommeln, stundenlang. Ich fand die perkussive Musik, die sie machten, ausgesprochen anziehend – sie war rhythmisch, melodisch, sehr erfindungsreich.

profil: Klingt nach Hippie-Paradies – und nach unterstützenden Substanzen.
Léaud: Ja, damals war es natürlich üblich, dass man, um sich zu stimulieren, einen Joint in der Runde herumgehen ließ. Ich ahnte, dass ich mich in die Gruppe um diese beiden Briten irgendwie integrieren, mit meiner Harmonika Zugang zu diesen Musikabenden finden musste. Ich begann also, mitten unter diesen exzellenten Trommlern meine Mundharmonika zu spielen – und siehe da, keiner beklagte sich über mein schlechtes Spiel, niemand warf mich raus, alle tolerierten mich. So konnte ich einen ganzen Monat lang daran arbeiten, dieses Instrument zu lernen. Den Joint allerdings brauchte ich dazu nicht, den ließ ich immer an mir vorbeigehen. Nach und nach gelang es mir, die Harmonika zu beherrschen, sie wurde in meiner Rolle als Taubstummer tatsächlich zu einer Art Ersatz für die Sprache.

profil: Wie fanden Sie denn das fast 13-stündige Ergebnis von „Out 1“?
Léaud: Die Langfassung habe ich nie gesehen. Um mich auf meine Wien-Reise und unser Gespräch vorzubereiten, kaufte ich mir allerdings die erst unlängst erschienene DVD-Box des Films. Aber auch davon sah ich nur das Ende, denn da fand sich eine Szene, in der ich die Harmonika perfekt spiele. Dieses Stückchen Film stellte Rivette ans Ende der vorletzten Episode, die Sequenz ist sehr schön, sehr wild, hat etwas fast Orientalisches. Und weil es Rivette war, ging ich da bis ans Äußerste, reizte auch die Kapazitäten meines Atems aus. Hätte der Regisseur Bertrand Tavernier geheißen, dies alles wäre nie passiert. So ist es eben, wenn man mit Freunden arbeitet.

profil: Mit Jean-Luc Godard drehten Sie zwischen 1965 und 1985 neun Filme. Gerieten Sie nicht zeitweise zwischen die Fronten, als Godard und Truffaut sich öffentlich zerstritten?
Léaud: Dazu kann man nur eines sagen: Man hat einen Konflikt nicht unbedingt siegreich überstanden, nur weil man seinen Gegner überlebt hat.

profil: Sie waren politisch sehr aktiv in Ihren jungen Jahren, engagierten sich durchaus radikal für die Linke. Betrachten Sie sich immer noch als politisch bewegt?
Léaud: Weniger heftig. Ich engagiere mich durchaus noch, aber auf kleinerer Flamme. Es ist nicht mehr so intensiv wie damals. Godard dachte und arbeitete extrem politisch, erfand 1968 eine Filmserie namens „Cinétracts“ und gründete die Groupe Dziga Vertov, eine maoistische Künstlerbewegung. Auch ich nahm in jenen Jahren an vielen Veranstaltungen teil. Aber meine Freundschaft zu Truffaut, den ich weiterhin oft sah, half mir, in diesen Dingen eine Balance zu finden – denn viele Intellektuelle verloren dieses Gleichgewicht damals.

profil: Sie waren Hauptdarsteller in zwei bedeutenden Filmen des Regisseurs Jean Eustache. War er auch ein Verbündeter für Sie?
Léaud: Ja, er war ein enger Freund. Er stammte aus Narbonne, wo wir 1965 „Le père Noël a les yeux bleus“ drehten, und er schloss sich der Gruppe der „Cahiers du Cinéma“ an, obwohl er in dem Blatt nie schrieb. Wir gingen oft gemeinsam in die von Langlois gegründete und geführte Cinémathèque, sahen die Filme Jean Renoirs, die Eustache sehr verehrte. Als ich ihn 1965 besser kennenlernte, hatte ich schon einige Jahre lang nur noch Gastauftritte gespielt und stattdessen als Regieassistent für Truffaut, auch für Godard gearbeitet, bis mir dieser 1965 die Hauptrolle in „Masculin-féminin“ gab. So kehrte ich vor die Kamera zurück. In jenen Tagen kam Eustache in die Redaktion der „Cahiers“ und verkündete, dass auch er einen Film plane, seine zweite mittellange Arbeit. Er wollte mich für die Hauptrolle. So begann das.

profil: 1972 kam Eustache noch einmal auf Sie zurück: „La maman et la putain“ wurde sein zentrales Werk. Sie stellen den desillusionierten jungen Helden dar, eine wenig sympathische, egozentrische Figur. War es für Sie, als Stellvertreter Ihrer Autoren, nicht zuweilen auch schwierig, ständig die verquälten Innenperspektiven Ihrer Regisseure darstellen zu müssen?
Léaud: Klar, Eustaches Film war äußerst abgründig. Das hieß in seinem Fall automatisch auch: schmerzhaft. Ich fand für die Darstellung des Alexandre aber ein simples System: Ich begann mich vollständig mit Eustache zu identifizieren, spielte vor der Kamera genau das, was er uns hinter der Kamera und in seiner Existenz vorlebte.

profil: Hatten Sie nie Interesse daran, selbst Regie zu führen? Es existiert angeblich ein Film von 1974, den Sie ko-inszenierten.
Léaud: Nein, ich habe nie selbst gedreht. Aber hätte ich es getan, so wäre mein Stil wohl weder Truffauts noch Godards Filmen ähnlich gewesen; mein Platz wäre irgendwo zwischen diesen beiden zu finden gewesen – nahe an den Inszenierungen Jacques Rivettes, denke ich. Aber ich bin sehr glücklich, Schauspieler zu sein.

profil: Macht es nicht oft auch Angst, sich gleichsam fremden Gefühlen überlassen zu müssen?
Léaud: Angst kenne ich vor allem, während ich noch nach meiner Figur suche – im Vorfeld der Dreharbeiten. Aber sobald sie gefunden ist, habe ich nur noch das reine Vergnügen des Ausdrucks. In dem Augenblick, da ich wirklich verstehe, wen ich spiele, fällt die Angst ab. Dann weiß ich, dass der Film gut wird, dann macht alles Weitere schlicht Freude. Deshalb bin ich allen, die mich je inszeniert haben, zu Dank verpflichtet für die vielen Gelegenheiten zu diesem Glücksgefühl.

Mitarbeit: Karin Schiefer, Robert Treichler

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.