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Marko Feingold: „Innerhalb einer Stunde kein Mensch mehr”

Österreichs ältesteter Holocaustüberlebender war bis zu seinem 107. Lebensjahr ein unermüdlicher Zeitzeuge. Die posthume Doku „Ein jüdisches Leben“ erzählt seine Geschichte.

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„Ich bin heute 105 Jahre alt und noch immer am Leben – obwohl ich viele Male gestorben bin … Ich erzähle meine Geschichte seit über 70 Jahren, und ich bin immer noch nicht fertig.“ Mit diesen Sätzen eröffnet Marko Feingold im minimalistischen Setting den Film, der ein kostbares Dokument für viele Generationen sein wird. Und erzählt:  vom Glück, das erste Paar Raulederschuhe ergattert zu haben, von der koscheren Küche der Mutter, von seinem Glauben („Meine Religion ist sehr elastisch“) und von seiner Ankunft in Auschwitz, wohin er mit seinem Bruder Ernst nach einem Jahr Haft in Prag und Krakau als 27-jähriger Mann deportiert wurde: „Innerhalb einer Stunde war man kein Mensch mehr, sondern eine Nummer.

Uns wurden die Haare abrasiert, der Beamte ließ unser Papiergeld unter den Tisch segeln. Ich fragte, was er mit unserem Geld macht. Seine Antwort: „Das werdet ihr nicht mehr brauchen.“  Manchmal lächelt er auch, wie über den Irrsinn der deutschen Gründlichkeit: „Am Ende bekam ich den italienischen Anzug, den man mir in Auschwitz abgenommen hatte, säuberlich gefaltet wieder in Buchenwald zurück.“ Der Anzug war braun, wie er profil bei einer Reportage in Auschwitz 2017 erzählt hat. Damals fügte er hinzu: „Ich habe in meinem Leben nie wieder braune Anzüge tragen können.“

Er sagte mir an diesem Tag ganz leise: „Heute gehe ich.“ Und zeigte zuerst nach oben und dann nach unten.

Hannah Feingold

Es war etwas mehr als ein Jahr vor seinem Tod, als Marko Feingold insgesamt 35 Stunden lang einem Filmteam seine so grauenvolle, aber auch wundersame Überlebensgeschichte erzählte. Die Fertigstellung der Dokumentation „Ein jüdisches Leben“ (siehe Kasten)  konnte er nicht mehr erleben: Vier Monate nach seinem 106. Geburtstag starb der damit wahrscheinlich älteste Zeitzeuge des Holocaust „unglaublich gnädig“, so Regisseur Christian Krönes, am 19. September 2019 in Salzburg. Seine Witwe Hanna Feingold erzählt: „Er sagte mir an diesem Tag ganz leise: „Heute gehe ich.“ Und zeigte zuerst nach oben und dann nach unten.“

Seine lange und so erfüllte Lebenszeit war wahrscheinlich eine Wiedergutmachung für die vielen Jahre, die man ihm als junger Mensch geraubt hat.“ Mit der Unermüdlichkeit, mit der Marko Feingold seine sechs Jahre währende Hölle in vier Konzentrationslagern über 70 Jahre lang auf Vorträgen, in Schulklassen, in Synagogen und auf Schülerreisen  erzählt hat, zeigte er sich auch seinem Filmteam. „Wenn wir einen Pausentag einlegten, ruhte er sich nicht aus, sondern nützte die Zeit, um nach Wien zu einem Radiointerview zu fahren“, erinnert sich Krönes. „Er war ein solcher Erzählkünstler.“

UNERMÜDLICH: Im Bus mit seiner Frau Hanna und immer gut gelaunt.

 „Mein Mann hat sich nie als Opfer gefühlt“, sagte Hanna Feingold, die sein Erbe als Zeitzeugin und Kämpferin gegen den „wachsenden und auch neuen Antisemitismus“ weiterführt. „Seine Erinnerungen weiterzutragen, darin sah er den Sinn seines Lebens.“

Das Repertoire des aktuellen Antisemitismus birgt viele Facetten, die abstrusen Gedankenwelten der Querdenker haben ihn um viele Perfidien bereichert. Der aktuelle  Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde über das erste Halbjahr 2021 zeigt schockierende Zahlen: Mit insgesamt 562 registrierten Vorfällen bis Ende Juni hat sich die Anzahl gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres mehr als verdoppelt. Ein kurzer Auszug: Eine jüdische Familie wurde in einem Park in der Wiener Leopoldstadt mit Steinen beworfen. Ein Passant mit einer Kippa wird von einer Truppe Jugendlicher mit dem Ruf „Allahu Akbar“ mit Elektroscootern geschnitten und als „Scheiß Jude“ beschimpft. Bei einer Anti-Israel-Kundgebung der „Palästina Solidarität Österreich“ bediente sich ein Redner zutiefst antisemitischer Motive wie der Brunnenvergiftung. Auf Arabisch wurden Hassrufe vom heranrückenden Heer Mohammeds, vor dem sich die Juden in Acht nehmen sollen, laut.

Benjamin Nägele, Generalsekretär der IKG, begründet die (seit Beginn der Erfassung solcher Vorfälle  im Jahr  2001) heuer mit Abstand höchste Meldungszahl auf profil-Anfrage mit der Anti-Corona-Bewegung: „Wir haben im ersten Halbjahr 2021 gesehen, dass der starke Anstieg mit der Mobilisierung von Corona-Leugnern und Antizionisten in dieser Zeit korrespondiert. Die Übergriffe reichten von Shoah-Verharmlosung bis zu Mordaufrufen gegen Juden. Dass den Worten auch Taten folgen, sehen wir unter anderem daran, dass die Zahl der physischen Angriffe in dieser Zeit gestiegen ist.“ Durch Aufklärungsarbeit erreiche man zwar, dass „Gemeindemitglieder eher Fälle melden, doch wissen wir, dass die Dunkelziffer leider viel höher liegt“. Gleichzeitig stelle er fest, „dass nicht nur Gemeindemitglieder angegriffen werden, sondern auch Menschen, die für Jüdinnen und Juden gehalten werden. Auch daran sehen wir, dass die Aggressivität von Antisemitinnen und Antisemiten weiter steigt.“
Die österreichweiten Vorfälle unterteilten sich in „verletzendes Verhalten“ (331), Massenzuschriften (154), Sachbeschädigungen (58), elf Bedrohungen und acht physische Angriffe. Die meisten Vorfälle (244) konnten ideologisch dem rechten Lager zugeordnet werden, in 71 Fällen waren die Täter Muslimen, 100 der Meldungen hatten einen radikalisierten linken Hintergrund.

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Der Rechtsextremismusforscher Bernhard Weidinger vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes sieht in dem durch die Pandemie beflügelten Antisemitismus zwei Ebenen: „Einerseits erfahren Verschwörungsfantasien Aufwind, die im Hintergrund der Pandemie entweder explizit Juden als Strippenzieher und Profiteure am Werk sehen oder aber einen diffusen Personenkreis, dessen Motive und Eigenschaften antisemitischen Klischees entsprechen.“

Die zweite Ebene läuft unter der Prämisse „Wir sind die neuen Juden“, wie einst ein Zitat von Heinz-Christian Strache anlässlich der Proteste gegen den Akademikerball lautete.  Das Tragen des gelben Sterns mit der Aufschrift „Ungeimpft“ ist ein Protestsymbol der Querdenker-Bewegung, Derivate davon sind Vergleiche von Corona-Leugnern mit NS-Opfern wie Sophie Scholl und Anne Frank.

Es sei  jedoch nicht gerechtfertigt, so Weidinger, „jede Impfskepsis mit Antisemitismus gleichzusetzen“. Natürlich seien Menschen „in Krisensituationen empfänglicher für absurde Erklärungen, die dann tröstlich wirken können“. Da expliziter Antisemitismus gesellschaftlich sanktioniert wird, habe sich in der Anti-Corona-Maßnahmen-Bewegung, so der deutsche Rechtsextremismus-Forscher Jan Rathje, „eine Umweg-Kommunikation in Form von Codes und Chiffren“ etabliert. Je tiefer er im Netz bei seiner Forschung arbeite, am Ende stoße man immer auf „die Protokolle der Weisen von Zion“, eine antisemitische Hetzschrift, die wahrscheinlich im zaristischen Russland vom Geheimdienst als Stimmungsmache gegen Juden in Umlauf gebracht wurde. In den Protokollen, die auch von der  NSDAP instrumentalisiert wurden, ist, so Rathje, „die Rede von jüdischen Weltverschwörern, die, um die Weltmacht zu erlangen, Seuchen auslösen, um die Wirtschaft zu manipulieren“.

Da wurde ein paar Mal auf der Gegenseite ungeniert der Hitlergruß getätigt, und die Polizisten haben darauf überhaupt nicht reagiert.

Avia Seeliger

Die 26-jährige Journalistin Avia Seeliger, die in Kooperation mit der Israelitischen Kultusgemeinde den Podcast „Chuzpe – jung und irgendwie jüdisch“ betreibt, beschlich ein beklemmendes Gefühl, als Freunde von der Jüdischen Hochschülerschaft sie darauf aufmerksam machten, dass ein Zeitungsartikel über sie und ihren Podcast vom rechtsextremen „Reichsbürger“ und Vegan-Koch Attila Hildmann  in einer Telegram-Gruppe geteilt wurde: „Zwar waren da keine Hassbotschaften
darunter zu lesen, aber dennoch wurde einem da mulmig zumute. Aber natürlich fallen in diesen Gruppen immer wieder Bias-Begriffe wie die Rothschilds oder George Soros.“ Entsetzt war sie, als sie als Privatperson an einer Gegendemo gegen rechtsextreme Corona-Leugner in Wien teilnahm: „Da wurde ein paar Mal auf der Gegenseite ungeniert der Hitlergruß getätigt, und die Polizisten haben darauf überhaupt nicht reagiert.“

Was den Antisemitismus im Netz betrifft, wisse man sich zur Wehr zu setzen: Jüdische Studentinnen und Studenten schleusen sich immer wieder in solche Gruppen des in rechtsextremen Kreisen vorrangig benutzten Messenger-Dienstes Telegram  ein, um antisemitische Ausfälle zu beobachten und zu melden. Seeliger hält diesen Zugang für wichtig: „Wir Junge müssen selbstbestimmt agieren und diesem von den Verschwörungstheoretikern befeuerten Antisemitismus Widerstand leisten. Auf keinen Fall wollen wir in einer Opferposition verharren und dabei zusehen.“

Das hätte Marko Feingold sehr gefallen.

 

profil-Premiere MARKO FEINGOLD – EIN JÜDISCHES LEBEN

profil-Premiere am 30. September um 19 Uhr im Stadtkino Wien in Anwesenheit des Filmteams, sowie Hanna Feingold, die Witwe von Marko Feingold. Weitere Ehrengäste: Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Oskar Deutsch, sowie Willi Mernyi, Vorsitzende des Mauthausen Komitee Österreich. Moderation Angelika Hager (profil). Klicken Sie auf das Poster, um Tickets zu erwerben.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort