Beten fürs Kino

Kritik. Elementares Welt-Experiment: "The Tree of Life“

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Die offen autobiografische Anlage des neuen Malick-Films ist nicht zu übersehen: "The Tree of Life“ erzählt von einer Kindheit in Texas, vom Aufwachsen dreier Buben in den fünfziger Jahren, in einer Familie mit aufbrausendem Vater (Brad Pitt) und duldender Mutter (Jessica Chastain).

Natürlich schöpft Regisseur Malick hier aus der eigenen Kindheitsgeschichte, und er tut das mit einer sinnlichen Direktheit, die nicht nur im amerikanischen Kino unerhört ist. Aber dann ist dieses Familiendrama, das sehr entschieden aus der Perspektive der Kinder erzählt wird, gar nicht das Zentrum des Werks. Denn "The Tree of Life“ ist weniger Spielfilm als avantgardistisches Gebet: Die assoziativen Off-Kommentare und die grandiose Landschaftsmalerei, die man aus den anderen Malick-Arbeiten kennt, sind hier ebenfalls nur Nebenaspekte eines sehr viel größer geplanten Unternehmens - eines Films nämlich, der sich vorgenommen hat, das haltlose Staunen über die unzählbaren Wunder der Welt, vom Urknall bis in die Apokalypse, in eine einzige Kinoarbeit zu gießen.

Regelrecht "kosmisch“ sind die Bilder, die Malick hier in großen Blöcken zwischen die erzählerischen Passagen schiebt: fast abstrakte Licht- und Himmelsphänomene, Bilder von Feuerspuren, Protuberanzen und Lavaflüssen. Kritiker haben gegen "The Tree of Life“ den Umstand ins Treffen geführt, dass der Film stark religiös anmute. Und wenn? Sind gläubige Künstler zu bedeutenden Filmen nicht fähig?

Mit Stanley Kubrick hat Terrence Malick mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Beide verstörten Kritiker und Kinogänger immer wieder durch die schiere existenzielle Dimension, die durchaus prätentiöse Anlage ihrer Filme. Aber es gibt eine viel direktere Linie, die von Kubrick zu Malick führt: Der Kalifornier Douglas Trumbull, der 1968 die fotografischen Spezialeffekte in Kubricks SciFi-Allegorie "2001 - Odyssee im Weltraum“ (und später auch für das futuristische visual design in Steven Spielbergs "Unheimliche Begegnung der Dritten Art“ und Ridley Scotts "Blade Runner“) verantwortete, hat vermutlich schon drei Jahrzehnte lang für Malick nie gesehene Naturaufnahmen entworfen, Bilder, die weitgehend ohne digitale Bearbeitung entstanden. Bezahlt wurde seine Arbeit zunächst von dem in Wien geborenen Paramount-Chef Charles Bludorn, der Malick in den frühen achtziger Jahren regelmäßig viel Geld für seine Experimente überwiesen hatte, in der Hoffnung, daraus einen weiteren Malick-Film zu generieren. Es scheint, dass viele der so entstandenen Szenen direkt oder indirekt in "The Tree of Life“ eingeflossen sind - und dadurch ein Stück Kino entstehen konnte, an dem tatsächlich 30 Jahre lang gearbeitet wurde. Im Nachspann zu "The Tree of Life“ bleibt Trumbull ungenannt, obwohl sein Zutun von niemandem bestritten wird: nur ein weiteres der vielen Mysterien, die sich um Malicks Arbeit ranken.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.