Porträt

Popstar Harry Styles: Zeichen der Zeit

Harry Styles ist mit ziemlicher Sicherheit der prägende männliche Popstar der Gegenwart. Die Frage ist: warum?

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Hand aufs Herz: Die Wege dieses Herrn sind tatsächlich unergründlich, und manchmal sind sie es sogar für die, die ihn ganz gut persönlich kennen. Woher kommt Harry Styles, wohin geht er? Und warum wollen so viele Menschen das wissen? Was geht es uns an, weshalb betrifft es uns? Die Antworten auf diese Fragen liegen im karibischen Dunklen: Der Dokumentarfilm zur Entstehung des Solo-Debüts von Harry Styles, „Harry Styles“ (2017), enthält eine kurze Szene, gedreht mit wackeliger Kamera, abends, in Jamaika, in Strandnähe: Styles, in Unterleiberl, Hawaiihemd und offenbar leichter Schlagseite, erscheint aus der Dunkelheit, im Hintergrund fragt ein Freund: „Wo warst du, Mann?“ Styles, wackelig: „Schwer zu sagen.“ Spricht’s und hechtet über ein Brückengeländer ins Wasser. Warum? Warum nicht? Schwer zu sagen.

Vier Jahre später, Ende 2021, ist Harry Styles ohne sehr viel Zweifel der maßgebliche männliche Popstar der Gegenwart. Seine Bedeutung erschließt sich nicht nur aus Verkaufszahlen oder Klickraten – das natürlich auch –, sondern vor allem aus den fantastischen sozialen Pirouetten, die er vor versammelter Menschheit mit großer Selbstverständlichkeit vollführt. Sie führen über vermeintlich vermintes Terrain, über gesellschaftliche und zwischenmenschliche Grenzen, und lassen die gewichtigsten Themen erstaunlich schwerelos erscheinen. Nicht, dass Styles diese Themen – Sexualität, Solidarität, Toleranz – selbst offensiv ansprechen oder gar durchdiskutieren würde. Nein, er wirkt anders, er wirkt schlicht, indem er ist. Indem er zu einem Livekonzert eine knallbunte Strickweste trägt, die daraufhin sofort zum weltweiten TikTok-Phänomen und wenig später auch ins Museum kommt, konkret ins Londoner Victoria and Albert Museum für angewandte Kunst. Indem er die gern gestellte Frage nach seiner sexuellen Orientierung mit einem grinsenden „Ist das nicht egal?“ beantwortet. Denn möglicherweise ist es das ja wirklich.

Die Welt des Harry Styles hat – nicht nur in den Farben der besagten Strickweste (sie stammt von dem Londoner Designer JW Anderson) – etwas Psychedelisches: Wenn Harry Styles auf einer Bühne steht, kann das unter seinen Fans zu außerkörperlichen Erfahrungen führen und selbst bei neutralen Beobachtern Weltanschauungen verrücken. Der Künstler verfügt über eine sehr britische Außerweltlichkeit, die – anders als die üblichen, im Vergleich ja oft tatsächlich abgehobenen Superstars US-amerikanischen Zuschnitts – immer mit beiden Beinen auf dem Boden steht, selbst wenn diese Beine in kindlichen Lackpantoffeln stecken. Die jüngsten Konzerte seiner „Love on Tour“ zu Halloween im New Yorker Madison Square Garden bestritt Styles in Kostümen seines guten Freundes und Gucci-Chefdesigners Alessandro Michele, der sich dafür unter anderem von Judy Garland im Filmklassiker „Zauberer von Oz“ inspirieren ließ: rote Strumpfhose, rote Lackschühchen, kariertes Kittelkleidchen, passendes Schleifchen im Haar, dick aufgetragene rote Bäckchen. Und irgendwo hinter dem Regenbogen wartet eine andere Welt. Bei den besagten Konzerten coverte Styles – im Kostüm eines weißen Harlekins – übrigens auch Britney Spears’ Hit „Toxic“. Zitat: „A guy like you should wear a warning.“

Ich fand immer, dass die Momente im Leben, die mir die meiste Freude bereitet haben, die kleinen waren.“ (Harry Styles in einem philosophischen Moment)

Das Selbstvertrauen, mit dem der Fußballprofi David Beckham vor vielen Jahren einmal Haut- und Haarpflege in bis dahin eher pflegeskeptische Gefilde exportierte – man nannte das damals „Metrosexualität“ –, wird mit Harry Styles (von dem auf YouTube Aufnahmen kursieren, die ihn als ganz passablen Kicker zeigen) auf eine neue Ebene gehoben. Es geht ihm nicht mehr nur um den Brückenschlag zwischen Maskulinum und Femininum, es geht um die Herstellung eines Kippbildes, in dem beides (und mehr) ständig präsent gehalten wird und in dem auch jederzeit die Möglichkeit besteht, dass diese Unterscheidung ganz grundsätzlich keine große Sache mehr sein muss. Unter dem Styles’schen Schutzschirm erscheint eine Gemeinschaft vieler, diverser Einzelner als Gleich- und einander Wohlgesinnter möglich. Und sie wirkt eigentlich sogar ganz einfach. Leicht. Bunt. Fantastisch realistisch.

Wenn ich nach Harry Styles google, schlägt mir die Suchmaschine ein paar Fragen vor, die man zu dem Thema eventuell auch noch stellen könnte. Von oben nach unten: Welche Musikrichtung macht Harry Styles? Wie heißt Harry Styles’ Katze? Wer war Harry Styles’ letzte Freundin? 

Fangen wir von hinten an. Derzeit wird Styles eine Beziehung zu der US-amerikanischen Schauspielerin und Regisseurin Olivia Wilde nachgesagt, in deren nächstem Film „Don’t Worry Darling“ er eine Hauptrolle spielt. Seine erste große Rolle als Schauspieler absolvierte Styles 2017 in Christopher Nolans Weltkriegsdrama „Dunkirk“ als britischer Soldat in höchster Not. Im jüngsten Marvel-Eventfilm „Eternals“ wurde er – mit einem Kurzauftritt im Abspann – als kommender Superheld „Eros“ avisiert. Aber das ist nun wirklich Zukunftsmusik. Tatsächlich legt Harry Styles feine Linien in die Vergangenheit, er erweitert die Grenzen der Gegenwart. Denn die Gleichzeitigkeit betrifft in seinem Fall nicht nur Genderfragen, sondern gleich überhaupt den Zeitenlauf – alle möglichen Vergangenheiten sind in seiner Person zugleich präsent: die Schlaghosen-Siebziger und die Boyband-Nuller, der Rock’n’Roll-James-Dean und die Preppy-Lady-Di und der EURO-Beckham.

Vielleicht hilft es ja doch, ganz am Anfang zu beginnen. Harry Styles wurde am 1. Februar 1994 in Redditch, Worcestershire geboren, einer mittelenglischen Kleinstadt nicht weit von Birmingham, die den 1980 verstorbenen Led-Zeppelin-Drummer John Bonham sowie Black-Sabbath-Sänger Tony Martin zu ihren berühmteren Söhnen zählt. Aufgewachsen ist Styles, Sohn des Bankangestellten Desmond Styles und dessen Frau Anne, allerdings in der noch viel kleineren Kleinstadt Holmes Chapel, die wohl wirklich zu winzig ist, um internationale Hard-Rock-Berühmtheiten hervorzubringen, aber doch immerhin über eine Mittelschule verfügt (mit deren Schulband White Eskimo der junge Harry S. erstmals öffentlich musizierte) sowie über eine Bäckerei, in der Harry als Teenager einen Teilzeitjob annahm. Erste Schritte in Richtung kommender Brotjobs erfolgten im Frühjahr 2010 im Rahmen der britischen Talentshow „The X Factor“ mit einem Stevie-Wonder-Cover („Isn’t She Lovely“). Der damals 16-Jährige kam damit zwar nicht weit, aber immerhin auf den Radar des einflussreichen Showmasters und Plattenfirmenbosses Simon Cowell, der ihn mit vier gleichaltrigen Jugendlichen aus dem „X Factor“-Fundus zu der Boyband One Direction zusammenspannte. Der weitere Verlauf dieser Geschichte ist Boybandkundigen bekannt, deshalb hier nur ein paar Kennzahlen: Debütsingle: Nummer-1-Hit. Debütalbum: Nummer-1-Hit. Vier weitere Langspielplatten: jeweils Nummer-1-Hits. Weltweit meistverkauftes Album und erfolgreichste Tournee des Jahres 2013. 70 Millionen verkaufte Alben insgesamt. Hysterische Fans, erhebliches Medieninteresse und nach Auskunft von Harry Styles eine erstaunlich untraumatische Zeit. 

Der Abschied des jungen Künstlers aus der Boybandwelt war – im Nachhinein betrachtet: selbstverständlich – in ein Modestatement verpackt: November 2015, American Music Awards, Los Angeles. Während seine Bandkollegen mehr oder weniger klassische Awardshow-Anzüge zur Schau stellten, hatte Styles zum cremefarbenen, weit ausgestellten Gucci-Anzug im Blümchentapetenmuster gegriffen. Bunny Kinney, Chefredakteur des britischen Popkultur- und Mode-Magazins „Dazed“, analysierte den Auftritt später so: „In diesem Moment unternahm Harry seine ersten Schritte in Richtung Freiheit, etablierte eine eigene Individualität und einen risikofreudigen Modegeschmack, der seine Fans wie auch die Modewelt fröhlich durchrüttelte.“

Die suchmaschinelle Frage nach dem musikalischen Genre, in dem sich Styles bewege, muss derweil offen bleiben. Auf seinem Solo-Debüt „Harry Styles“ 2017 (mit dem tatsächlich hervorragenden Überhit „Sign of the Times“) und dem Nachfolger „Fine Line“ 2019 (mit dem allein auf Spotify eineinhalb Milliarden Mal gestreamten Song „Watermelon Sugar“) changiert der Musiker zwischen keckem Softrock, balladiger Nebelschwadenanschmachtung, souligem Caffè-Latte-Pop und kräftigeren Noten und erreicht dabei insgesamt keine allzu überirdischen Sphären, was aber nicht weiter schlimm erscheint, weil Harry Styles zu jener Art von Popstars zählt, die sich nicht primär akustisch überträgt. Harry Styles gehört vielleicht gehört, aber er muss definitiv gesehen werden: ein Prince im Körper eines Mick Jagger, ein David Bowie als Mädchenschwarm von nebenan, ein Mittelstürmer, der kein Abseits kennt. Und eben eine Modemuse, wie es sie seit Freddie Mercury nicht gegeben hat: flamboyant und auf eine gute Art jenseitig, opulent und bodenständig; Stick und Street, Brokat und Jogginghose. 

Nun gehört es freilich zur Eigenschaft von Stilikonen, dass sie einen Stil auch tatsächlich mit Haut und Haar verkörpern. Dass sie eben nicht verkleidet wirken wie ihre Nachahmer und Epigonen, sondern in sich und ihren Kleidungsstücken ruhen. Das große Talent des Harry Styles besteht nun darin, jeden beliebigen Stil auf diese Weise repräsentieren zu können. Bei einem Auftritt in der US-Comedyshow „Saturday Night Live“ vor zwei Jahren trug er – über hochgekrempeltem, gestreiftem Hemd – einen Schäfchenpullunder in bester Lady-Di-Tradition, dazu Nadelstreifhose extraweit und pinke Lederslipper. Und: Es funktionierte. Seine neue Beauty-Marke Pleasing bewarb der Brite unter anderem in bauchfreiem Unterhemd und lila Schlaghose. Auch Federboas und Perlenketten verdanken ihm nicht mehr für möglich gehaltene Renaissancen. 

Es handelt sich keineswegs um schlichte Oberflächlichkeiten. Pop ist eben oft mehr als Musik, Pop ist – wenn alles gut geht – eine Sicht auf die Welt, die deren Defizite transparent macht und andere Möglichkeiten durchscheinen lässt. Eine Welt, deren Bewohner immer mehr auseinanderdriften, teils auch aktiv auseinanderdividiert werden, braucht umso dringender ein Fenster, das eine bessere Aussicht verheißt: eine Welt der Gemeinschaft. Die Musik dient dazu mehr oder weniger als Soundtrack oder als Anlass, um Bühnen zu betreten. 

Die Inspiration zu seiner neuen Nagellack-Kollektion erklärte Harry Style kürzlich folgendermaßen: „Ich fand immer, dass die Momente im Leben, die mir die meiste Freude bereitet haben, die kleinen waren. Ob das nun das Ende einer Sternennacht ist oder ein Essen oder ein Treffen mit Freunden, bei dem man denkt: Das werde ich nie vergessen.“ Es ist nicht so, dass Harry Styles in Interviews das Hirn genauso kitzelt wie das Auge. Trotzdem schafft er es, sogar im tiefsten Marketinggeschwurbel einen Dreh in Richtung Verzauberung hinzubekommen. Über ein Parfum, dessen Werbeträger er einst war, sagte er damals den eben doch sehr weisen Satz, den man sich, nur zum Beispiel, aus dem Mund von Robbie Williams beim besten Willen nicht vorstellen kann: „Es riecht so, wie ich mir vorstelle, dass Joan Didions Haus riechen könnte.“

Über Harry Styles’ Katze ist uns leider nichts Näheres bekannt.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.