Psychiater Haller: "Und dieser heilen Welt werde ich es jetzt zeigen“

Der Psychiater Reinhard Haller über die Empfindlichkeit von Narzissten und den aggressiven Umgang mit Machtverlust.

Drucken

Schriftgröße

INTERVIEW: ANGELIKA HAGER

profil: Gab es einen speziellen Fall im Zuge Ihrer Gutachtertätigkeit, der Ihnen die zerstörerische Kraft von Kränkung besonders drastisch vor Augen führte? Reinhard Haller: Den Auslöser für mein Buch gab eindeutig der Bombenattentäter Franz Fuchs, mit dem ich als sein Gutachter nach seiner Verhaftung viele Tage verbracht habe. Am Ende ist eigentlich nur übrig geblieben, dass der Mann ein pathologisch gekränktes Genie war und letztlich wegen Kleinigkeiten, die unsereiner wahrscheinlich locker wegstecken würde, tödliche Rachegedanken ersonnen hat. Ich erinnere mich noch gut, als eine Sozialarbeiterin einmal für ihn ein Zeitungsabonnement abbestellt hat und ihr dabei ein Rechtschreibfehler passierte. Das allein hat ihn schon so wütend gemacht, dass er diese Frau nie wieder sehen wollte.

profil: Lagen die Wurzeln der so verheerenden Kränkbarkeit von Fuchs in dessen Kindheit? Haller: Das glaube ich nicht. Sein Elternhaus war rau, aber herzlich: Die Mutter war eine gestandene Person, der Vater eher ein weicher Typ. Dass Fuchs ein hypersensibler und extrem kränkbarer sowie narzisstischer Mensch war, ist auch mit seiner Veranlagung zu erklären. Als er ein Stipendium nicht in der erwarteten Höhe erhalten hatte, warf er sein Studium hin. Als er sich in ein Mädchen verliebt hatte, es davon aber nichts wusste, hat er dies sofort als Zurückweisung interpretiert und einen unglaublichen Frauenhass entwickelt. Als er bei Daimler arbeitete, war er der Meinung, dass ein Ausländer ihm eine bestimmte Stelle weggeschnappt hatte. Daraus entstand dieser extreme Ausländerhass, der dann auch zu seinen Anschlägen führte.

profil: Heißt das, dass die aggressive Entladung einer Kränkung oft durch kleine Anlässe hervorgerufen werden kann? Haller: Ja. Ich bin nicht der Meinung, dass die Auslöser große Traumata sind, sondern vielmehr Kleinigkeiten. Ein Flügelschlag eines Schmetterlings in Amazonien kann in Texas einen Wirbelsturm auslösen. Ich schreibe im Buch über einen deutschen Amokläufer, der als Grund für seine Tat angab, dass bei einer Klassenfahrt nach Rom, die sieben Jahre zurücklag, keiner mit ihm das Zimmer teilen wollte. Kränkungen ziehen oft über Jahre aufwühlende Prozesse nach sich, die sich durch Verbrechen, aber auch durch psychosomatische Krankheiten Bahn brechen können.

profil: Amokläufer leiden häufig an einer narzisstischen Störung. Narzissmus und Kränkbarkeit scheinen prinzipiell sehr eng verwoben. Haller: Natürlich. Das wird oft vergessen, denn es herrscht die fälschliche Meinung vor, dass Narzissmus mit einem überhöhten, übertriebenen Selbstwertgefühl gleichzusetzen ist. Narzissmus geht Hand in Hand mit einer extremen Empfindlichkeit. Bei vielen Schul-Amokläufern und Terroristen kann man Kränkung auch als Initialzündung werten. Der Abschlussbericht über den Todespiloten der Germanwings-Maschine liegt noch nicht vor, aber ich bin mir ganz sicher, dass Kränkung in Form eines drohenden Jobverlusts ein maßgeblicher Auslöser für seine Tat war. Die Psychologie, die dahintersteht, lautet: Mir geht es schlecht und denen geht es gut. Und dieser heilen, verständnislosen Welt werde ich es jetzt zeigen.

profil: In der Kriminalliteratur heißt es immer über die gefährlichsten und grausamsten Psychopathen, sie wären im Alltag ihren Nachbarn unauffällig, introvertiert und durchaus auch zuvorkommend erschienen. Haller: Das ist richtig. Es sind eher die Verhaltenen, die, die alles in sich hineinfressen, wo sich das gesamte Frustrationspotenzial dann irgendwann eruptiv entlädt.

profil: Es sind also nicht die jähzornigen, deren Impulskontrolle oft aus dem Ruder scheint, die man fürchten muss? Haller: Richtig. Aber diesem Irrglauben bin auch unterlegen. Ich dachte früher, dass die leicht verstimmbaren, impulsiven und emotional instabilen gefährlich werden könnten. Das war ein Irrtum: Die, die von ihren Mitmenschen gerne als eine Art "graue Maus, der man das nie zugetraut hätte“ bezeichnet werden, neigen eher zu Gewaltverbrechen. Die Wut, die ständig hinuntergeschluckt wird, muss irgendwann hinaus.

Männer können schlechter mit Kränkungen umgehen als Frauen. Das kommt daher, dass sie von klein auf darauf konditioniert sind, ihre Verletzungen zu verdrängen, anstatt sich ihnen zu stellen.

profil: Menschen, die sich durch überdurchschnittliche Empfindlichkeit charakterisieren, haben möglicherweise als Babys und Kleinkinder nicht gelernt, eine Frustrationstoleranz zu entwickeln. Wie kann ich als Elternteil mein Kind so kränkungsresistent wie möglich machen? Haller: Das ist die große Aufgabe, das Maß zu finden zwischen Fordern und Verwöhnen. Risikoanfällig für Kränkungen sind meistens nur zwei Sorten von Menschen: Jene, die zu viel Zuneigung und Zuwendung erhalten haben, und die, die eben zu wenig davon bekommen haben. Das Ergebnis ist letztendlich das gleiche: Der Unterversorgte wird sein Leben danach hungern. Beim anderen Typus muss die Dosis ständig erhöht werden, und er wird gekränkt sein, wenn ihm diese - für ihn - Selbstverständlichkeiten vorenthalten werden. Erziehung ist aber immer eine Gratwanderung, die man nicht mit Richtlinien und Ratgebern lösen kann.

profil: Durch die Psycholiteratur des vergangenen Jahrzehnts geistert das Bild des "gekränkten Mannes“. Auch auf den Chronikseiten ist bei männlichen Gewaltverbrechern - wie zum Beispiel beim Grazer Amokfahrer - häufig von vorangegangenen Kränkungen die Rede, etwa eine von der Frau betriebenen Trennung. Haller: Männer können schlechter mit Kränkungen umgehen als Frauen. Das kommt daher, dass sie von klein auf darauf konditioniert sind, ihre Verletzungen zu verdrängen, anstatt sich ihnen zu stellen. Im Falle von Graz geht es wahrscheinlich auch wie bei vielen anderen Familientragödien, in denen Männer ihre Frau und Kinder umgebracht haben, um eine Reaktion auf Machtverlust. Diese Männer haben ihre Position innerhalb der Familie verloren, die Frauen verselbstständigen sich, das können diese Männer nicht verkraften. Dann schwören sie sich innerlich: Ein Mal werde ich es euch noch zeigen, ein Mal habe ich noch einen letzten Sieg und eine todsichere Lösung. Diese Männer sind psychisch häufig nicht krank, sondern zerstören aus rein egoistischen Motiven. Diese erweiterten Morde steigen statistisch an. Sie sind für mich eine neue Form des Bösen.

Reinhard Haller ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Er leitet das Vorarlberger Behandlungszentrum für Suchtkranke und ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik in Vorarlberg. Seit 1983 fungiert er auch als psychiatrischer Gutachter und untersuchte u. a. die Fälle Jack Unterweger und Franz Fuchs. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Sucht und Suizid, Forensische Psychiatrie und Kriminologie. Haller hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter "Die Seele des Verbrechers“, "Die Narzissmusfalle“ und zuletzt "Die Macht der Kränkung“ bei Ecowien.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort