Fußball

Rapid Wien in der Krise: Und täglich grüßt die Vergangenheit

Der populärste Fußballklub des Landes, Rapid Wien, steckt schon wieder in der Krise. In seiner Jugend schwärmte profil-Sportjournalist Gerald Gossmann für Grün-Weiß. Warum ihn der Verein einst faszinierte und heute bloß noch irritiert.

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Den fliegenden Teppich sehe ich noch heute vor meinem geistigen Auge. Schauplatz, Mitte der 1990er-Jahre: mein Kinderzimmer. Rapid Wien kassierte den Ausgleich in einem wichtigen Spiel – und der Teppich, der eigentlich bloß ein Bettvorleger war, bekam meine Wut zu spüren. Ansatzlos packte ich zu und schleuderte ihn durch die Luft.

Das Tor, das mich derart in Rage versetzte, hatte Austria Salzburg erzielt, der damalige Erfolgsklub mit den Teenie-Idolen Otto Konrad und Heimo Pfeifenberger. Wie eine Boyband nahm ich die Truppe auch wahr: soft und kitschig. Rapid dagegen war anders. Dort geschahen tatsächlich Wunder. Rapid konnte in Rückstand geraten, aber irgendein blutverschmierter Typ brachte immer die Wende. Es wurden keine Spiele bestritten, sondern Schlachten geführt. Zu meinen Helden zählten: Didi Kühbauer, ein verbissener Mann, der sich wohl mit seinem blanken Leben gegen Niederlagen gestemmt hätte. Carsten Jancker, ein grobschlächtiger Glatzkopf, der auf dem Feld fast verblutet wäre – aber trotzdem den Schädel hinhielt. Und: Christian Stumpf, ein zotteliger Stürmer, den sie „Büffel“ nannten, weil er beim Laufen wie ein wildes Tier schnaubte. Rapidler waren keine Kicker, sondern Krieger. Und als Fan war man kein Zuschauer, sondern Zeuge übernatürlicher Ereignisse.

1996 stand der SK Rapid Wien im Europacupfinale – gegen den Weltverein Paris Saint Germain. Vor wenigen Tagen ist Rapid nun in der Europacup-Qualifikation am FC Vaduz aus Liechtenstein gescheitert – seines Zeichens Vorletzter der zweiten Schweizer Liga. Es war kein großer Kampf, es passierte kein Wunder. Rapid schied einfach aus. Ich war darüber weder überrascht noch traurig oder betroffen. Seit zehn Jahren schreibe ich kritisch über Fußball – auch über Rapid. Und es fällt mir wirklich nicht schwer, im Gegenteil: Der Verein hat es mir leicht gemacht. Der Fußballklub, der mich meine Jugend lang fasziniert hatte, irritiert mich heute bloß noch.

Die Jahrhundert-Blamage gegen den FC Vaduz vor wenigen Tagen legte offen, woran der Verein seit Jahren krankt: Erst wurde einfallslos Fußball gespielt, dann stürmten Fans die Präsidenten-Loge, stellten die Geschäftsführung zur Rede. Kurz darauf traten Präsident Martin Bruckner und Geschäftsführer Christoph Peschek zurück. Nun soll der Fußballgott höchstpersönlich den Verein übernehmen: Ex-Rapid-Spieler Steffen Hofmann will bei der Wahl im November antreten, mit Unterstützung der Hardcore-Fans.

Rapid hätte durchaus die Mittel, um einen Fußballklub vernünftig aufzustellen: 45 Millionen Euro Umsatz wurden in der letzten Saison erspielt. Doch Rapid wird als Familie geführt, versteht sich als Versorgungsanstalt für ehemalige Spieler, lässt Fangruppen Fußballmanager spielen – und vergisst dabei, das Hauptgeschäftsfeld zukunftsfit zu machen: das Fußballspiel.

Grünes Blut

Im Burgenland, wo ich aufgewachsen bin, konnte man Rapid schwer entkommen. Die große Bundesliga-Zeit des SC Eisenstadt war damals längst vorbei und der SV Mattersburg noch ein unbedeutender Dorfverein. Menschen streichen hier ihre Einfamilienhäuser grün-weiß, in Wirtshäusern hängen Rapid-Wimpel, der Klub kam zur Sommervorbereitung in jedes Dorf. „Da könnt ihr reinstechen“, hörte ich erwachsene Männer sagen und stolz auf ihre Pulsadern deuten, da sei „grünes Blut drinnen“. Rapid ist für viele Fans nicht bloß ein Fußballklub – sondern Weltbild, Religion, Familie. Ich war zumindest ein bisschen verliebt. Wollten sich Freunde ausgerechnet während eines Rapid-Spiels auf einen Umtrunk treffen, schüttelte ich den Kopf. Das Ziel jener Jahre bestand nicht darin, bessere Noten in Mathe zu schreiben, sondern mit Rapid die Meisterschaft zu gewinnen.

Als ich 2005, im Alter von 22 Jahren, spät aber doch, einen Titelgewinn mit Rapid feiern durfte, war Josef Hickersberger Trainer. Der Mann brachte nicht nur sportlichen Erfolg, sondern entwarf eine komplette Vermarktungsstrategie: Er taufte das baufällige Hanappi-Stadion in „Sankt Hanappi“ um, verkaufte Rapid-Spiele als Hochämter, zog damit Fanmassen an und befeuerte den Kult um den Verein. Seither erzeugt der Klub für seine Anhänger eine Zauberwelt aus Retro-Kitsch. Rapids einziges Ziel scheint darin zu bestehen, das Rapid von früher zu werden.

Als Ex-Rapid-Spieler Ferdinand Feldhofer zuletzt als Trainer verpflichtet wurde, verkündete der Klub: „Der Meister von 2004/2005 ist zurück in Hütteldorf!“ Davor fungierte der Meister von 1995/96, Didi Kühbauer, als Trainer. Erfolgsmodell ist die Vergangenheitsbeweihräucherung keines: Seit 14 Jahren hat der österreichische Rekordmeister keinen Titel mehr gewonnen. Man holte neben ein paar fünften auch zweite oder dritte Plätze, qualifizierte sich regelmäßig für den Europacup – doch Zauber wohnt Rapid-Auftritten keiner mehr inne.

Das Fußballgeschäft modernisierte sich im letzten Jahrzehnt rasant, Rapid aber wurde zum Modernisierungs-Verweigerer. Der Klub propagiert mit dem Vereinsmotto „Kämpfen und Siegen“ Tugenden, die den 123 Jahre alten Klub prägten – und vernachlässigte die Entwicklung eines ganzheitlichen Konzepts.

Mir gefällt der erdige Fußballcharme der Neunzigerjahre, ich mag Bratwurst-Duft und hüpfende Fans – aber noch mehr erfreue ich mich an gutem Fußball. Als ich den damaligen Vereinspräsidenten Rudolf Edlinger einst zufällig auf der Straße traf, beklagte ich die taktische Einfältigkeit des Rapid-Trainers. Edlinger winkte ab und verwies auf einen legendären Meistermacher, der auch kein Taktik-Genie gewesen wäre, aber trotzdem den Titel geholt hatte.

Rapid definierte sich auch durch eine religiös-zelebrierte Ablehnung des Kunstprodukts Red Bull Salzburg. Die grün-weiße Version der Geschichte lautet: In Salzburg habe man sich dem Kommerz unterworfen, während Rapid als Traditionsverein einem hehren Ideal treu bleibe. Während es in Salzburg nach pickigem Zuckerwasser stinke, dufte es in Hütteldorf nach verschwitzten Dressen.

Zugegeben, das globale Fußballgeschäft ist in der Tat ein wenig grauslich geworden: Milliardäre und Konzerne kaufen Fußballklubs als Spielzeuge. Red Bull hat die Identität der einstigen Austria Salzburg ausgelöscht – und die Vereinsfarben kaltherzig getilgt. Und ausgerechnet dieses charakterlose Konstrukt lässt Rapid, den Verfechter der wahren Fußballwerte, jetzt nicht mehr an die Meisterschale. Was durch die grün-weiße Brille übersehen wird: Salzburg hatte nicht nur unverschämt viel Startkapital, sondern stöbert Trainer auf, die niemand kennt, wenig Ablöse kosten und allesamt einschlagen. Die Spielweise harmoniert mit Spielerqualitäten und Trainerkonzepten. Salzburg verkauft seine Talente mittlerweile so teuer, dass man zur Elite Europas aufgestiegen ist. Rapid dagegen schuf sich keine Zukunft, sondern verteufelt diese geradezu.

Salzburgs Konzept und Kapital haben Rapid zum Modernisierungsverlierer gemacht. Aber ein spannendes Meisterrennen verhindern nicht die Spiele gegen den Ligakrösus, sondern Ausrutscher gegen Klubs, die weit weniger Geld als Rapid zur Verfügung haben. In der aktuellen Saison traf Rapid noch kein einziges Mal auf Salzburg – und liegt trotzdem nur auf dem fünften Tabellenplatz.

Ich bin wahrscheinlich nicht der geborene Fan. Ein echter Fan schwört Treue und Unterstützung auch in schlechten Zeiten. Ich dagegen nörgle selbst in guten Zeiten. Das hält keine Beziehung aus. Als Journalist tauchte ich zeitweise tiefer in den Rapid-Kosmos ein – und war froh, nicht mehr verliebt zu sein. Es gibt Sport-Reporter, die wie Fans über ihre Lieblingsvereine berichten, bei Toren aufspringen, mit Spielern und Trainern abklatschen. Das hat mich abgestoßen. Journalismus ist eine ernsthafte Angelegenheit. Die Vereine nehmen viel Geld ein, erhalten Förderungen aus öffentlichen Mitteln – ein wachsamer Blick ist wichtig. Einmal saß ich in einer Fernsehsendung neben dem damaligen Rapid-Präsidenten Michael Krammer und warf ihm vor, dass der Verein mit jedem neuen Trainer „bei Null“ beginne. Krammer schaute mich verdutzt an – und wiegelte ab.

Heuer war es wieder einmal so weit: neuer Trainer, Neustart. Eine 30-köpfige Mannschaft wurde zusammengekauft – doch es passt wieder einmal nichts zusammen.

Die Versorgungsanstalt

Rapid hat in der Regel zwei Ideen zur sportlichen Entwicklung. Die erste: Man schnappt einem Dorfklub den Erfolgstrainer weg. Die Milchmädchenrechnung dazu lautet: Wer mit dem Mittellosen erfolgreich ist, muss mit dem Reichen durchstarten. Die Prognose ging nie auf, weil die Trainer bei ihren Dorfklubs taktisch verteidigen konnten und beim großen Rapid plötzlich angreifen sollten. Zweite Idee: Man setzt eine Spieler-Legende auf die Trainerbank, die als pater familias die Fans beruhigen soll.

Rapid ist zu einer Versorgungsanstalt für ehemalige Größen geworden. Ein aktueller Auszug aus dem Angestelltenverzeichnis des Familienbetriebs: Trainer Ferdinand Feldhofer, Sportdirektor Zoran Barisic und Tormanntrainer Jürgen Macho waren Rapid-Spieler. Das gilt auch für: Talente-Manager Martin Hiden, Rapid-II-Trainer Stefan Kulovits, Rapid-II-Co-Trainer Patrick Jovanovic und Rapid-II-Team-Manager Tamas Szanto.

Zwei Legenden (Gerry Wilfurth und Michael Hatz) sitzen im Präsidium. Und für den Fußballgott der 2000er-Jahre wurde sogar ein eigener Posten erfunden: Steffen Hofmann wurde zum Rapid-Sport-Koordinator.  

Ein Beispiel für eine grün-weiße Postenbesetzung: Vor drei Jahren beriet der einstige Meistermacher Hickersberger die Führungsetage bei der Sportdirektoren-Suche. Hickersberger votierte für den Ex-Rapid-Spieler Zoran Barisic, ohne sich die Präsentation des zweiten Kandidaten, Alfred Hörtnagl, überhaupt anzuhören. „Wenn ich mich für Barisic ausspreche, macht es wenig Sinn, wenn ich mir den Ali Hörtnagl auch noch anhöre“, erklärte mir Hickersberger. Auf meine Frage, was er dem Verein generell empfehlen würde, antwortete er: „Dazu bin ich zu weit weg vom Fußball. Es reicht mir, dass mein Sohn als Co-Trainer angestellt ist.“

Aus Familiensinn wurde Familien-Unsinn. Ich habe immer wieder kritische Geschichten über Rapid geschrieben – in Fanforen wurde ich schon LASK-Fan genannt, Austrianer, und (das trifft wohl am meisten): Salzburg-Jünger. Ich bin alles mögliche, nur nicht Familie.

 

Mit dem Einzug 2016 ins neue Stadion probierte Rapid eine Internationalisierung. Doch die Freunderlwirtschaft verfolgte Rapid auch dabei: Der deutsche Ex-Schalke 04-Spieler Andreas Müller holte als Sportdirektor seinen Ex-Schalker-Kumpel Mike Büskens als Trainer.  

Die Macht geht vom Fan aus

Ein großer Teil des grünweißen Anhangs ist für das Familien-Narrativ empfänglich, das der Klub zur Fan-Bindung einsetzt. Selbst Geschäftsführer Peschek ist seit Kindestagen Rapidler, früher gar mit einem Platz im „Block West“, der Tribüne der hartgesottenen Fan-Gruppen. Rapid wird als Mitgliederverein geführt, mit Fan-Vertretern führen die Klub-Bosse intensive Gespräche – auch über die Ausrichtung des Vereins. Wer wird Präsident, wer Trainer, wer muss gehen? Die Macht im Verein geht mittlerweile vom Fan aus. Andererseits: Bei Rapid war es zuletzt ziemlich egal, von wem die Macht ausgeht: Präsidenten, Sportdirektoren, Legenden, fordernde Fans – sie alle hatten vorhersehbare Flops zu verantworten.

Das Dogma wird zum Dilemma: Nur wer den Verein kenne, so sagt man bei Rapid, könne ihn verstehen, fühlen und ihm schlussendlich auch helfen. Das eigene Weltbild verhindert den Blick auf die restliche Welt.

Aber die Welt von Rapid, sie schrumpft zusehends: Mit einem Großkader wollte man heuer für die vielen Spiele gerüstet sein. Schnell wurden trotzdem Belastung und Müdigkeit beklagt – und so wie zuletzt beim Spiel in Linz (Endstand: 2:1 für den LASK) die hohen Temperaturen (dabei zeigte das Thermometer bloß 28 Grad an).

Das Meisterschaftsspiel gegen Hartberg wurde gar auf eigenen Wunsch verschoben, um gegen den FC Vaduz ausgeruht zu sein. Eine Woche wurde gerastet (und trainiert) – und schließlich 0:1 verloren. „Wir haben Fehler gemacht, die man auf internationalem Niveau nicht machen darf“, erklärte Trainer Feldhofer danach. Mit „internationalem Niveau“ meinte der Ex-Rapid-Held den Vorletzten der zweiten Schweizer Liga.

Ich schmeiße heute keinen Teppich mehr durchs Zimmer. Sondern sitze bloß noch erstaunt davor.