Manuela Dumfart, Mona Somm, Julia Oesch und Bettine Kampp (von links nach rechts)

Der Ritt der Walküren: Die Opfer von Erl

Sie standen als Opernsängerinnen auf der Bühne der Tiroler Festspiele in Erl. Dann traten sie vor den Vorhang und erzählten von Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen. Die Folgen waren dramatisch. profil traf die Sängerinnen in München, als sie auf ein Jahr im Zeichen von #MeToo zurückblickten.

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Anmerkung: Diese Geschichte erschien ursprünglich in der profil-Ausgabe 04/19.

In der Münchner Innenstadt bricht ein Samstagabend an. Durch die Vitrinen der Bars und Restaurants sind letzte Vorbereitungen zu beobachten. Beim Italiener wartet eine gedeckte Tafel auf eine geschlossene Gesellschaft. Im Café des Münchner Lenbachhauses ist ein DJ beim Soundcheck. Eine Gruppe Männer und Frauen schlendert eine Straße entlang, wirft ab und zu einen Blick in ein Lokal, überfliegt da und dort eine Speisekarte. Was sie sucht, ist im Viertel der Vergnügungssüchtigen schwer zu finden: eine ruhige Nische zum Reden.

An Aufregung haben die Opernsängerinnen, die an diesem Wochenende in München zusammenkommen, keinen Bedarf. Sie blicken auf ein Jahr im Zeichen von #MeToo zurück und wollen sich in Ruhe darüber austauschen, was hinter ihnen liegt und was sie vielleicht noch vor sich haben. Dafür reisen sie aus unterschiedlichen Richtungen an, und das durchaus auch im übertragenen Sinn. Jede von ihnen legte einen weiten und sehr persönlichen, inneren Weg zurück, um Teil jener Bewegung zu werden, die den Intendanten der Tiroler Festspiele Erl aus dem Amt hievte.

In dem Tiroler Dorf an der bayerischen Grenze fing es für alle an. Hier waren die Sängerinnen einander über den Weg gelaufen, hier hatten sie mitunter um dieselbe Rolle gerittert, bevor jede einzeln vor den Vorhang trat, um Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe anzuprangern, vor Gericht auszusagen, über verletzende Erfahrungen zu reden. Der Druck, der danach auf jeder von ihnen lastete, schweißte sie zusammen.

profil begleitete die unwahrscheinliche Runde, die einander in München erstmals persönlich traf. Wir protokollieren die inneren Konflikte der Frauen, die stürmischen Phasen der Zuversicht, der lähmenden Angst und der wütenden Verzweiflung, die ihr Leben nach dem Outing prägten. Sie gewährten tiefe Einblicke. Welchen Preis zahlen Frauen, wenn sie Vorwürfe von Gewalt und Missbrauch publik machen? Warum wagen sich nur wenige aus der Deckung? Die Entscheidung, den Mund aufzumachen, hatte in jedem Fall dramatische Folgen, bis hin zur gerichtlichen Klage. Und doch sagt heute keine, sie hätte besser geschwiegen.

Die oberösterreichische Sopranistin Manuela Dumfart gab vor Gericht einen sexuellen Übergriff zu Protokoll und machte ihre Geschichte in profil öffentlich.

Manuela Dumfart

„Die macht sich wichtig, sucht das Rampenlicht.“ Solche Kommentare hörte ich Leute sagen, als Hollywoodschauspielerinnen begannen, über Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe zu erzählen. Völlig irre war das für mich. Welche Frau will mit so etwas an die Öffentlichkeit? Als mich profil vor einem Jahr kontaktierte, stand fest: Mit mir gibt es keine Geschichte! Doch ich kam im Laufe der Monate an einen Scheideweg: Entweder ich helfe, die Wahrheit ans Licht zu bringen, oder ich lasse zu, dass sie untergeht, und mit ihr jener Mann, der den Stein ins Rollen brachte und dafür mit Klagen überzogen wurde. Mir war klar, dass meine Aussage Gewicht hat. Es ist kaum zu beschreiben, welche Ängste ich durchmachte. Am Ende geht es um Zivilcourage. Gibt man den Ängsten nach und schweigt, unterstützt man ein System, das Missbrauch in seinen zahllosen Spielarten begünstigt.

Ich war nach dem sexuellen Übergriff, den ich 2015 bei einem Workshop in Lucca, Italien, erlebte, zutiefst verletzt. Niemand aus dem Kollegenkreis half mir, danach wurde ich noch bloßgestellt. Lange Zeit träumte ich, dass mir etwas passiert und alle lachen. Ich versuchte, den Vorfall wegzustecken, allein damit fertigzuwerden. Ich stamme aus einer konservativen, eher stillen Familie und wuchs mit dem Credo auf, dass man besser keinen Staub aufwirbelt. Andererseits gab es bei uns kein Wegschauen, wenn Wahrheit und Gerechtigkeit auf dem Spiel standen, so wie in diesem Fall. Deshalb nahm ich meinen Mut zusammen und erzählte vor Gericht, was mir passiert ist. Aber ich wollte auf keinen Fall die Einzige bleiben. Es setzte mich unter Druck, in Medien von ,anonymen Vorwürfen‘ zu lesen. Die Öffentlichkeit verlangte Namen und Gesichter. Ich hatte vor Gericht ausgesagt, musste der Übergriff auch noch in der Zeitung stehen?

Und warum ich? Die Frage stellte ich mir wieder und wieder. Sie hing wie ein Damoklesschwert über mir. Ich habe es nicht so mit Worten. Es fällt mir leichter, mich über meine Kunst auszudrücken. Auf der Bühne bin ich sehr offen, sehr echt. Ich erlaube dem Publikum, in meine Seele zu sehen. Als Privatperson komme ich da nicht vor. Und nun sollte jeder erfahren, wie jemand meine intimsten Grenzen verletzte? Mir war klar, dass meine Welt danach nicht mehr wie vorher sein würde. Kürzlich sang ich ein Konzert im vollen Brucknerhaus in Linz. Ich dachte: Wissen jetzt alle, was passiert ist? Ich bin keine Träumerin, sondern denke im Vorhinein darüber nach, was alles schiefgehen kann. Um mich zu wappnen, male ich mir das hässlichste Bild. Ich wollte das Richtige tun und die Gegenwehr, die das nach sich ziehen würde, ertragen. Opfer, die stark traumatisiert sind, können an diesem Schritt zerbrechen. Doch dieses Nichtaussprechen, dieses Hinunterschlucken kann auch an einem nagen. Ich habe immer noch Angst. Aber ich sage mir: Wir sind alle Menschen, was soll schon passieren? Ich traue der Öffentlichkeit zu, dass sie genau aufpasst: Verantwortung haben nicht nur jene, die den Mund aufmachen, sondern auch jene, die hören, was gesagt wird.

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Das Treffen in München gäbe es nicht ohne eine berühmte Kollegin im Hintergrund. Die Mezzosopranistin Elisabeth Kulman hielt die Frauen zusammen, wenn sie im #MeToo-Strudel der Ereignisse auseinanderdrifteten, glättete Unstimmigkeiten und wies die Richtung. Ihre Stärke war auch zu spüren, als sich die Sängerinnen vergangenen Samstag schließlich in der schummrigen, mit Brokatpolstern ausgelegten Koje eines afghanischen Lokals niederließen. Kulman bleibt hinter den Kulissen. Die Scheinwerfer sollen auf den Betroffenen ruhen, die sie in manchen Momenten an die Wagners Walküren erinnern, die sie alle schon sangen: „Es gibt kein Instrument, das sensibler ist als die Stimme, sie ist der Ausdruck der Seele“, sagt sie: „Die meisten Menschen ahnen nicht, welche Stärke es braucht, um sich auf der Bühne zu öffnen, sein Innerstes zu zeigen, sich allem Kreuzfeuer auszusetzen. Das ist symbolisch in den Walküren sichtbar. Sie sind Kriegerinnen, die töten und die Männer für Wotan in die Götterburg Walhall schleppen, aber sie sind auch empathisch, schützen ihre Schwestern. Sie vereinen in sich männliche und weibliche Seiten.“

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Die Schweizer Sopranistin Mona Somm unterschrieb den offenen Brief der Künstlerinnen und kritisierte in einem ORF-Interview die Zustände in Erl.

Mona Somm

Ich erlebte unschöne Situationen mit Gustav Kuhn, aber ich fühlte mich nicht aufgefordert, mich zu äußern. Man hat Angst vor Konsequenzen, weil man seine Persönlichkeit kennt und sich in der Vergangenheit immer wieder einschüchtern ließ. Ich musste erst an den Punkt kommen, an dem das keine Rolle mehr spielte. Das war bei mir, als Gustav Kuhn, umringt von seinen Technikern, in das Gericht einzog. Das Bild machte etwas mit mir. In der folgenden Nacht schlief ich schlecht und wachte um drei Uhr morgens mit diesem Gefühl auf: Es reicht! Ich wusste, meine Geschichte würde das Rad nicht ins Rollen bringen. Aber ich wollte etwas tun. Vielmehr: Ich wollte nicht mehr nichts tun. Es war, als wäre eine Macht entzaubert worden und ich müsste keine Angst mehr haben. Als mein Name öffentlich wurde, fragte eine Bekannte: Ist das die Künstlerin, die wir kennen, die diesen Mann und sein Lebenswerk in den Boden versenken will? Die Künstlerin, die Erl alles verdankt? Als hätte ich selbst keinen Wert!

Natürlich frage ich mich manchmal, was noch alles auf uns zukommt. Wir sind alle am Kämpfen. Manchmal kehrt die Angst zurück, dann wieder die Zuversicht. Ich kenne ungeheuerliche Geschichten von anderen, an die ich nicht denken darf, weil sie nicht gesichert und bezeugt sind. Aber man denkt trotzdem daran. Was wir erlebt haben – das Fassen unter den Pulli und zwischen die Beine –, reicht wohl nicht. Die Aussicht, dass alle Vorwürfe verjährt sind und Gustav Kuhn ohne Strafe davonkommt, stimmt mich traurig. Er sollte dafür einstehen, was er an vielen Seelen verbrochen hat. Ich dachte anfangs, ich schaffe alles allein. Mit anderen Sängerinnen an einem Strang zu ziehen, konnte ich mir nicht vorstellen. Bettine Kampp und ich waren Konkurrentinnen ohne Anteilnahme aneinander, weil wir in Erl um unseren Platz rangen. Unser offener Brief veränderte meinen Blick. Plötzlich ging es um die Mühen und Verletzungen jeder Einzelnen, und ich schaute auf den Menschen, nicht mehr auf die Sängerin.

Inzwischen besserte sich die Lage in Erl, dank der anstrengenden Recherchen des Publizisten Markus Wilhelm. Das freut mich für alle, die noch dort sind. Vielleicht können sie nicht nachvollziehen, dass wir einen Dirigenten aus dem Amt hievten, der für sie nur großartig war. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe seine Küsse auf den Mund, auf das Dekolleté, den Griff hierhin und dorthin, lange genug heruntergespielt. „Warum bist du nicht ausgewichen?“, werde ich manchmal gefragt. Es ist quälend, zu denken: Ja, das hätte ich machen sollen. Ich gebe mir die Schuld. Und so geht es vielen Frauen. Sie sagen sich: Was ich erlebt habe, zählt nicht. Der wollte das gar nicht. Wer Musik oder Gesang macht, kommt vor dem Auftritt in einen tranceähnlichen Zustand. Das ist wie im Spitzensport. Man ist völlig offen, hat aber eine eingeschränkte Reaktion. Genau in so einem Moment, kurz vor einer Generalprobe, küsste Gustav Kuhn mich auf die Brust. Mein Therapeut sagt, zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich anders reagiert.

Ich rate Frauen in einer ähnlichen Lage, sich beraten zu lassen, weitere Betroffene zu suchen. Das eigene Umfeld ist manchmal keine Hilfe. Mein Vater lebt nicht mehr, aber ich weiß, er hätte mich gewarnt: Du wirst den Kürzeren ziehen, alles wird auf dich einstürzen. Mein Sohn war jeden Sommer in Erl; ich habe ihn stolz präsentiert; Gustav Kuhn sah ihn groß werden. Ihm musste ich erklären, dass Mami nicht mehr dorthin geht. Ich war ein Aushängeschild von Erl. Bei so jemandem heißt es schnell: Was reißt die den Mund auf, der ging es doch am besten. Wenn mir jemand kommt, dass es nicht um Rache geht, denke ich insgeheim: Okay, es geht nicht gerade um Rache, aber es geht um Gerechtigkeit! Mir ging es scheiße, anderen ging es scheiße, Gustav Kuhn aber schwimmt immer obenauf und stellt sich als unfehlbar hin. Ich stehe heute für mich ein. Das ist nicht immer leicht. Aber ich versuche, mich jedes Mal aufzurichten: Was gibt es zu verlieren? Die Wahrheit gewinnt ohnedies.

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Markus Wilhelm zögerte, sich der Runde anschließen. Vor einem Jahr trat der Tiroler Publizist auf dietiwag.org die Causa Erl wie eine Lawine los und gehört seither als der Unbekannte aus dem Ötztal zum Leben der Sängerinnen. „In unserer Branche wurde alles unter den Teppich gekehrt, nie wagte sich jemand von uns nach vorn, um gegen die schlimmen Zustände aufzutreten. Er hat den Mist auf den Teppich gelegt und gerufen: „Schaut hin und räumt das weg!,” sagt Elisabeth Kulman: „Er ist ein Held, auch wenn er es nicht hören mag.“ Eine Sängerin erhebt ein Glas Rotwein: „Auf den Mann, der für uns aufgestanden ist“, während Wilhelm leicht betreten in das orientalische Lammgericht schaut, das er sich bestellt hat.

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Bettine Kampp, Sopranistin, unterzeichnete den offenen Brief der Künstlerinnen aus Erl und sagte als Zeugin vor Gericht aus.

Betttine Kampp

Vor einigen Jahren vertraute ich Gustav Kuhn etwas an, über das ich lange mit niemandem sprechen konnte. Ich wurde im Alter von acht Jahren sexuell missbraucht, als ich meinen Bruder vom Kindergarten abholte. Es war niemand zugegen, der mich kannte. Als ich heulend nach Hause kam, war meine Mutter, die immer ein offenes Ohr hatte und heute noch die Seele unserer Familie ist, mit meiner Schwester beschäftigt – und dann war der Zeitpunkt zu reden um. Ich versuchte als Kind, allein mit meiner Angst und meiner Scham fertigzuwerden, musste mir aber irgendwann eingestehen, dass das nicht ging. Erst mit 30 weihte ich meine Eltern ein. Sie waren entsetzt. Es war keine Vergewaltigung im eigentlichen Sinn, aber so schlimm, dass es mein Verhältnis zu Männern nachhaltig prägte. Manchmal sagte Gustav Kuhn vor allen: „Ach, Bettine, jetzt kennen wir uns schon so lange, jetzt können wir doch auch einmal ein bisschen Sex miteinander haben.“ Ich fand das völlig daneben. Ständig ließ er den Psychologen heraushängen, stellte intime Fragen, bohrte nach, warum ich keinen Partner habe. Ich dachte, wenn ich ihm erzähle, was mir als Mädchen passiert ist, gibt er Ruhe.

Das war nicht der Fall. Vieles von dem, was ich auf dem Blog von Markus Wilhelm las, deckte sich mit meinen Erfahrungen. Ich habe lange den Mund gehalten, und es wäre einfach gewesen, weiter zu schweigen. Doch als jemand in einem Posting behauptete, dass man als Sängerin im ersten Fach nur reüssieren könne, wenn man dem Maestro zu Diensten war, wollte ich das nicht auf mir sitzen lassen: Ich sang in Erl die Elektra, stand als Brünnhilde auf der Bühne, erlebte künstlerische Höhen mit Gustav Kuhn. Es ist lange her, dass er es auch bei mir versuchte; das war in meinen Anfängen in Erl. Ich rechnete damit, dass er mich nicht mehr engagieren würde, nachdem ich mich verweigert hatte. Aber ich sang noch tolle Rollen bei ihm. Natürlich bin auch ich durch den Raster geflogen, weil er mich danach als besonders empfindlich hinstellte. Wie oft brüllte er mich an. Lief ich weinend aus einer Probe, verhöhnte er mich: „Zu der darf man ja gar nichts sagen.“ Der Widerspruch, dass er mir auf der Bühne die Isolde und die Brünnhilde zutraute und mich im richtigen Leben zum Hascherl degradierte, kümmerte ihn nicht. Eines Tages hörte er auf, mich zu grüßen.

Man kann nichts ungeschehen machen. Aber wenn man das Geschehene benennt und den Blick bereinigt und klar nach vorn richtet, hat man die Chance, etwas zu verändern. Was man verdrängt, bleibt als Ballast hängen. Es war ein einsamer Entschluss, den Brief der Sängerinnen zu unterzeichnen. Danach verweigerte ich sämtliche Interviews, auf keinen Fall wollte ich ins Fernsehen, wo jedes Augenrollen, jede Pause im Satz mit Bedeutung aufgeladen wird. Im Rückblick frage ich mich: Warum habe ich Gustav Kuhn so viel Macht über mein Leben eingeräumt? In der Kunst herrscht ein Geben und Nehmen. Doch selbst wenn er musikalisch ein Gott wäre, gäbe es keinen Grund, einen Mann in Schutz zu nehmen, der Frauen so schlecht behandelt. Man meint, man muss alles aushalten, um sich etwas zu beweisen. Ich hätte früher aus Erl weggehen sollen. Ich habe viel Zeit verschenkt.

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Christoph Ziermann vertritt in der Münchner Runde die Achse der Männer. Als es im Herbst des Vorjahres darum ging, den Sängerinnen aus Erl zur Seite zu springen, war der ehemalige Marketing-Leiter der Tiroler Festspiele der Erste, der seine Unterschrift unter einen offenen Brief setzte. Sieben Ex-Kollegen folgten seinem Beispiel. profil veröffentlichte das Schreiben als erstes Medium. Wie oft hatten Mitarbeiter in Erl ihm ihr Leid geklagt: „Sagt etwas! Macht etwas!“, habe er ihnen stets geantwortet. Wenn er heute ab und zu im Festspielhaus vorbeischaue, treffe er dort, „abgesehen von ein paar dekorativ platzierten Unterstützern, niemanden, der die alte Zeit zurückhaben will. Das Arbeitsklima ist besser, jeder hat seine Aufgabe, früher behielt Kuhn alle Fäden in der Hand und blockierte damit alle.“

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Julia Oesch, Mezzosopranistin, stand 1998 als Wagner’sche Urmutter in Erl auf der Bühne. Sie machte einen Übergriff publik, sagte vor Gericht aus und wurde von Gustav Kuhn geklagt.

Julia Oesch

Uns Kolleginnen, die wir uns hier erstmals leibhaftig sehen, verbinden Erfahrungen, über die wir früher nie geredet haben: schlimme Arbeitsbedingungen, Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe. Es war immer klar, dass vieles im Argen liegt, aber es wurde nicht thematisiert. Wobei Künstler unter sich immer solidarisch waren. Auf Auslandsengagements, wo jeder in seiner Hotelzelle und niemand zu Hause war, genoss ich es immer sehr, in großer Runde zu kochen, gemeinsam zu essen und ins Leben einzutauchen. Der Druck kam stets von oben. Man wurde gegeneinander ausgespielt.

Nach dem offenen Brief der Sängerinnen, den ich mitunterzeichnete, stand ein paar Tage lang das Telefon nicht still. Ich gab ein ORF-Interview und postete es auf Facebook. Die Reaktionen waren durchwegs positiv, mit wenigen Ausnahmen. Eine Bekannte fragte mich, wie ich dazu komme, diese schönen Festspiele anzuprangern, ich hätte davon doch unglaublich profitiert. Echte Unterstützung aber war selten, sieht man von den Likes auf Facebook und ein paar netten Kommentaren ab. Drei Kollegen meldeten sich und sprachen mir Mut zu: „Gut, dass du das machst.“ Ich würde das gerne weitergeben: Es ist noch nicht vorbei!

Gab es Momente, in denen ich dachte, ich hätte mir das alles sparen sollen? Ja, viele. 2018 war aus persönlichen Gründen ein schwieriges Jahr. Hätte ich das vorher geahnt, wer weiß, wie ich mich entschieden hätte. Ich bin die einzige der Frauen, die von Gustav Kuhn geklagt wurde. Nicht wegen des Übergriffs, der für mein Leben wirklich gravierend war. Er konnte sich wohl denken, dass ich darüber gesprochen habe und es Menschen gibt, die sich daran erinnern. Seine Anwälte stürzen sich aber darauf, dass ich in einem Interview sagte, ich habe nach dem Übergriff, gegen den ich mich mit aller Kraft wehrte, vorgesehene Rollen nicht bekommen.

Derzeit bin ich einfach nur auf dem Durchhaltemodus. Gustav Kuhn ist zwar kein künstlerischer Intendant mehr, aber rechtlich ist die Sache nicht ausgestanden. Es braucht weitere Frauen, die das Schweigen brechen und ihre Geschichten erzählen. Ich weiß, dass sie stattgefunden haben und schlimmer waren als meine. Warum stehen so wenige dafür auf, dass sich in unserer Branche nachhaltig etwas ändert? Meine Kinder singen als Solisten am Theater und können sich vorstellen, nach der Schule künstlerisch zu arbeiten. Ich möchte sie nicht in eine Welt entlassen, in der es noch so viel Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch gibt. Deshalb mache ich weiter.

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Sonntagnachmittag im Café der Städtischen Galerie im Münchner Lenbachhaus: Die Sängerinnen ziehen sich in einen Nebenraum zurück. Können Betroffene ihr Leid öffentlich machen, ohne erneut herausgezerrt zu werden, ohne sich zu blamieren? Operngesang ist wie Hochleistungssport, die Luft an der Spitze dünn, der Konkurrenzdruck enorm. Natürlich gibt es Solistinnen und Musiker, die es darauf anlegen, einen Intendanten zu verführen oder sich von der Macht eines Dirigenten sexuell angezogen fühlen. Charaktere wie Kuhn können daraus ihren Nutzen schlagen, Charaktere wie Elisabeth Kulman wollen das nicht mehr hinnehmen. Die Mezzosopranistin postiert sich vor einer weißen Wand, zückt ihr Handy und bittet um Ruhe. Dann beginnt sie zu filmen. Eine Sängerin nach der anderen. Eine Videobotschaft nach der anderen. Die Frauen zeigten anderen den Weg, sagt Kulman: „Größere, innere Freiheit gibt es nicht durch Verdrängung, man muss sich den Geschehnissen stellen.“ Sie weiß, wovon sie spricht. 2013 war sie im Servus-TV-Studio Gustav Kuhn und Staatsopern-Chef Ioan Holender gegenüber gesessen und hatte die Arbeitsbedingungen der Künstlerinnen und Künstler kritisiert. Um sexuelle Übergriffe ging es damals nicht. Ein Anwalt hatte im Vorfeld die roten Linien des Sagbaren gezogen. Trotzdem machte die Mezzosopranistin Kuhn nervös: „Bei den Proben danach hat er oft gesagt: ‚Das darf ich nicht mehr, sonst kommt die Kulman.‘“

Sie nimmt es als Kompliment.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges