Schule: Bildung im Corona-Wirrwarr – ein Bericht

Der Umgang der Schulen mit der Corona-Prävention bleibt holprig. Sebastian Hofer stolpert gurgelnd durchs Viruswirrwarr – und lernt dabei sehr viel fürs Leben.

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Das Schuljahr ist zwar erst vier Wochen alt, aber wir haben doch schon einiges gelernt. Über Quantenphysik und komplexe Mathematik zum Beispiel. Dabei sind die Kinder erst in der Volksschule. Neuerdings machen sie täglich, ziemlich genau um vier Uhr, das Doppelspaltexperiment. Es veranschaulicht den Welle-Teilchen-Dualismus und geht so: Wenn eine größere Gruppe isolierter Teilchen – also zum Beispiel die Schülerinnen mehrerer, verschiedener Volksschulklassen – gleichzeitig durch zweidirekt nebeneinander gelegene Öffnungen strömen, etwa die beiden Flügel eines Schultors, erscheinen sie auf der anderen Seite dieses Doppelspalts als Welle, konkret als Welle der Verunsicherung unter den auf ihre Kinder wartenden Eltern.

Das Experiment verbindet auf sehr lebensnahe Weise Relativitätstheorie und Unschärferelation und wirft fast schon metaphysische Fragen auf: Ist es wirklich sinnvoll, siebenjährige Kinder acht Stunden lang auf Biegen und Brechen voneinander zu isolieren, um sie dann, Rotznase an Rotznase, nach Hause zu schicken? Gelten innerhalb der Schule andere Naturgesetze als draußen? Und wenn ja: Welche? Immerhin, wir gehen nach dem Experiment zu Fuß nach Hause und müssen keine überfüllten Busse verwenden.In diesen kommt die Chaostheorie, konkret der Schmetterlingseffekt, zum Tragen, die zweite große Lehre des noch jungen Wintersemesters 2020/21 (Spezialfach nichtlineare Dynamik): Wenn in Hirschstetten ein Kind hustet, kann in Gänserndorf ein Job verloren gehen.

Anfang September, der Sommer war schon recht lang, die tägliche Infektionsstatistik dafür noch ein schöner Anblick, hatte uns ein Brief erreicht. Die MinisterInnen Faßmann und Aschbacher wünschten einen schönen Schulstart: „Nach einem ungewöhnlichen Sommer, der Ihnen hoffentlich auch Erholung gebracht hat, kehrt mit dem Start des neuen Schuljahres einweiteres Stück Normalität in den Alltag der Kinder und Jugendlichen zurück.“ Um diese Normalität zu gewährleisten, hatte man sich etwas überlegt, „klare Rahmenbedingungen und Hygienevorgaben für Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen“ erstellt und auch schon an die zuständigen Stellen übermittelt. Tatsächlich war schon am 17. August das „Covid-19-Hygiene- und Präventionshandbuch“ des Bildungsministeriums an die Schulen ergangen. Darin steht tatsächlich schwarz auf weiß: „Aufgrund der andauernden Covid-19-Pandemie…sind eine vorausschauende Planung sowie klar definierte Aufgaben und Verantwortlichkeiten von hoher Bedeutung, um einen möglichst reibungslosen Schulbetrieb gewährleisten zu können.“

Das war, theoretisch, sicher richtig. Aber auch ein frommer Wunsch. Praktisch muss nämlich alles, was sich ein Bildungsminister ausdenkt, auf Landesschulebene heruntergerechnet werden. Diese war aber zu dem Zeitpunkt noch mit der Austragung der nach den Schulschließungen des Frühjahrs notwendig gewordenen Sommerschule ausgelastet. Die vorausschauende Planung musste warten, zumTeil bis weit nachSchulbeginn. Am Ende der ersten Schulwoche zeigte sich der Wiener Bildungsdirektor Heinrich Himmer trotzdem optimistisch: „Bei 240.000 Schülerinnen und Schülern bzw. 27.000 Lehrkräften war klar, dass es nicht erst im November zuersten Fällen kommen wird.“

Die Fälle waren leider nicht das Problem, das Problem waren die Verdachtsfälle, auch wenn Himmer Grund zur Entspannung sah: „Von 100 Verdachtsfällen ist derzeit vielleicht einer positiv. Wenn wir bei jedem Verdachtsfall gleich die Schule sperren, würde es nicht funktionieren.“

Lernfortschritt drei (deutsche Sprache/Semantik): Nicht jeder Konjunktiv hält, was er verspricht. Es funktionierte in Wirklichkeit nämlich gar nicht gut. Himmer, zwei Wochen später, schon deutlich weniger entspannt: „Ehrlicherweise sind wir von dieser Situation nicht ausgegangen.“

Die Situation, in Ausschnitten und aus Übersichtlichkeitsgründen nur kurzgefasst: Die Verdachtsfälle nahmen überhand, Testergebnisse ließen ewig auf sich warten, Ansprechpartner waren nicht ansprechbar, Schulleitungen im Ausnahmezustand, Eltern verunsichert. Verordnungen blieben interpretationsbedürftig, lokale, bundesweite und schuleigene Corona-Ampelschaltungen widersprachen einander beharrlich. Die im „Hygienehandbuch“ des Ministeriums beschriebene Vorgangsweise war mit der Realität beim besten Willen nicht mehr vereinbar. Kinder, die Corona-Symptome zeigen, sollten nach dessen Vorgaben in der Schule isoliert und in Absprachemit der Gesundheitsbehörde getestet werden.

Nur: Weder die Gesundheitsbehörde noch die Testteams waren für die Schulen ohne Weiteres erreichbar, geschweige denn rasch genug vor Ort. Die Verlaufspläne zur Verdachtsfallermittlung wurden von Tag zu Tag undurchsichtiger. Die Verwirrung bestand auch behördenübergreifend. Dass die Wiener Bildungsdirektion die ihr unterstehenden Schulleitungen in der dritten Schulwoche dazu angeregt hatte, coronaverdächtige Kinder zur weiteren Abklärung nach Hause zu schicken („Vereinfachte Vorgehensweise für Bildungseinrichtungen in Bezug auf Covid-19“) und nicht, wie vom Bundesministerium geplant, jeden Fall gemeinsam mit der zuständigen Gesundheitsbehörde in der Schule zu klären, erfuhr die Bundesbehörde angeblich aus der Zeitung. Auch die meisten Eltern waren auf informelle Kanäle angewiesen.

Typischer Fall, genauso erlebt vom Vater einer achtjährigen Wiener Volksschülerin: „Am 11. September gab es zwei Verdachtsfälle in der Klasse meiner Tochter. Betroffen waren eine Schülerin und die Lehrerin. Der Unterricht wurde weitergeführt, die Lehrerin von einer Vertretung ersetzt. Dabei hatte die Lehrerin eindeutige Symptome, auch ihre ganze Familie war krank, was wir aber nicht offiziell, sondern zufällig aus dem Klassenchat erfahren haben. Erst nach einer Woche kam das Testergebnis der Schülerin: positiv. Fast alle Eltern der Klasse haben ihre Kinder dann übers Wochenende privat testen lassen. Am Ende waren elf Kinderund zwei Lehrerinnen positiv.

Das ist ein Cluster, von dem die Gesundheitsbehörden wahrscheinlich bis heute nichts wissen. Ich bin bass erstaunt, wie schlecht man vorbereitet sein kann.“ Das für seinen Bezirk zuständige Gesundheitsamt sei auch für fünf andere Bezirke zuständig, verfüge aber nur über eine zuständige Nebenstelle. Logische Folge: „Man landet halt in der Telefonzentrale.“

Es handelt sich nicht um ein Wiener Problem. Die Chaostheorie ist weltweit gültig, natürlich auch in Tirol. Die „Kronen Zeitung“ berichtete in der Vorwoche vom Fall einer Innsbrucker Schulklasse, in der Schüler aus unterschiedlichen Heimatorten sitzen, für die blöderweise unterschiedliche Bezirkshauptmannschaften zuständig sind, die wiederum ein recht unterschiedliches Risikomanagement pflegen, was im konkreten Corona-Fall dazu führte, dass eine Hälfte der Klasse in Quarantäne geschickt wurde und die andere Hälfte in die Schule. Aus der Steiermark wiederum ist der Fall einer Volksschule dokumentiert, die nach einem Verdachtsfall mehrere Klassen absonderte, bis sich auch dort herausstellte, dass Volksschüler anderen Regeln unterliegen als über Zehnjährige, woraufhin die Klassen wieder aufgesperrt wurden.

Am Ende der dritten Schulwoche ließ der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker wissen, dass er gewisse Kommunikationsabläufe „schärfen“ wolle, Bildungsminister Faßmann wünschte sich seinerseits „mehr Einheitlichkeit“ beidenbeteiligten Behörden. Schon wieder: fromme Wünsche. Der Föderalismus lässt sich, gerade in Schulfragen, nicht so einfach weglüften. Der Wiener Pflichtschullehrergewerkschafter Thomas Krebs ortet eine Art Multibehördenversagen. Krebs ist Realist, aber doch auch am Ende seiner Frustrationstoleranz. „Verordnungen und Erlässe werden zu nachtschlafender Zeit an die Schulen übermittelt, ohne konkrete Ansprechpersonen für allfällige Rückfragen mitzuteilen. Von grundlegenden Entscheidungen erfahren wir per Pressekonferenz. Die Schulen werden mit schwerwiegenden Entscheidungen alleingelassen. Die Gesundheitsbehörden sind für die Direktorinnen oft einfach nicht erreichbar, und die offiziellen Richtlinien sind leider realitätsfern. Natürlich kann ich mir am Schreibtisch eine Schule unter Laborbedingungen ausmalen. Aber in der Praxis einer Volksschule kann ich anhand von Sitzplänen beim besten Willen keine Kontaktpersonen K1 und K2 auseinanderdividieren.“

Nicht, dass das die Verwirrung beseitigenwürde. Die Grenzen zwischen engem (K1) undweniger engem (K2) Kontakt bleiben auch bei räumlich eindeutiger Zuweisung interpretationsbedürftig, der Umgang mit der jeweiligen Situation sowieso elastisch: Quarantäne schon bei verdächtigen Symptomen oder erst nach positivem Test? Zehn Tage ab Test oder ab Kontakt? Als Kompromiss: verkehrsbeschränkte Nichtquarantäne? Schnupfen als Schulausschlusskriterium?

Es wird Zeit für Turnunterricht: Der Spagat zwischen größtmöglicher Sicherheit und pädagogischer Normalität ist im Herbst 2020 wohl nicht mehr zu schaffen. Der Versuch sollte trotzdem Pflichtfach bleiben. Eltern wünschen sich offene Schulen, aber auch ein
verlässliches Notfallmanagement. Mit Notfällen geht man am besten gelassen um. Gelassenheit braucht Selbstvertrauen. Genau daran mangelt es freilich. Weil sich niemand mehr auskennt. Wie denn auch? Selbst in der „vereinfachten Vorgehensweise“ der Wiener Bildungsdirektion bleibt ein Rätsel, was den prinzipiellen Unterschied ausmacht zwischen „Personen mit typischen Symptomen“ und „konkreten Covid-19-Verdachtsfällen“ (hier wurde im Unterschied zur ersten Gruppe schon mit 1450 telefoniert) und „symptomatischen K1-Kontaktpersonen“ (hier sollte unbedingt noch mit 1450 telefoniert werden!), und warum es für jede dieser Gruppen unterschiedliche Vorgehensvorschriften geben muss.

Bleibt die Hoffnung, dass die jüngst angelaufenen Gurgel-und Schnelltests ein bisschen Klarheit in die Sache bringen. Andererseits haben wir in den vergangenen vier Schulwochen auch etwas fürs Leben gelernt. Nämlich dass man sich in Bezug auf schulische Normalität derzeit besser keine falschen Hoffnungen macht. Und, vielleicht noch wichtiger, dass man auf keinen Fall vergessen darf, dem Kind eine Weste mitzugeben. Denn bis zum Vorliegen einer besseren Lösung wird gelüftet. Und man will ja nicht, dass sich jemand bei der Kälte einen Schnupfen holt. Oder gar, Gott behüte, einen Husten.

Sebastian Hofer
Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.