Ich habe ein Gefühl

Lexikon der modernen Emotionen – Nummer 10: Indexvertrauen

Wie fühlen wir uns heute? Was spüren wir da eigentlich genau? Und ist das gut so? Eine Forschungsreise durch die Welt der zeitgemäßen Empfindungen.

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Gefühl Nr. 10: Indexvertrauen – das Gefühl, dass der ATX mir die Welt erklärt

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Die Lebensqualität meiner Arbeitstage bemisst sich jetzt schon seit geraumer Zeit in Prozentwerten. Plus 0,5 Prozent: ganz okay, man ist Schlimmeres gewöhnt. Plus 3 Prozent: fantastisch, aber Skepsis bleibt angebracht. Minus 0,7 Prozent: auch schon wurscht. Minus 4 Prozent: geh bitte!

Begonnen hat das ungefähr im März 2020. Der Zusammenhang war einfach nicht zu übersehen, selbst für Finanzdeppen wie mich: Welt schlittert in Pandemiekatastrophe, ATX rauscht in Keller, DAX und Dow Jones sind längst dort. Geht’s der Welt schlecht, geht’s der Börse schlecht. In den Monaten danach hat sich diese Wahrnehmung bestätigt, Corona und die Indizes machten im Parallelschwung Geschichte: sanfte Erholung über den Sommer, drastischer Einbruch mit dem ersten Herbsthusten, Euphorie bei Impfzulassung, Panik bei Mutationsentdeckung, und so weiter, und so fort.

Ich sortiere mich ein, justiere den Tag und betrachte dazu das Orakel von der Wall Street.

Nun funktioniert der Mensch – also zum Beispiel ich – ja sehr simpel. Entdeckt er erst einmal einen Zusammenhang, vertraut er ihm fortan blind. Darum beginnen meine Tage seit einigen Monaten mit dem Blick auf die Börsenkurse. Und es geht mir dabei eben nicht um Portfoliokontrolle, sondern schlicht um Stimmungskalibrierung: Ich sortiere mich ein, justiere den Tag und betrachte dazu das Orakel von der Wall Street. Zeigt die Kurve nach unten, kann ich auch gleich wieder ins Bett gehen. Bei Aufschwung dagegen: Spitzenstimmung!

Und nein, ganz so hirnrissig, wie es klingt, ist das wirklich nicht. Als Stimmungsbarometer haben Börsenkurse durchaus etwas für sich. Die Leute, die die Kurse bestimmen, machen das in aller Regel beruflich und haben dabei einiges Geld zu verlieren, werden also mutmaßlich mehr oder weniger gewissenhaft vorgehen, wenn sie beim Investieren die Zukunft voraussehen.

Wenige Zehntelprozent rauf oder runter können schon einen erheblichen emotionalen Effekt haben.

Ja, und dann kam der Krieg. ATX: frage nicht. DAX detto. Trotzdem spendet das Indexorakel seither, an guten Tagen, auch Hoffnung. Denn während in den Nachrichten – oder schlimmer noch: auf Twitter – die ukrainische Katastrophe durch und durch dunkelst ausgemalt wurde, neigten die Börsen bei näherer Betrachtung auch einmal zur Differenzierung. Das Orakel hat seine Feinheiten. Industrietitel im Keller: Das Gasthema wird uns wohl noch eine Zeit lang beschäftigen. Industrietitel stabil: Ölembargo wohl doch nicht so schlimm. Immo-Aktien auf Höhenflug: diese Teuerung wird kein Spaß. Bankaktien im Plus: Die Welt steht vielleicht doch noch ein paar Jahre. Wenige Zehntelprozent rauf oder runter können da schon einen erheblichen emotionalen Effekt haben. Das ist im Sinne der Fremdgesteuertheit sicher keine gute Entwicklung. Aber immer noch besser als Twitter zum Frühstück.

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Wie oft habe ich dieses Gefühl: täglich, so gegen 9:15 Uhr

Mit welchen Gefühlen ist es artverwandt: Marktgläubigkeit, Gottvertrauen

Wenn ich über dieses Gefühl ein Lied schreibe, trägt es folgenden Titel: Bulls & Bears & Me

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.