Potentaten statt Worte

Olympia: Heiße Nächte in Krasnaja Poljana

Olympia. Heiße Nächte in Krasnaja Poljana

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Klarer Fall von neidisch: Am Tag nach dem fantastischen, weltbewegenden, geschichtsbuchreifen Triumph des österreichischen Skirennfahrers Matthias Mayer im olympischen Abfahrtslauf von Sotschi hatte die „Süddeutsche Zeitung“ doch tatsächlich nichts Besseres zu tun, als denselben ins Lächerliche zu ziehen – beziehungsweise den österreichischen Umgang mit ebenjenem, unter besonderer Berücksichtigung der ORF-Berichterstattung zur Causa. Das war zwar verständlich (Deutschland hatte, anders als etwa Andorra oder Kasachstan, keinen eigenen Teilnehmer aufgeboten) und auch eine leichte Übung (es moderierten Oliver Polzer und Armin Assinger), aber bei der Wahrheit sollte man halt schon bleiben. „Es ist Sonntag, die Männer-Abfahrt der Olympischen Spiele steht an. Es ist für Österreich der größte vorstellbare Tag“, schrieb die „SZ“, und das ist natürlich nicht einmal halbrichtig. Der größte vorstellbare Tag ist für Österreich immer noch der, an dem Marcel Hirscher seine Ski anzieht, um eine fantastische, weltbewegende, geschichtsbuchreife Slalomfahrt zu absolvieren, aber das war in der ersten Woche von Sotschi ja leider noch nicht der Fall. Auf dem Programm standen erst einmal diverse Randsportarten wie Eishockey oder Skilanglauf. Klarer Fall von Luft nach oben.

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Obwohl: „Wenn man etwas über Stimmung lernen will, gibt es keinen besseren Ort als das Österreich-Haus am Abend eines Abfahrts-Olympiasieges.“ Auch diese Einschätzung stammt von den süddeutschen Kollegen, und in diesem Fall fällt es schon wesentlich schwerer, ihnen zu widersprechen, auch wenn es sich, genau genommen, um das „Austria Tirol Haus“ handelt, und nein: Das ist kein Fußballvereinslokal, sondern eine sehr beliebte Après-Ski-Hütte im russischen Bergdorf Rosa Khutor, in dem inländische und ausländische Potentaten wie Wladimir Putin oder Peter Schröcksnadel eine „ideale Plattform für Österreich als Wirtschaftsstandort, Tourismus-Destination und Feinkostladen“ (ÖOC-Präsident Karl Stoss) vorfinden. Und eine Tanzfläche obendrein, wie die Silbermedaillengewinnerin im Damen-Skisprungbewerb, Daniela Iraschko-Stolz, im Zuge eines gewagten Foxtrotts an der Hand von ÖSV-Sportdirektor Hans Pum feststellen musste. Den familienpolitisch laut eigenen Angaben eher konservativ veranlagten Austria-Tirol-Potentaten Peter Schröcksnadel verstörte Letzteres offenbar dermaßen, dass er spontan ein Verbot übertriebener Zurschaustellung von Feierlaune anregte.
Womit er wieder einmal gründlich missverstanden wurde. Denn während in der Wirtschafts-, Tourismus- und Feinkost-Skihütte auch weiterhin stur bis weit über die Sperrstunde hinaus getanzt wurde, brach die Stimmung im Raum Sotschi in den Tagen nach dem fantastischen usw. Abfahrtssieg des Matthias Mayer doch deutlich ein. Das lag überraschenderweise nicht ausschließlich an den Aktivitäten der IOC-Führung, die allerdings wirklich nichts unversucht ließ, die ortstypisch offenbar eher weniger herzlichen Verhältnisse (entsetzte ORF-Reporter berichteten gar von beharrlich nicht lächelnden Boutiquen-Verkäuferinnen im Raum Sotschi) noch weiter abzukühlen. Unter anderem empörte sich das Comité über die norwegischen Langlaufdamen, die nach dem Tod des Bruders einer Mannschaftskollegin mit Trauerflor zum Skiathlon-Bewerb angetreten waren, was laut IOC wirklich zu weit ging, weil: Sport muss Sport bleiben.

Man muss das verstehen. Das unkontrollierte Nebeneinander von immerhin 88 Nationen auf einem russischen Fleck ist politisch ohnehin heikel genug und bietet auch ohne Trauerflor genug Stoff für diplomatische Verwicklungen. Ein beliebiges Beispiel der vergangenen Woche: Die libanesische Slalomfahrerin Jackie Samoun zog sich den Zorn (und eine Verwarnung) ihres Sportministers Faisal Karami zu, weil sie sich von dem für Mexiko startenden österreichischen Prinzen und Fotografen Hubertus Hohenlohe für einen in Österreich, Deutschland und der Schweiz vertriebenen Sexy-Skilehrer-Kalender betont textilarm hatte fotografieren lassen (allerdings schon ein paar Jahre vor Sotschi). Dass der seinerzeit für Luxemburg startende österreichische Ex-Skifahrer Marc Girardelli im selben Kalender ebenfalls mit entblößtem Oberkörper zu sehen war, sorgte erstaunlicherweise kaum für internationale Verwerfungen. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz blieb den Spielen sicherheitshalber trotzdem fern: „Ich bin Außenminister, und als solcher bin ich nicht hingefahren.“

Auch FP-Chef Heinz-Christian Strache verzichtete als solcher kurzfristig auf einen Trip ans Schwarze Meer, er sei nämlich „zu einigen Bällen eingeladen“, ließ sich aber immerhin von Andreas Mölzer, Johann Gudenus und Johannes Hübner vertreten.

Kein Wunder also, dass viele Tribünen selbst bei großkalibrigen Veranstaltungen wie den Curling-Vorkämpfen halb leer blieben. Andere wurden – wie etwa jene im Zielbereich des Eiskanals von Krasnaja Poljana – schon vorausschauend so dimensioniert, dass auch 50 Fans ein volles Haus garantieren, aber die dortigen Wettkämpfe waren ja ohnehin bloß als olympischer Vorkampf zur deutschen Rodelmeisterschaft zu werten. Wo es wirklich darauf ankam, wurden freiwillige Helfer als freiwillige Platzhalter angeworben. Sicher ist sicher, denn: „Es fehlt ein bisschen an Enthusiasmus“, wie der Marketingchef des IOC, Gerhard Heiberg, der Weltpresse erklärte.

Außerdem fehlte es ein bisschen an Winter, weshalb die norwegischen Langlaufdamen bei den nachfolgenden Bewerben auch brav den Trauerflor ab- und das ärmellose Dress anlegten und den armen ORF-Reportern von Sotschi wenigstens die Sonne ins Gesicht gelächelt haben dürfte. Nicht in allen Sportarten erwiesen sich die deutlich zweistelligen Plusgrade der vergangenen Tage aber als echter Wettbewerbsvorteil. In der Schanzenanlage des olympischen „Extreme Park“ etwa entwickelte sich die aufgeweichte Unterlage zum Nährboden für eine bemerkenswerte Crash-Orgie im Finale des Ski-Slopestyle der Damen. Aber nicht einmal die Bilder von mit mehrfachen Schrauben schrecklich in den Sulz krachenden jungen Frauen konnten den „Kronen Zeitung“-Kolumnisten Hermann Maier davon abhalten, ein Bekenntnis abzulegen: „Ich werde Slopestyler.“ Im Gegenteil: Imponiert habe dem Herminator, der ja selbst über einschlägige Erfahrungen verfügt, vor allem „ihr Ehrgeiz, ihre Entschlossenheit zur Fehleinschätzung, wie sie mitunter viel zu langsam über viel zu große Schanzen sprangen, teilweise schrecklich zerschellten, sich das kaum anmerken ließen, sofern sie nicht liegend abtransportiert wurden – einfach unglaublich!“

Unglaublich auch die Fehleinschätzung, mit der das IOC die Slopestyle-Bewerbe überhaupt zu Olympia zugelassen hat. Man hätte wissen können, dass im Vergleich zu den gut gelaunten, sowohl modisch als auch lässigkeitsmäßig auf dem neuesten Stand befindlichen Trickskifahrern und -snowboardern traditionellere Disziplinen wie das Langlaufen mit Gewehr oder das Eislaufen mit Glitzerdress doch ein wenig altbacken, ja fast schon realsowjetisch anmuten. Olympia ist 2014 zwar ein bisschen jünger geworden, sieht dafür aber umso älter aus. Was ein echter Slopestyler ist, nimmt ja nicht einmal die iPod-Kopfhörer aus dem Ohr, wenn er in den Anlauf zum Triple Cork 1620 fährt. Vermutlich hört er sich dabei aber nicht den Live-Kommentar von Erwin Hujecek, dem Mann fürs Szenige im ORF-Sport, an. Wobei: Was spricht eigentlich dagegen, Romed Baumann beim nächsten Mal das akustische Hauruck von Armin Assinger gleich während der Fahrt ins Ohr zu speisen, oder Matthias Mayer die aufmunternden Worte seiner Mutter, die sich diesmal ja leider damit begnügen musste, Oliver Polzer mit vorgehaltenem Rosenkranz in seiner Sprecherkajüte heimzusuchen?

Von solchen irritierenden Neuerungen abgesehen verlief die erste Woche der Spiele von Sotschi aber zum Glück weitgehend nach bewährtem Muster. Es geschah, was immer geschieht: Am Anfang schwemmt es die Niederländer dank früh angesetzter Eisschnelllaufbewerbe im Medaillenspiegel ganz nach oben, dann taucht dort auf einmal, warum, weiß niemand so genau, Kanada auf, und am Ende steht Deutschland über allen.

Neidisch? Wir doch nicht!

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