Stadt-Land-Gefälle

Stadt-Land-Gefälle: Warum Großstadtmenschen einsamer sind

Warum Großstadtmenschen einsamer sind.

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Dass der urbane Mensch sich im Dickicht der Großstadt tendenziell verlorener fühlt als der Bewohner des ländlichen Raums, ist bekannt. Elizabeth T. Spira, ORF-Chronistin des österreichischen Alltags, hat bei ihren Reisen durch die heimische Seelenlandschaft aber noch etwas anderes beobachtet. Im „Miljö“, wie sie es augenzwinkernd nennt, also in einfacheren Verhältnissen im urbanen Raum, seien die Menschen viel weniger einsam als in der städtischen Mittelschicht: „Da existiert noch so was wie ein dörfliches Leben, da gibt es das Beisl ums Eck, wo man sich abends zusammenrottet, oder den Hof im Gemeindebau. Die Leute halten einfach mehr zusammen.“ In der Mittelschicht ortet sie eine Hemmung, sich Nähe-Defizite einzugestehen: „Da traut sich keiner zu sagen: Ich bin krank vor Einsamkeit. Aber tatsächlich ist es oft so.“

„Einsam, aber nie allein"

Der Benediktiner-Mönch Bruder Rainer verbrachte zwölf Jahre in der „Einsiedelei“ auf dem Palfen, einer seit 350 Jahren bestehenden, abgeschiedenen und nur mühsam zu erreichenden Eremitage ohne Strom und Wasser, die traditionsgemäß von einem einzigen Menschen bewohnt wird. Dort habe er sich „einsam, aber nie allein gefühlt: „Einsamkeit ist für Großstädter etwas ganz anderes als das, was ich dort oben empfunden habe.“ Das Ziel dieser Lebensform sei „der Weg nach innen zu einer Spiritualität“. Viele Menschen können mit „dem Gefühl, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein“, nicht oder nur schlecht umgehen, weil „sie zu sehr nach außen orientiert leben“. In der Einsiedelei wird über die Sommermonate auch Seelsorge betrieben. Quer durch alle Generationen kommen Hilfesuchende in die Abgeschiedenheit. Der aktuelle Einsiedler, Bruder Stan, ein aus Belgien stammender Diakon, der aus Hunderten Bewerbern vom Bürgermeister von Saalfelden ausgewählt wurde, rief profil trotz mehrmaligen Urgierens leider nicht zurück – was auch irgendwie seine Logik hat.

Weltweit gilt Tokio als die Hauptstadt der Einsamkeit; nirgendwo sonst leben so viele Singles. Von den rund 13,5 Millionen Einwohnern der Kernstadt lebt die Hälfte in Ein-Personen-Haushalten. Im traditionell heiratsfähigen Alter (18 bis 34 Jahre) sind 59 Prozent der Frauen allein und sogar 70 Prozent der Männer solo. Sogenannte „Hosts“, also Miet-Galane, die Frauen Komplimente und kleine Geschenke machen, erfreuen sich wachsender Beliebtheit.

Buchbare Kuschler

In Europa ist die einstige Arm-aber-sexy-Metropole Berlin inzwischen die Mega-City des Einzelgängertums: Immer mehr Zugezogene verlassen die Stadt, weil sie sich dort zu einsam fühlen. 300 Tote bleiben jährlich unentdeckt in ihren Wohnungen liegen; fast die Hälfte der Bewohner der Vier-Millionen-Stadt lebt allein. Der letzte Schrei im Kampf gegen die zwischenmenschliche Kälte sind sogenannte Kuschelpartys, auf denen Menschen ihre Schmuse- und Berührungsdefizite im Pulk abbauen können. Auch private Kuschler können gebucht werden; für circa 90 Euro die Stunde kann man sich so Nähe oder zumindest die Illusion von Nähe catern. In den USA ist das Bedürfnis nach Haptik inzwischen zum institutionalisierten Geschäftsmodell geworden: Dort kann man in sogenannten „Snuggle Houses“ in den Arm genommen werden.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort