TikTok-Tagebücher: Verlorene Stunden einer 19-Jährigen
Drei Mal versuchte unsere Autorin Haifaa schon, von TikTok wegzukommen. Drei Mal scheiterte sie. Was ist dran an dieser App, die unsere Jugend im Bann hält und zu Swipe-Zombies macht?
Die Sonne geht gleich unter. Ich sitze mit meinen Freundinnen Sara, Maria und Yasmin auf dem Balkon. Wir haben uns gerade einen Mojito-Mocktail mit einem Schuss Himbeersirup gemacht und genießen das schöne Wetter und die frische, endlich kühlere Luft. Sara hat ihr Handy in der Hand und bearbeitet ihre TikTok-Videos. Sie postet jeden Tag eigene Videos, eine echte TikTokerin eben. Nur ein paar Minuten später greift Maria zum Handy und beginnt zu scrollen. Plötzlich herrscht Stille, niemand spricht mehr. Es dauert keine 15 Minuten, und wir starren alle auf unsere Handybildschirme. Wir sitzen nebeneinander, aber jede ist in ihrer eigenen digitalen Welt versunken. Ich lege mein Handy weg und bemerke, wie komisch die Situation eigentlich ist, also sage ich: „Mädels, wollt ihr euch nicht unterhalten? Wir haben uns nicht versammelt, um die ganze Zeit ziellos durch TikTok zu scrollen!“ Auf meine Fragen reagieren meine Freundinnen wie ertappt. Beschämt legen sie ihre Handys zur Seite. Wir wissen, dass unser Verhalten eigentlich komisch ist. Warum aber hängen wir so an dieser App? „Um Zeit zu vertreiben.“, „Weil alle anderen auch auf TikTok sind.“ Und: „Es hat sich zu einer Gewohnheit entwickelt“, sagen Sara, Maria und Yasmin.
Wie mir und meinen Freundinnen geht es vielen jungen Menschen in Österreich. Diese Tatsache beruhigt mich ein bisschen. Gleichzeitig macht es mir Sorgen. Ich habe das Gefühl, wir verrotten am Handy und verschwenden wertvolle Zeit. TikTok ist eine Social-Media-Plattform, auf der kurze Videos erstellt, angesehen und geteilt werden können. Die App wurde 2016 von dem chinesischen Unternehmen ByteDance entwickelt. Rund zweieinhalb Millionen User und Userinnen hat TikTok in Österreich, die meisten davon sind sehr jung. Laut dem „Jugend-Internet-Monitor 2025“ der Plattform Safer Internet nutzen 72 Prozent der heimischen Jugendlichen dieses soziale Netzwerk. Und wir verbringen im Schnitt 31 Stunden und 31 Minuten im Monat damit, wie eine Auswertung des Onlinemarketing-Unternehmens socialmania zeigt. Es ist jedenfalls jene Social-Media-App, auf der wir am meisten Zeit verbringen.
Zeit, in der wir für die Schule lernen könnten. Oder einfach miteinander sprechen, statt nebeneinander zu swipen. Aber warum ist es so schwer, vom TikTok-Konsum wegzukommen? Drei Mal habe ich die App schon deinstalliert. Und drei Mal bin ich wieder zurückgekommen.
Das letzte Mal habe ich TikTok im Herbst 2024 gelöscht. Ich habe meine Bildschirmzeit analysiert und sie möglichst niedrig gehalten, mein Display auf Schwarz-Weiß gestellt, um davon möglichst wenig abgelenkt zu werden. An normalen Schultagen habe ich das Handy in meiner Schultasche gelassen und im Unterricht ganz viel aufgepasst. Dabei sind mir Dinge aufgefallen, die mir sonst entgangen sind. Die Hälfte meiner Klassenkameraden klebt auch während der Unterrichtsstunden permanent an ihren Smartphones. Während ich plötzlich viel mehr Zeit zur Verfügung hatte. Ich habe gelernt, allein meine Freizeit zu verbringen, ohne Ablenkung. Meine Gedanken wurden immer klarer, und ich konnte mich wieder länger konzentrieren. Ich habe eine innerliche Ruhe in mir gespürt. Bis April ging das, dann wurde ich bei einer Klassenfahrt rückfällig.
"Der Algorithmus weiß genau, was ich will. Es fühlt sich an, als wäre die ganze Welt reich und auf Urlaub, und ich sitze hier in Wien in meinem Zimmer. Ich vergleiche mein Leben mit dem der anderen und fühle mich armselig."
Samstag, 12. Juli - Swipen durch die Nacht
Ich liege im Bett und swipe durch meine TikTok-Foryou-Page. Ich scrolle endlos durch verschiedene Inhalte, die ich nach ein paar Minuten wieder vergessen habe. Die Plattform bietet mir Inspiration für stylishe Outfits, Reiseziele, Kochrezepte, Food-Spots , Make-up-Tipps, Workout-Pläne und vieles mehr. Ich schaue mir gerade Videos von Sommernächten, kalten Cocktails, Stränden und schönen Outfits an. Der Algorithmus weiß genau, was ich will. Es fühlt sich an, als wäre die ganze Welt reich und auf Urlaub, und ich sitze hier in Wien in meinem Zimmer. Ich vergleiche mein Leben mit dem der anderen und fühle mich armselig. Dabei vergesse ich, wie gut es mir eigentlich geht.
Rüdiger Maas ist ein deutscher Psychologe und Generationenforscher. „TikTok ist darauf ausgelegt, den Nutzern ständig einen Dopamin-Rausch zu bieten. Der Algorithmus zeigt vorwiegend Inhalte, die den bisherigen Interessen und Interaktionen entsprechen“, sagt Maas. Er erforscht seit Jahren das Social-Media-Verhalten von Jugendlichen und hat zuletzt untersucht, wie TikTok das Wahlverhalten von jungen Menschen beeinflusst und wie es Jugendliche dazu bringt, immer noch mehr Zeit mit der App zu verbringen.
Wir haben Deutschunterricht. „‚Die Leiden des jungen Werther‘ ist ein Briefroman von Johann Wolfgang von Goethe und eignet sich gut, um persönliche … Hört ihr eigentlich noch zu? Gebt jetzt endlich das Handy weg! Eure Leistungen sind deswegen so schwach, weil ihr stundenlang auf TikTok seid, ihr lest kaum Bücher oder Zeitungen. Wie wollt ihr euch sprachlich entwickeln?“ Die Worte meiner Deutschprofessorin sitzen. Sie hat leider absolut recht. Sie war dabei, uns Wissen über ein historisches Werk aus der Literatur zu vermitteln, während die Hälfte meiner Klasse auf ihre Bildschirme starrt. Zum Glück bin ich gerade auf TikTok-Detox und fühle mich richtig gut. Alles Junkies, außer mir!
„Das ist so, als würde man dem Kind eine Wodkaflasche hinstellen.“
Rüdiger Maas, Psychologe und Generationenforscher
wenn Kinder zu viel TikTok konsumieren
Derzeit diskutiert die heimische Politik über ein Tiktok-Verbot für Jugendliche bis 15 Jahren. Auch auf EU-Ebene sind Einschränkungen der App ein Thema. „Es ist ein großes Problem, dass soziale Medien bewusst so gestaltet werden, dass sie süchtig machen“, sagte die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD). Eigentlich ist TikTok jetzt schon nichts für Kinder. Ein eigenes Profil darf man erst ab 13 Jahren anlegen, und bis zur Volljährigkeit braucht man außerdem die Zustimmung der Eltern – zumindest theoretisch. In der Praxis ist es sehr allerdings einfach, diese Vorschriften zu umgehen. Geht es nach der Regierung, dann soll es in Zukunft nicht nur ein TikTok-Verbot für unter 15-Jährige geben. Vor dem Schlafengehen sollten Jugendlichen unter 16 Jahren von TikTok nur mehr Meditationsübungen ausgespielt werden, und ab 22 Uhr wird die App gesperrt. Justizministerin Anna Sporrer sagt in einem Interview mit profil, dass das Verbot nur „eine Überschrift“ sei. Viel wichtiger sei die Führung eines breiten gesellschaftlichen Diskurses, um die Kinder nicht zu verlieren.
Der Psychologe Maas, der auch wissenschaftlicher Beirat in der deutschen Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen ist, hält das für unbedingt notwendig. „Die Plattform braucht strenge Richtlinien. Und soziale Netzwerke sollten Teil des Lehrplans werden. Zum Beispiel, indem man in Workshops Social- Media-Algorithmen und Bespielung bespricht.“ Er nimmt auch die Eltern in die Pflicht, die ihren Kindern sehr früh Smartphones mit Internetzugang kaufen: „Das ist so, als würde man dem Kind eine Wodkaflasche hinstellen.“
Freitag, 11. Juli - Im Tunnel
Ich sitze in der U-Bahn und scrolle wieder mal durch TikTok. „So baust du am effektivsten Muskeln auf …“ Swipe. „Perfekte Brunchlocations in Wien …“ Swipe. „Influencerin fliegt nach Dubai …“ Swipe. Das ganze Swipen stresst mich und macht mich müde. Nachdem ich ausgestiegen bin, muss ich mir richtig Mühe geben, nicht alles sofort wieder zu vergessen.
"Das ganze Swipen stresst mich und macht mich müde. Nachdem ich ausgestiegen bin, muss ich mir richtig Mühe geben, nicht alles sofort wieder zu vergessen."
TikTok stammt aus China. Dort sieht die App aber ganz anders aus als in den westlichen Ländern. Die Inhalte sind stärker auf „förderliche“ Themen ausgerichtet, wie Lerninhalte, Wissenschaft oder traditionelle Kultur. Der Algorithmus funktioniert dort auch ganz anders und ist streng reguliert. Kinder unter 14 Jahren können die App überhaupt nur 40 Minuten pro Tag nutzen und auch nur zu bestimmten Zeiten. Und wir in Europa kriegen den ganzen Brainrot-Content.
Farah Denno ist 18 Jahre alt und Landesschulsprecherin in Wien. Ich treffe sie in einer großen Buchhandlung auf der Wiener Mariahilfer Straße, während sie sich ein Buch von ihrer Lieblingsinfluencerin kauft. Wie passend. Sie verbringt drei bis vier Stunden am Tag auf der App und veröffentlicht auch eigene Beiträge. „Ich könnte zum Beispiel mehr lesen, mehr lernen oder mehr Zeit mit meinen Freunden verbringen“, sagt sie. Stattdessen verliert sie sich immer wieder, wie so viele von uns, in endlosen Swipe-Schleifen. Auch sie hat versucht, von der App loszukommen. Das hat genau eine Woche lang funktioniert. Dabei tat ihr das, was sie dort sah, psychisch nicht gut, wie sie selbst sagt. Früher wollte jeder einen Kim-K-Körper (üppige Kurven wie US-Reality-Star Kim Kardashian, Anm.). Das ist nun Geschichte, denn aktuell trendet die „Heroin Chic“-Figur: schlank, dünn, magersüchtig. „Solche Körper die ganze Zeit zu sehen, hat mir wirklich nicht gutgetan“, sagt Farah. Aber mittlerweile sei #Realtalk im Trend, bei dem viele Influencer öffentlich über ihre Schönheit-OPs und Unsicherheiten sprechen. Dadurch fühle sie sich viel wohler. Aber auch hier bestimmt der Algorithmus über ihr Wohlbefinden.
Donnerstag, 17. Juli - Zeit für einen Neustart
Das ist mein letzter TikTok-Tagebucheintrag. Ich habe beschlossen, die App wieder zu löschen. Es ist Zeit, meinen Fokus auf mich selbst zu richten. Ich schnappe mir meine Laufschuhe, und keine App wird mir sagen, wohin ich joggen soll. Und dann wartet da noch ein Buch auf meinem Bücherregal, das schon länger dort steht. Wünscht mir Glück!
Transparenzhinweis: Die Autorin ist Schülerin an der BHAK Wien 10 und war Teil des Podcast-Projekts „profil Business-Klasse“. Im Zuge dessen absolviert sie aktuell ein Praktikum in der profil-Redaktion. Der Podcast wurde gefördert von der „Wirtschaftsagentur Wien. Ein Fonds der Stadt Wien“ und in redaktioneller Unabhängigkeit realisiert.