Stefan Grissemann

Stefan Grissemann Im stillen Königreich

Im stillen Königreich

Drucken

Schriftgröße

Es ist bekannt, dass Viennale-Chef Hans Hurch gern moralisiert. Dagegen gäbe es gar nicht viel zu sagen, wenn er in dieser Hinsicht den Bogen nicht gerade derart weit überspannt hätte wie dieser Tage. Hurchs Versuche, sein eigenes Festival zu definieren, klingen nämlich inzwischen schon wie Kampfparolen: „Die Viennale dient im Zweifelsfall nichts und niemandem“, erklärt er in den Unterlagen zur Festivalprogramm-Pressekonferenz allen Ernstes, „auch nicht den eigenen Interessen und Vorteilen. Sie ist nichts und niemandem verpflichtet. Allein der Sache.“ Welcher Sache? Der Präsentation und Reflexion sehenswerter Filme, oder? Und damit wäre man „nichts und niemandem“ verpflichtet? Weder den Kinogängern noch der kultursubventionierenden Öffentlichkeit? Niemandem?

Was soll das heißen? Die Viennale ist kein Königreich, sondern eine Kulturinstitution, also durchaus auch ein Kunst-Dienstleistungsbetrieb. Sie hat so etwas wie einen Bildungsauftrag, setzt dem schmalen Kino-Mainstream demonstrativ die Filmkunst entgegen. Sie muss also vieles leisten – und sie tut das in vielerlei Hinsicht auch, seit Jahrzehnten schon. Warum also sieht sich Hans Hurch genötigt, so vehement zu betonen, er sei frei von allen Zwängen, habe niemandem Rechenschaft abzulegen?

Der Mini-Skandal um die Nichtpräsenz der neuen Filme Ulrich Seidls, der den Eindruck hatte, der Viennale fehle leider jeder Respekt vor seiner Arbeit, ist nur ein Symptom. Hurch ließ dazu explizit verlauten, dass er Seidls Rückzug zwar bedaure, sich aber „die Möglichkeiten einer freien Programmgestaltung“ nicht nehmen lassen könne. Auf zwei der entscheidenden (und international strahlkräftigsten) heimischen Spielfilme dieses Jahres lieber zu verzichten, als sie auf einen anderen als den vorab fixierten Österreich-Programmplatz zu setzen ist jedoch eine denkwürdige Entscheidung. Sie zeugt von einer notdürftig als „Autonomie“ kaschierten Unbeweglichkeit.

Wenn die in dieser Woche eröffnende 50. Viennale nun vor allem Déjà-vu-Erlebnisse produziert, so hat das gute Gründe. Abweichungen von den guten alten Pfaden sind Hurchs Sache nicht, er legt seit seinem Festivalantritt 1997 Wert auf Beständigkeit, politische Integrität und Tradition. Der diesjährige Eröffnungsfilm – die US-Produktion „Argo“ – erfüllt alle Kriterien des typischen Viennale-Openers: mehrheitsfähig, risikoarm, starbesetzt, thematisch aktuell. In den Tagen danach werden, ebenfalls wie stets, große alte Kino-Haudegen geehrt: Peter Kubelka, Michael Caine und Wolf Suschitzky, um nur die bedeutendsten zu nennen.

Aber die hehren Kunst- und Moralansprüche, die Hurch an sich und sein Festival stellt, stehen in immer heftigerem Widerspruch zu dem Überdruck an Marketingaufwand und der Gier nach Synergieeffekten, die mit unzähligen Medienpartnerschaften, Nonstop-Partys, Plastiktaschen, DVD-Editionen und anderen Merchandising-Produkten besiegelt werden. Und die Aussicht, endlich auf über 100.000 Besucher zu kommen, wie Hans Hurch, sonst alles andere als ein Freund der Quote, das unlängst formuliert hat, ist für ein der Kunst und nichts als der Kunst verpflichtetes Festival auch kein allzu würdiges Ziel.

Mit dem selbstverordneten Jubiläumsprogramm „50 Jahre – 50 Projekte“ hat sich die Viennale ebenfalls keinen Gefallen getan. Etwa die Hälfte der 50 Ereignisse, die man da zusammentrug, sind nämlich der Rede nicht wert: Wer braucht eine Viennale-Sonderbriefmarke? Wer das Viennale-Speiseeis, die Smartphone-App zum Broschürenlesen oder das Viennale-Logo auf einem zwischen Salzburg und Wien pendelnden ÖBB-Intercity-Zug? Sogar die alte Viennale-Tasche läuft da bereits als eigenes „Projekt“. Und damit man am Ende wirklich auf 50 kommt, müssen noch vier, fünf Programmpunkte, wie sie dieses Festival jedes Jahr einplant, kurzerhand als Special deklariert werden.

Um nicht missverstanden zu werden: Entdeckungen wird man bei der Viennale natürlich auch 2012 machen können, sogar zuhauf – in der Schiene „Five Women“ etwa Arbeiten von Mati Diop, Coleen Fitzgibbon und Narcisa Hirsch, zudem die Werke des Portugiesen Manuel Mozos und jene des italienischen Visionärs Alberto Grifi. Es ist somit schön, dass es die Viennale gibt, weil sie seit jeher mit Sinn für ästhetisch raffinierte Kinoarbeit programmiert wird, weil sie vieles möglich macht, was sonst in Wien nicht möglich wäre, und weil ihre Mitarbeiter es verstehen, eine Atmosphäre der Kreativität und Weltläufigkeit herzustellen. Aber es ist auch nicht zu leugnen: So war das schon 1994. Und 2002. Die Viennale steht still.

[email protected]