Vom Ende der Ideologie – und warum das keine gute Nachricht ist
Im zeitgenössischen politischen Jargon haben Unternehmen, wenn sie ihre Verkaufsstrategien symbolisch aufpolieren wollen, eine „Philosophie“, politische Parteien, die einen bestimmten Zielhorizont definieren, hingegen eine „Ideologie“. Die Aufwertung von Marketing als Philosophie (und die damit verbundene Abwertung der Philosophie) und die Abwertung der politischen Auseinandersetzung im Sinne definierter Ziele und Überzeugungen als Ideologie trägt aus verschiedenen Gründen zur Verrohung des Denkens bei, indem sie Politik und Geschäft rhetorisch vermengt. Sie leistet dem unheilvollen Typus des Machers und Geschäftsmanns in der Politik Vorschub, der tut, „was notwendig ist“.
Ein Ende ohne Ende
Die These vom Ende der Ideologie war seit den 1960er-Jahren einer der besonders meisterhaften Schachzüge der liberalen Ideologie. Man konnte sich selbst als pragmatische Notwendigkeit präsentieren, während strukturelle Kritik an Formen sozialer Ungleichheit, militärischen Interventionen oder der Marginalisierung von Minderheiten als „Ideologie“ diffamiert werden konnte. Sozialwissenschaftliche Debatten über den Begriff der Ideologie haben gerade das ins Zentrum ihrer Kritik gerückt. Der Philosoph Herbert Schnädelbach konnte vor diesem Hintergrund formulieren: „Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart.“ So gesehen war das sogenannte Ende der Ideologie, insofern damit auch ein Ende der gesellschaftlichen Fantasie einherging, keineswegs unproblematisch und, vor allem, kein Ende der Ideologie.
Wer in nationalem Interesse, zur Rohstoffsicherung oder Entfaltung geopolitischer Schlüsselpositionen Interventionskriege startet, tut gut daran, eine Ideologie mitzubringen, die allgemein verbindliche Normen zumindest scheinhaft bedient. Das ist eine Frage des politischen Realismus.
Im Horizont heutiger Politik entsteht die Möglichkeit vom Ende der Ideologie von Neuem – allerdings in anderer Hinsicht. Mit dem Begriff der Ideologie verbindet sich auch das Vermögen, durch umfassende Narrative eine Überzeugungskraft zu entfalten, die einen partikularen Interessenshorizont zu verallgemeinern in der Lage ist.
Wie legitimiert man einen Krieg?
Wer in nationalem Interesse, zur Rohstoffsicherung oder Entfaltung geopolitischer Schlüsselpositionen Interventionskriege startet, tut gut daran, eine Ideologie mitzubringen, die allgemein verbindliche Normen zumindest scheinhaft bedient. Das ist eine Frage des politischen Realismus. Diese strategische Notwendigkeit, einen politischen Konsens auf dem Feld der Ideologie zu erzwingen, erzeugt auch einen moralischen Überschuss: Und wenn man sich auch nur zum Schein an moralisches Regelwerk hält, so setzt man damit doch zugleich den Schein verbindlicher Regelsysteme. Im Falle der russischen Aggression in der Ukraine ist die Verlogenheit der Legitimationsdiskurse gut aufgearbeitet und kaum zu bestreiten. Im Westen stehen verbindliche internationale Rechtsprinzipien, die sogenannte regelbasierte Außenpolitik, allerdings auch nicht sehr hoch im Kurs, wie deutlich wird, wenn man den Kontext des russischen Angriffskrieges verlässt.
Wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze formuliert hat, ist in der Zwickmühle zwischen Heuchelei und Zynismus die Heuchelei immer noch die bessere Alternative, eben weil sie Standards etabliert, an denen ein Verhalten jeweils auch zu messen ist.
Das ist philosophisch interessant. Wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze formuliert hat, ist in der Zwickmühle zwischen Heuchelei und Zynismus die Heuchelei immer noch die bessere Alternative, eben weil sie Standards etabliert, an denen ein Verhalten jeweils auch zu messen ist. Der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy und dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek zufolge ist mit den Kriegsverbrechen in Gaza, die von allen relevanten humanitären und Menschenrechtsorganisationen (Amnesty International, B’Tselem, ECCHR, Human Rights Watch, Médecins Sans Frontières, Physicians for Human Rights Israel etc.), dem jüngsten UN-Bericht sowie israelischen Genozidforschern wie Omer Bartov und Amos Goldberg als Genozid klassifiziert werden, mit ihrer Duldung und Unterstützung im transatlantischen Machtblock und mit der sie begleitenden Rhetorik von Vertreibung und Vernichtung genau dieses Terrain verlassen worden. Roy spricht aus postkolonialer Perspektive davon, dass die moralische Architektur des westlichen Liberalismus zwar „immer heuchlerisch war. Aber selbst das bot eine Art Schutzraum. Dieser Schutz verschwindet vor unseren Augen.“