Ich habe ein Gefühl

Lexikon der modernen Emotionen - Teil 1: Verpuppung

Wie fühlen wir uns heute? Was spüren wir da eigentlich genau? Und ist das gut so? Sebastian Hofer erkundet die Welt der zeitgemäßen Emotionen.

Drucken

Schriftgröße

_____________________

Gefühl Nr 1: Die Verpuppung - Das Gefühl des Voneinander-Weggepacktseins

_____________________

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie leise die Welt in den vergangenen Wochen geworden ist, vor allem die Welt in den öffentlichen Verkehrsmitteln? Und ich fürchte, es liegt nicht nur an den Schutzmasken und Smartphones oder daran, dass gerade so wenig italienische Touristen im Land sind. Sondern daran, dass wir vorsichtig geworden sind miteinander, dass wir uns lieber nicht äußern, sondern uns versponnen haben – in einen Kokon verpuppt, sicherheitshalber, gegen das dauernde Auch-das-Noch.

Was beschäftigt uns wirklich, in diesen Tagen Anfang 2022? Es sind, in erster Linie, Zahlen und Schicksale. Die Zahlen drehen sich um Infektionsraten und Kriegsopferstatistiken; die Schicksale, die zu diesen Statistiken gehören oder aus ihnen erwachsen, sind uns mal näher, mal ferner. Beide aber erzeugen Gefühle in uns. Nicht alle davon haben direkt mit Pandemie oder Krieg zu tun, viele von ihnen aber doch einen gewissen Zusammenhang. Einige wollen wir in dieser neuen Serie erkunden.

Diesmal soll es also um die Watte zwischen den Menschen gehen, den weichen Schutzwall, den wir um uns errichtet haben. Sie war nicht ganz plötzlich da, aber plötzlich war sie nicht mehr zu ignorieren. Auf den ersten Blick erscheint ihr Einbau in den Alltag nachvollziehbar und vernünftig. Man fühlt sich, nach zwei Jahren Corona und drei Wochen Ukrainekrieg, überempfindlich und wattebedürftig. Man erträgt keine schlechten Nachrichten mehr und, wenn man ehrlich ist, auch keine schlechte Stimmung, also beginnt man zu vermeiden. Zunächst einmal die Nachrichten, bald aber auch die anderen Menschen. Bei denen weiß man ja, im Unterschied zu einem selbst, nie. Ein falsches Wort, ein schiefer Gedanke, und schon ist der Tag im Eimer. Also lieber gar kein Wort, keine harten Tatsachen, sondern: weiche. Watte. Stille.

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, in der man sich – lauthals! – beklagte über die Zu-Laut-Quatscher und Dauertelefonierer in den Zügen und Straßenbahnen? Über die Menschen, die einen ungefragt mit ihren Sorgen, ihrem Tratsch und ihren Gescheitheiten behelligten? Ach hätten wir sie doch wieder! Denn leider verhindert der soziale Dämmstoff nicht nur emotionale Verletzungen, sondern auch allerhand Nützliches. Und zwar nicht nur, dass wir einander zwanglos zuhören, uns austauschen, und sei es über Blödheiten. Sondern auch, dass wir uns überhaupt bewegen. Dass wir uns gegenseitig sagen, was wir für richtig halten, und dass wir es einfach tun. Der Kokon, in den wir uns versponnen haben, dämpft nicht nur Stimmen, sondern auch Handlungen. Und auf einmal ist jeder Mensch eine Insel. Michael Haneke hat einmal von der „Vergletscherung der Gefühle“ gesprochen. Die Verpuppung, von der ich hier rede, hat ähnliche Ursachen, ist aber möglicherweise noch gefährlicher. Weil sie ja auch so angenehm ist, so schön ruhig, so weich. Gletscher schmelzen, Watte bleibt bestehen. Bitte sprechen Sie lauter!

______________________

Wie oft habe ich dieses Gefühl?
Immer wenn ich in der U-Bahn sitze (also ungefähr zwei- bis dreimal täglich)
Mit welchen Gefühlen ist es artverwandt
Sozialphobie, Antriebslosigkeit
Wenn ich über dieses Gefühl ein Lied schreibe, trägt es folgenden Titel? 
Let me be
Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.