Ich habe ein Gefühl

Lexikon der modernen Emotionen – Nummer 11: Jäh-Angst

Wie fühlen wir uns heute? Was spüren wir da eigentlich genau? Und ist das gut so? Eine Forschungsreise durch die Welt der zeitgemäßen Empfindungen.

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Gefühl Nr. 11: Jäh-Angst– das Gefühl, dass man leider jederzeit mit allem rechnen muss

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Neulich in meinem Wohnbezirk: Ein Mann wird verletzt. Abends, im Park. Ein Unbekannter hat eine Pistole gezogen und auf ihn geschossen, mehrfach, einfach so. Ein paar Tage später stellt sich zwar heraus, dass der Unbekannte dem Opfer womöglich doch nicht so ganz unbekannt war, wie man anfangs geglaubt hatte, was die Angelegenheit zwar auch nicht besser macht, aber den Schock der Sinnlosigkeit immerhin ein bisschen abmildert. Allerdings: Man hätte es auch so geglaubt. Also dass es Leute gibt, die so etwas machen: grundlose, plötzliche Gewalt.

Man rechnet inzwischen ja schon fast damit, dass die Menschen unberechenbar geworden sind. Die Dünnhäutigkeit, die sich viele über die vergangenen Monate – in Maskenstreits, Putindiskussionen, Autobahnbaustellenbereichen – antrainiert haben, schlägt mittlerweile voll durch. Und, ich fürchte, auch immer öfter einfach zu.

Die Demokratie verträgt sich schlecht mit dem Recht der kürzesten Zündschnur.

Der Vertrauensgrundsatz, auf dem weite Teile unseres Zusammenlebens errichtet wurden und der unter anderem besagt, dass ich darauf vertrauen kann, mit wohlmeinenden Hinweisen („Bitte verwenden Sie in der U-Bahn Ihre Maske“) keine Gnackwatschn zu ernten – er scheint mir in Auflösung begriffen. Das hat leider Folgen, vor allem fürs gesellschaftliche Zusammenleben. Meine wohlmeinenden Hinweise erspare ich mir schon seit einiger Zeit, reine Kosten-Nutzen-Rechnung. Daran wird unsere Zivilisation vermutlich nicht zugrunde gehen. Aber sie wird doch, falls es nicht nur mir so geht, ein bisschen weniger stark zusammenhalten. Die Demokratie verträgt sich schlecht mit dem Recht der kürzesten Zündschnur.

Und es geht ja nicht nur um Begegnungen im Alltag. Es geht auch um Weltpolitik. Ich meine: ein bewaffneter Überfall auf ein europäisches Land? Abtreibungsgesetze wie anno 1950? Man hatte ja mit einigermaßen guten Gründen darauf vertraut, dass sowas heutzutage nicht mehr möglich wäre. Ist es aber, und zwar plötzlich. Es ist mit allem zu rechnen. Leider.

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Wie oft habe ich dieses Gefühl:ca. zwei Mal in der Woche (plus jedes Mal, wenn ich die Lokalnachrichten in der Krawallzeitung lese).

Mit welchen Gefühlen ist es artverwandt: soziale Gänsehaut, Faustschlagpanik

Wenn ich über dieses Gefühl ein Lied schreibe, trägt es folgenden Titel: Aus heiterem Himmel

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.