Serie Ladestation

Wut: Warum ihre Unterdrückung krank macht

Sie ist neben Hass die Emotion mit dem lausigsten Image: die Wut. Doch ohne sie würden wir traurig aussehen. Warum Choleriker die gesünderen Menschen sind. Wie man seine Emotionen managen und seinen Zorn produktiv nützen kann. Und warum zu lange unterdrückte Wut gefährlich ist.

Drucken

Schriftgröße

Wir haben alle inzwischen einen Sättigungsgrad erreicht, was Harrys "Tell-it-all"-PR-Offensive in diversen Talkshows betrifft. Als ob der Idylle-Exhibitionismus der "notorischen Überinformierer" ("Vanity Fair" über die Sussexs) auf Netflix im Vorfeld zum Erscheinen von "Spare" (deutscher Titel "Reserve") nicht schon gereicht hätte. Ein Detail der Memoiren besaß dann doch Überraschungspep: nämlich dass "Willy", wie Problemprinz Harry seinen älteren Bruder nennt, der vermeintlich biedere Langweiler unter den dysfunktionalen Royals, offensichtlich ein schwerer Choleriker ist. Die Story mit dem Raufhandel in der Küche zwischen den Brüdern, der sich an Herzogin Meghans von der Spur geratenem Benehmen entzündet hatte, ging inzwischen um die Welt.

Entladung: Tennisstar John MacEnroe kultivierte das Image des Bad Boys

Dass Choleriker prinzipiell die gesünderen und oft auch die erfolgreicheren Menschen sind, ist inzwischen wissenschaftlich belegt. Dass sie ihren Unbill nicht hinunterschlucken und verdrängen und die emotionalen Karten auf den Tisch legen, entlastet das Immunsystem, reguliert die Hormone und reduziert die Gefahr von psychosomatischen Beschwerden. Schwierig wird es nur, wenn die Worte in aggressiven Taten eskalieren. Und die Emotionen außer Kontrolle geraten. In diesem Fall knallte Harry durch Williams ausgestreckte Faust auf einen Hundenapf aus Porzellan. Für die forensische Psychiaterin Heidi Kastner (siehe Interview) haben solche Entladungsprozesse oft "emotionalen Analphabetismus" als Hintergrund, der sich durch alle Schichten zieht: "Es gibt eine unglaubliche Spracharmut, die Menschen können ihre Gefühle nicht mehr benennen. Wenn ich nach dem Warum frage, kommt oft nur: 'Ich habe mich schlecht gefühlt.' "In seiner Polemik "Mies drauf" forderte auch der deutsche Psychotherapeut Arnold Retzer mehr Lust an "schlechter Laune": "Die gesellschaftlichen Vorgaben von der größtmöglichen Schmerz-,Zorn- und Angstfreiheit haben eine Industrie von ratgebenden Dauergrinsern und Hirndopingdealern entstehen lassen, die ganz normale menschliche Gefühle von der emotionalen Farbkarte verbannt wissen wollen." In jedem Fall, so die Forschung, ist die Unterdrückung einer primären Emotion wie Wut, aber auch Trauer, nicht gesund. Die "Introvertierten", die dazu tendieren, Konflikte nicht auszuleben, in den Rückzug zu gehen und zu grübeln, laufen Gefahr, gemäß der auf Konrad Lorenz zurückgehenden Dampfkesseltheorie, sich bei nichtigen Anlässen in einem überproportionalen Ausmaß zu entladen.

Das Ausleben von Wut in einem sozial verträglichen Setting dient also auch dem Selbstschutz. Denn nicht zugelassene Wut kann auf Dauer zu gesundheitlichen Schäden führen: Bluthochdruck steht in enger Verbindung mit chronischem Stress und chronisch unterdrücktem Ärger, wie Heidi Kastner in ihrem Band "Wut" ausführt. Auf Gelassenheit und Kontrolle konditionierte Persönlichkeitstypen leiden auch häufiger an Atemerkrankungen, Verdauungsproblemen und Irritationen der Haut. Schon der Pionier der Emotionsforschung Charles Darwin hielt Hass für eine Folge von unterdrückter Wut; in der Aggressionsforschung gilt Hass als Reaktionsphänomen auf subjektiv erlebte Benachteiligung, Verletzungen und Kränkungen. Während Wut schnell verpuffen kann, zeichnet sich Hass durch "kalte Beständigkeit aus, der Launen überdauert", so der deutsche Soziologe Olaf Jann. Und ist also wesentlich gefährlicher als Wut. Wie fatal die Folgen von Kommunikationshilflosigkeit sein können, erzählt der beim FBI ausgebildete Kriminalpsychologe Thomas Müller: "Ich habe viele Männer getroffen, die ganze Familien ausgelöscht haben, weil sie nicht in der Lage zur direkten Kommunikation waren und es nicht verkraften konnten, keine Bedeutung mehr bei Frau und Kindern zu haben."

Sängerin Katy Perry sieht Wut als feministisches Empowerment und lässt es immer wieder krachen. 

Wobei Kränkung der Auslöser ist, der auch die meisten Gewalttaten triggert. Dass Frauen über die gleiche Farbkarte negativer Emotionen verfügen wie Männer, ist durch zahlreiche Studien belegt. Nur sind sie im Umgang mit Wut, Zorn und Ärger in ihrer Erziehung und Sozialisation anders konditioniert worden. Wenn ein Popstar wie Kate Perry in ihrer Funktion als Jurorin bei der TV-Talentshow "American Idol" ihre Gefühle ausagiert, wurden ihr schnell im Netz die Etiketten "hysterisch", "nicht stabil" und "von der Spur geraten" umgehängt.

Bei Männern irritiert ein solches Verhalten in der Öffentlichkeit weniger und wird oft auch als "zielgerichtet" und "temperamentvoll" apostrophiert.

Das direkte Ausleben physischer Gewalt ist und bleibt eine nahezu männliche Domäne. Jüngstes Beispiel dafür zeigen die Krawallauswüchse in der vergangenen Silvesternacht in Berlin, wo junge Männer, teils vermummt, die Rettungskräfte, Feuerwehrleute und Polizisten mit Flaschen und Böllern bewarfen. Von den 145 Verhafteten hatten 45 die deutsche Staatsbürgerschaft, die anderen stammten aus 18 verschiedenen Nationen. Die meisten der Angreifer passen in ein Profil, das auch im Milieu des Rechtsextremismus und der Verschwörungsparanoiker weit verbreitet ist: jung, männlich, bildungsfern, prekär oder abgehängt (immer mehr auch von Frauen),ohne Aussichten und entsprechend geladen. In dem Roman "Amerikanisches Idyll" lässt der verstorbene US-Schriftsteller Philip Roth einen seiner kaputten Helden mit folgenden Worten in die Knie gehen: "Er hatte die schlimmste Lektion gelernt, die das Leben auf Lager hat-nämlich, dass es keinen Sinn macht." Ein Nihilismus, der auf viele mit Wut, Zorn, Hass und Ohnmacht überschwemmte Gruppen passt. Der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani begründet in der "Süddeutschen Zeitung" die Ausschreitungen durch die verschärfte Wirtschaftslage: "Für diese jungen Männer steht die Welt seit ihrer Jugend auf dem Kopf. Alles ist falsch herum: Sie beobachten, wie es anderen immer besser geht, aber sie bleiben außen vor. Und all das hat sich durch Corona noch erheblich verstärkt."Um wenigstens nach außen hin Stärke zu demonstrieren, sei gemeinschaftlich ausgelebte Gewalt "extrem verlockend": So fühlen sie wieder eine Art "positive Identität" und Zugehörigkeit.


Eine Verständigung auf einen gemeinsamen Sündenbock wie die jüdische Weltverschwörung, die totale Kontrollgier von Bill Gates und einer Elite, die sich in der Unterwelt mit dem Blut kleiner Kinder verjüngen will-um nur einige der abstrusesten Verschwörungstheorien aufzuzählen-,hilft da zusätzlich. Ähnlich war auch der Treibstoff der selbst ernannten Volksarmee "Proud Boys", geeint von ihrem Messias Donald Trump, zusammengesetzt: In der kürzlich im Free-TV gezeigten Dokumentation "Sturm auf das Kapitol", die akribisch das Eindringen eines entfesselten Mobs in das Nervenzentrum der US-Demokratie am Dreikönigstag 2021 zeigt, lässt einer der gefährlichen Patrioten Sätze los wie "Fickt die Elite" und "Wir sind wütend, denn wir wissen Bescheid." Doch nicht nur in radikalisierten Ideologiebiotopen liegen die Nerven zunehmend blank und kann der sprichwörtliche Funke die Dinge eskalieren lassen. Auch in der Alltagskultur wie im Supermarkt, wo sich in den Anfängen der Lockdowns Menschen wegen Klopapierrollen in die Haare gerieten, oder beim Wettkampf um einen legalen Parkplatz zeigt sich, dass die letzten drei Jahre in der neuen Normalität mit all ihren existenziellen Sorgen und Verunsicherungen die Frustrationstoleranz erheblich in Mitleidenschaft gezogen haben. Ein besonderes fruchtbares Ambiente für Ausraster jeglicher Natur dürften Flugreisen sein, das Phänomen hat sich unter dem Begriff "Air rage" bereits im Psycho-Jargon eingenistet.

YouTube ist voll von Clips, die Passagiere beim "Meltdown" zeigen, was, so eine Studie der Universität Toronto, besonders durch die Tatsache verstärkt wird, wenn Economy-Klässler durch das Segment der Firstoder Businessclass durchgehen müssen. Das plastische Erleben der Ungleichheit habe auf die weniger begünstigten Fluggäste manchmal den gleichen Effekt "wie eine neunstündige Flugverspätung". Prominente wie beispielsweise der Schauspieler Klaus Kinski oder der Tennisstar John McEnroe konnten aus ihren "Meltdowns" ein regelrechtes Geschäftsmodell entwickeln. McEnroe ging nicht nur als jener Sportler in die Geschichte ein, der 155 Titel gewann, sondern als Bad-Boy-Genie durch seine Schiedsrichter-Beschimpfungen("Sind Sie blind, Sie Volldilo!") In einer kürzlich erschienenen Dokumentation resümiert der heute 63-Jährige: "Meine Wutausbrüche waren auch eine Art Sucht. Ich benahm mich wie einer, der wirklich mit dem Rauchen aufhören wollte, aber dann doch immer wieder einen Glimmstängel brauchte. Woher sie kamen? Ich weiß es bis heute nicht."

"Manchmal taucht mein Jähzorn noch wie ein schreckliches U-Boot auf." Joachim Meyerhoff, Autor und Schauspieler
 

Die emotionale Intensität eines Menschen, also auch das Niveau, wie er Wut, Zorn oder Ärger erlebt, ist, neben der genetischen Prädisposition, auch ein Produkt seiner Biografie. Wenn kleine Kinder sich auf den Boden werfen oder im Spiel mit anderen hauen und beißen, muss man nicht sofort einen Psychologen konsultieren. Vor allem, wenn sie noch nicht in der Lage sind, ihre Emotionen in Sprache zu packen, sind solche Verhaltensweisen Teil der Entwicklung. Wichtig ist jedoch, dass man dem Kind signalisiert, es ernst zu nehmen, aber mit ihm eine Methode entwickelt, wie es lernt, damit umzugehen. Und zwar mit Konsequenz. Im Erwachsenenalter sollte man seine eigenen Methoden entwickelt und, wie Heidi Kastner das beschreibt, "in die Eigenverantwortung gehen", um seine Eruptionen unter Kontrolle zu kriegen. "Manchmal taucht mein Jähzorn noch immer wie ein schreckliches U-Boot auf", erzählte der Autor und Schauspieler Joachim Meyerhoff in einem früheren profil-Interview. In seinen Büchern beschrieb er, wie er als Kind immer wieder von Wellen des Zorns überflutet wurde und ausrastete. Seine Methode angesichts des immer seltener nahenden U-Boots: "Ich schreie nur und kann gar nicht mehr aufhören. Ich bin regelrecht gefangen in meinem Geschrei und schieße in eine einzige Richtung, bis ich irgendwann wieder vom Himmel falle...

Irgendwo da drinnen scheint auch etwas zu schlummern, was noch nicht erlöst ist." Der Philosoph Arthur Schopenhauer entwickelte auf dem Weg zur Gelassenheit eine andere Methode, die so preisgünstig wie schwierig erscheint. Der "gelassene Mensch", schrieb er, betrachte seinen Lebensweg "wie ein Theaterstück", wo er sich selbst jederzeit "auf die Zuschauerränge" zurückziehen und sich beobachten könne. Erst aus dieser Perspektive kann der Mensch "unabhängig von seiner Gefühlslage" agieren und tun, "was er für angemessen" hält. Möge die Übung gelingen!

Weitere Artikel aus der Serie Ladestation

Starkmacher Selbstvertrauen: Wie wir damit durch die Krisen kommen Wut: Warum ihre Unterdrückung krank macht Heidi Kastner: "Den roten Schalter gibt es nicht"
Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort