Amerika in der Identitätskrise

Schadet die Wirtschafts- krise Obama?

Drucken

Schriftgröße

So etwas hat Reese Butler trotz seiner 20-jährigen Berufserfahrung noch nicht erlebt: Seit knapp einem Jahr laufen bei den Mitarbeitern seiner psychologischen Hilfs-Hotline Brooks Hope Center die Telefone heiß. „In den vergangenen beiden Wochen ist die Situation noch einmal schlimmer geworden“, berichtet der Vorsitzende des in Washington ansässigen Instituts. Inzwischen rufen über 75.000 verzweifelte Menschen pro Monat im Brooks Hope Center an – vor zwei Jahren war es nicht einmal die Hälfte. „Viele unserer Kunden haben in den vergangenen Monaten ihr Haus verloren, sind in eine Lebenskrise geschlittert und haben Selbstmordgedanken“, sagt Butler. „Seit die Kurse an der Wall Street so rasant gesunken sind, hat die Angst in der Bevölkerung weiter zugenommen.“

Das Brooks Center ist nur einer von vielen Schauplätzen, an denen die aktuelle Stimmungslage in den USA manifest wird. Mit dem großen Finanzcrash an der Wall Street ist für Millionen Amerikaner eine Welt in sich zusammengestürzt, die viele Jahre lang als ideal galt und nicht hinterfragt wurde. Plötzlich scheint es möglich, dass ein Horrorszenario wahr wird, mit dem sich bislang nur notorische Schwarzmaler auseinandersetzen wollten: eine große Depression, wie sie die USA vor 59 Jahren schon einmal erlebten, als sämtliche Börsenkurse nach unten rasselten und Amerika in ein ökonomisches und moralisches Tief mitrissen, das ein ganzes Jahrzehnt dauern sollte. Droht der Supermacht eine Neuauflage dieser düsteren Epoche?

Antiamerikanismus. Dies sei durchaus möglich, sagen ökonomische Koryphäen wie der ehemalige Chef der US-Notenbank Fed, Alan Greenspan. Noch drastischer formulierte es vergangene Woche der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück: „Die Welt wird nicht wieder so werden wie vor der Krise“, so der SPD-Politiker, die USA würden ihren „Status als Supermacht des Weltfinanzsystems verlieren“.
Mit der Vorbildrolle Amerikas in der internationalen Gemeinschaft ist es ohnehin schon seit Längerem vorbei, wie Umfragen von renommierten Meinungsforschungsinstituten wie Pew oder Global Attitudes zeigen. „Auch die großen Konzerne sind über das Image Amerikas in der Welt besorgt“, warnt Thomas Miller, Vizechef der US-Non-Profit-Organisation Business for Diplomatic Action, vor den ökonomischen Konsequenzen des grassierenden Antiamerikanismus.

Harte Zeiten für ein Volk, das für sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und seinen überschwänglichen Patriotismus bekannt ist. „Amerika muss künftig seinen Optimismus ablegen“, fordert die bekannte Autorin und politische Aktivistin Barbara Ehrenreich in der „New York Times“. „Die Vorstellung, dass alles geht, wenn man nur fest genug daran glaubt, greift nicht mehr.“ Noch gibt es kaum ein öffentliches Gebäude, das nicht mit der überdimensionalen „Stars & Stripes“-Flagge geschmückt ist; noch gibt es keine Wahlkampfveranstaltung, bei der nicht die Kandidaten den Eid auf die Fahne ablegen, kein Baseballspiel, das nicht von „God Bless America“-Gesängen umrahmt wird. Unter fast drei Dutzend untersuchten Nationen ortet die Universität von Chicago den größten Stolz auf das eigene Land noch immer in den USA: „In ihrem Verständnis als Supermacht sind militärische und wirtschaftliche Stärke für die Amerikaner noch immer die wichtigsten Faktoren, stolz auf ihr Land zu sein.“

Hoffnungspathos. Mit dem desaströsen Irak-Krieg, der laut Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz bisher die Summe von über 3000 Milliarden Dollar verschlungen hat, ist der Glaube an die militärische Überlegenheit Amerikas schon länger angekratzt. Nun wankt auch der freie Kapital- und Warenverkehr, die zweite Erfolgssäule der USA. Die Bush-Administration versucht dieser Tage zwar mit allen Mitteln, einen endgültigen Kollaps zu verhindern. 700 Milliarden Dollar soll Finanzminister Henry Paulson zur Rettung der Banken lockermachen. Doch dieses Hilfspaket stößt bei der Bevölkerung auf blanke Empörung: Nur ein Drittel der Amerikaner findet es fair, den Banken so massiv unter die Arme zu greifen, während die überschuldeten Hausbesitzer alleingelassen werden.
Einen Schuldigen für die Misere hat die Mehrheit der Amerikaner bereits ausgemacht: die regierenden Republikaner. Laut einer Umfrage von CNN und dem Opinion Research Center macht derzeit jeder Zweite die Grand Old Party für die Krise verantwortlich. Die Steuersenkungen der Bush-Regierung für die reiche Elite, die republikanische Faustregel, dass der Staat sich niemals in den freien Markt einmischen dürfe: All das fällt nun auf den potenziellen Bush-Nachfolger John McCain zurück. Und Sarah Palin, die exzentrische Vizekandidatin von John McCain? Der erste Hype um ihre Person ist längst verflogen, Führungsstärke und wirtschaftliche Kompetenz sind bei den Amerikanern derzeit gefragt – nicht ideologische Grundsatzdebatten über Abtreibung und Homoehe.

Kein Wunder, dass der demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama seinen Vorsprung auf McCain, der im Wahlkampf des Öfteren zugeben musste, von Wirtschaft nicht allzu viel zu verstehen, in manchen Umfragen auf neun Prozentpunkte ausbauen konnte. „Die Amerikaner trauen McCain nicht die Kompetenz zu, die derzeitige Finanzkrise mit vernünftigen Konzepten zu beheben“, sagt der Politologe John Epstein von der Columbia University. „Jeder Auftritt, jedes Wort kostet McCain derzeit Stimmen.“

Der Wahlkampfstopp, den der republikanische Präsidentschaftskandidat vergangene Woche kurzfristig verkündete, um sich ausschließlich der Krise zu widmen, wirkte unter diesen Umständen wie ein purer Akt der Verzweiflung. Etwas mehr als einen Monat vor der Präsidentschaftswahl am 4. November scheinen rationale Überlegungen bei der Wahlentscheidung der Amerikaner zu überwiegen. Aber schon fürchten die demokratischen Strategen, dass Obamas Parolen von einem „Mut zum Wandel“ sich als Schuss nach hinten erweisen könnten. „Amerika ist von der Politik der Angst gefangen – schlechte Nachrichten für den Propheten der Hoffnung“, meinte der britische Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash kürzlich in einem Artikel in der britischen Tageszeitung „Guardian“.

Sinnkrise. Und es gibt reichlich Anlass zur Sorge: Die Arbeitslosigkeit in den USA stieg im August auf ein Rekordhoch von 6,1 Prozent; die Benzinpreise sind in diesem Jahr explodiert, die Immobilienpreise in den Keller gefallen; das Handelsdefizit steigt derzeit jährlich um rund fünf Prozent, die staatliche Finanzspritze zur Rettung der US-Banken wird diese Zahl weiter nach oben treiben. Nicht nur weitere Terrorattacken könnten Amerikas Sinnkrise vertiefen. Wer an der Südostküste der USA lebt, muss damit rechnen, dass Wirbelstürme wie „Gustav“ sein Hab und Gut zerstören. Gleichzeitig kommen andere Länder richtig in Fahrt. China und Indien schicken sich an, die USA als Supermacht abzulösen, Russland feiert nicht erst seit dem Georgien-Krieg ein militärisches Comeback auf der Weltbühne. Erscheint in Zeiten wie diesen nicht doch ein „Kalter Krieger“ wie McCain geeigneter als ein elitärer Harvard-Absolvent? Wenn die zahllosen Klienten des Brooks Center und anderer psychologischer Hilfsdienste in der Wahlkabine sich von solchen Ängsten leiten lassen, dann wird der 44. Präsident John McCain heißen.

Von Gunther Müller, Mitarbeit: Josef Barth, New York