Das Seminarhotel Velm nahe dem niederösterreichischen Himberg gab Ende vergangener Woche die Kulisse für ein denkwürdiges Spektakel. Rund 150 Delegierte waren zur turnusmäßigen Tagung des Bundesvorstands der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) angereist, um in aller Beschaulichkeit die Zukunft der Bewegung zu diskutieren ein bisschen schwadronieren, ein bisschen planschen, ein bisschen schwitzen. Doch das Beisammensein zwischen Tagungssaal, Kegelbahn, Schwimmhalle und Sauna geriet unverhofft zur hitzigen Protestveranstaltung. Am Freitagvormittag beschloss die GPA-Spitze um Präsident Hans Sallmutter eine an Regierung und Unternehmerverbände adressierte Resolution zur laufenden Arbeitszeitdebatte. Zitat: Vor dem Hintergrund des niedrigen Wirtschaftswachstums und des stagnierenden Arbeitszeitvolumens kann von einer Arbeitszeitverlängerung kein positiver Beitrag zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ausgehen. Die unmissverständliche Forderung: Einführung der 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich.
Nur wenige Tage zuvor war dem neuen Präsidenten der Industriellenvereinigung das Kunststück gelungen, sich schon bei seiner Antrittsrede zum Klassenfeind hochzustilisieren. Veit Sorger, im Brotberuf Generaldirektor des Papierkonzerns Frantschach, trat lautstark für eine tabulose Diskussion über eine Verlängerung der Arbeitszeit und die Streichung von Feiertagen ein. Sorger: Der Wettbewerb mit unseren Nachbarn ist knallhart. Mit Asien wird er noch viel härter. Wir müssen darüber nachdenken, was wir an Produktion behalten können und was wir dafür tun müssen. Selbst wenn es darauf hinausläuft, die eine oder andere Stunde in der einen oder anderen Woche mehr zu arbeiten.
Als sich auch noch ÖVP-Wirtschaftsminister Martin Bartenstein mit Sagern wie Ich muss in Gesetze und Kollektivverträge nicht hineinschreiben, wie viele Stunden pro Woche Arbeitnehmer arbeiten dürfen auf die Seite der Unternehmer schlug, hatte das Land endgültig sein wirtschaftspolitisches Sommertheater.
Österreich im Juli 2004: Nach fast 120 Jahren leidenschaftlicher Diskussionen und Kämpfe um die Verkürzung der Arbeitszeit brechen jene Dämme, die die Gewerkschaften einst errichtet hatten. Die Einführung des 11-Stunden-Tages 1885 etwa, die Verringerung auf acht Stunden 1919, die Verankerung der 45-Stunden-Woche 1959, die 40-Stunden-Woche 1975 und schließlich die 38,5-Stunden-Woche 1985. Parallel dazu stieg der Urlaubsanspruch. Von drei Wochen 1965 auf vier 1977 und schließlich auf fünf 1986.
Erstmals in der jüngeren Geschichte des Landes wird nun gestritten, ob das des Guten nicht zu viel, das Volk gar zu faul sei.
Die Rahmenbedingungen könnten unerquicklicher kaum sein. Die Wirtschaft lahmt seit nunmehr drei Jahren, die Arbeitslosigkeit eilt von einem Rekord zum nächsten. Im Juni 2004 waren landesweit fast 203.000 Menschen ohne Arbeit. Eine Besserung ist vorerst nicht in Sicht. Die Wirtschaftsforscher rechnen zwar für 2005 mit einer leichten Konjunkturbelebung, die Arbeitslosenquote wird allerdings auf dem hohen Niveau von Mitte der neunziger Jahre verharren.
Bei der Ursachenforschung wollen namhafte Industrielle, Manager und konservative Politiker nun auf die Wurzeln allen Übels gestoßen sein: die Arbeitszeit, die Kollektivverträge, die Gewerkschaften.
Unsere Gewerkschaftsfunktionäre, so der Generalsekretär der Industriellenvereinigung, Lorenz Fritz, haben null Ahnung davon, was in den nächsten Jahren auf uns zukommt.
Claus Raidl, Chef des Edelstahlkonzerns Böhler-Uddeholm und Wirtschaftsberater des Bundeskanzlers: Die Theorie, eine gegebene Arbeitsmenge mittels Arbeitszeitverkürzung auf mehr Köpfe zu verteilen, funktioniert nicht.
Die Gewerkschafter spielen den Ball volley zurück. Rudolf Nürnberger, Chef der Metallergewerkschaft: Leute wie der Herr Raidl sollen sich ihre guten Ratschläge sparen. Denen geht es doch in letzter Konsequenz um nichts anderes, als die Arbeitnehmer für den gleichen Lohn länger arbeiten zu lassen. ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch: Die Diskussion bringt keine neuen Argumente. Sie gibt Lohndumping nur einen neuen Titel.
Über das Jahr gerechnet verbringen Österreichs unselbstständig Beschäftigte heute 1778 Stunden am Arbeitsplatz. Das reicht im Vergleich zu den alten 15 EU-Mitgliedsstaaten (für die neuen Beitrittsländer liegen noch keine verlässlichen Daten vor) für einen Platz im Mittelfeld deutlich hinter Großbritannien, Griechenland, Irland und Spanien. Bernhard Felderer, Chef des Wirtschaftsforschungsinstitutes IHS: Es ist letztlich eine Entscheidung der Gesellschaft, wie viel Freizeit sie haben will. Das europäische Modell ist: Wir wollen weniger arbeiten, dafür nehmen wir geringere Pro-Kopf-Einkommen in Kauf.
Ansichtssache. Den Arbeitgebern ist das zu wenig. Sie werden nicht müde zu betonen, dass die Lohn-, vor allem aber die Lohnnebenkosten im Lande deutlich höher seien als im Ausland. Und weil Löhne nicht so ohne weiteres gesenkt werden können, soll jetzt eben mehr gearbeitet werden. Kurt Eder, Generaldirektor des Stahlerzeugers VoestAlpine: Wir wollen in den nächsten drei Jahren eine Verlängerung von jeweils einer halben Stunde durchsetzen. Der Vorteil wäre, dass der Einzelne das nicht merkt.
Schon heute ist es so, dass vor allem in der Industrie mitunter deutlich länger als 38,5 Stunden gearbeitet wird wofür die Unternehmen allerdings tief in den Überstundenzulagentopf greifen müssen. Bereits 1997 hatten sich die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern auf eine Wochenarbeitszeit zwischen 32 und 45 Stunden und die Möglichkeit der Sonntagsarbeit geeinigt. Diese Zugeständnisse haben freilich ihren Preis. Natürlich ist in Kollektivverträgen Flexibilität möglich, sagt Opel-Austria-Chef Werner Hackl, die Frage ist nur: Was muss ich dafür bezahlen?
Vereinfacht wollen die Unternehmer künftig für Leistungen ihrer Mitarbeiter, die teilweise ohnehin bereits erbracht werden, schlicht weniger bezahlen. Wienerberger-Generaldirektor Wolfgang Reithofer: Es ist durchaus zumutbar, dass man zwei Stunden länger für den gleichen Lohn arbeitet. Und blicken dabei neidvoll gen Deutschland. Dem Siemens-Konzern ist es kürzlich gelungen, gegen die Einräumung von Arbeitsplatzgarantien die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich durchzusetzen. Siemens-Österreich-Generaldirektor Albert Hochleitner: Es gibt keinen Druck aus Deutschland, das auch hier zu machen. Er kann jedoch nicht verhehlen, dass das deutsche Modell durchaus Charme hat. Eine Verlängerung der Arbeitszeit kann für Produktionsstandorte eine Lösung sein.
Skeptische Forscher. Österreichs Wirtschaftsforscher sehen die Sache nicht so eindeutig: Die Situation in Deutschland könne nicht einfach auf Österreich übertragen werden, heißt es sowohl am Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo als auch am IHS. Der Grund: Deutschland sei noch teurer und dabei vergleichsweise unproduktiver als Österreich. In Deutschland waren die Lohnsteigerungen in den letzten Jahren deutlich höher als in Österreich, sagt IHS-Chef Felderer. Und Alois Guger vom Wifo sekundiert: Die Produktivität der Industrie in Deutschland ist um fast 20 Prozent niedriger als hierzulande.
In Österreich seien die Löhne hingegen in den letzten zehn Jahren langsamer gestiegen als die Produktivität. Da waren die Forderungen der österreichischen Gewerkschaften vernünftiger als die der deutschen, ringt sich IV-General Fritz zu einem Lob durch. Wifo-Ökonom Guger: Dadurch sind die Lohnstückkosten seit Mitte der neunziger Jahre um 15 Prozent gesunken Österreich ist gegenüber seinen Handelspartnern also wettbewerbsfähiger geworden.
Die Gewerkschaften wissen das die Zurückhaltung der letzten Jahre ist ihnen schwer genug gefallen. Sie wollen den Gürtel nicht noch enger schnallen und durch Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich wieder um die Früchte ihres Kampfes gebracht werden. Die Jahrzehnte alte und nun wieder erhobene Forderung nach einer weiteren Verkürzung der Arbeitszeit läuft vielmehr in die entgegengesetzte Richtung.
Die Diskussion hat auch auf politischer Ebene Bruchlinien offenbart. Die Opposition ist erwartungsgemäß strikt gegen jede Aufweichung der Kollektivverträge. SPÖ-Wirtschaftssprecher Hans Moser: Der Vorstoß aus dem ÖVP-Lager ist ein Frontalangriff auf die Sozialpartnerschaft. Das ist nichts als eine klassische Umverteilung zulasten der Arbeitnehmer. Die ÖVP stellt sich zwar prinzipiell auf die Seite der Unternehmer, will jedoch ohne Einbindung der Sozialpartner keine Lösungen erzwingen. Die FPÖ wiederum konnte sich bis zuletzt nicht entscheiden, ob sie nun als wirtschaftsliberale Partei die Interessen der Arbeitgeber unterstützt oder als rechtes Pendant der SPÖ die der Arbeitnehmer. FPÖ-Chefin und Sozial-Staatssekretärin Ursula Haubner: Ich bin auf Seite der Arbeitnehmer. Ich halte nichts davon. Auffallend wenig kam dagegen vom Wirtschaftsflügel der FPÖ. Thomas Prinzhorn etwa, Nationalratspräsident und Eigentümer des Papierkonzerns Hamburger, ließ bislang alle Anfragen unbeantwortet.
Expertenstreit. Auch unter Experten ist die Frage längst nicht unumstritten. Wifo-Chef Kramer bezweifelt, dass der von Unternehmerseite stets zitierte Wettkampf mit Billigstandorten in Osteuropa und Asien mithilfe von Arbeitszeitverlängerungen gewonnen werden kann. Das bringt allenfalls ein Prozent Kostenersparnis. Der Generaldirektor des Baukonzerns Porr, Horst Pöchhacker, schließt sich dem an: Natürlich wünscht sich insgeheim jeder Unternehmer, dass seine Leute für weniger Geld mehr arbeiten. Aber auf der Ebene brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich wird die Lücke zu Billiglohnländern sicher nicht schließen.
Rechtlich gesehen wäre die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche kein Problem. Die Regelung aus dem Jahr 1975 hat unverändert Gültigkeit. Die darüber hinausgehenden Vereinbarungen waren und sind Sache der Sozialpartner. Die verhärteten Positionen versprechen schon für die nächste Lohnrunde im Herbst heiße Debatten.
Eines haben die Unternehmer in jedem Fall erreicht. Von weiteren Arbeitszeitverkürzungen Gewerkschaftsresolutionen hin oder her wird bis auf weiteres wohl keine Rede mehr sein.