Autodrom: David Staretz

Autodrom: David Staretz Marshrutki

Marshrutki

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Diese Stadt am Schwarzen Meer, in der ich mich auf kaum erklärbare Weise so gerne aufhalte, wird von einem beweglichen Teilchensystem durchzogen. Dieses besteht in seiner geringsten Form aus alten Shigulis, die wir hier mühelos als Fiat 124 identifizieren würden. Die italienische Kommunismus-Connection der Chruschtschow-Ära ermöglichte eine Lizenzfertigung in Togliattigrad. Der damalige Fiat-Präsident Valetta, Vorgänger von Giovanni Agnelli, bekam 1966 den Auftrag, um den sich auch Renault und Volkswagen beworben hatten: Fiat sollte eine Fabrik mit einer Leistungsfähigkeit von täglich 2000 Personenwagen errichten und eine Zeit lang führen. Togliattigrad, ­benannt nach dem italienischen Kommunistenführer Palmiro Togliatti, entstand unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung. Heute werden dort die selbst im Osten kaum geliebten Lada-Typen Priora und Kalina hergestellt. Soweit man Einschätzungen von Finanzexperten folgt, ist ein Konkurs unabwendbar.

Diese düstere Prognose erscheint auch hier in der Schwarzmeerhafenstadt nachvollziehbar. Kaum noch sieht man Wolgas oder selbst Lada Nivas – der Geländewagen war auch bei uns beliebt. Leider rostanfällig. Rost ist hierorts aber kaum ein Problem. Erstarrter Schmutz scheint die lecken Karosserien zusammenzuhalten. Tapfer stochern die Autos über blank liegende Straßenbahnschienen, die den tiefen Schlaglöchern Halt und Pölzung geben. Am häufigsten sieht man gesichtslose Massenware aus Korea oder Japan, Autos, die aussehen wie lieblos gefälschte Handtaschen.

Überraschend oft, signalhaft für Abwesenheit von breiter Mittelklasse, treten große deutsche oder amerikanische SUVs auf – grundsätzlich in Schwarz, grundsätzlich mit Edelfelgen und getönten Scheiben. Sie würden auf Zuwinken nie anhalten, doch ein Shiguli oder eine alte Wolga-Limousine wackeln rasch herbei und nach kurzem Verhandeln – es geht um Beträge zwischen umgerechnet achtzig Cent bis vier Euro – zwängt man die Knie hinter die schmalen Vordersitze, um sich den Fahrkünsten ­eines Mannes anzuvertrauen, von dem man meist nie viel mehr sieht als Schirmkappe, Lederjacke und was der Rückspiegel hergibt aus den Beständen eines unbequemen Lebens.

Meist setzt sich nach einiger Zeit ein schwerfällig schüttelndes, aber robustes Lachen in Gang, wie wenn ein alter Dieselmotor kurz anspringt und dann noch nachläuft mit einigen Fehlzündungen. Das liegt an meiner Begleiterin, die als Native Speaker die Feinheiten russisch-jüdischen Witzes beherrscht und eine erstaunliche Furchtlosigkeit angesichts „alkoholischer Unholde“, wie sie die friedlichen Rüpel nennt, demonstriert. Daraus aufkeimende Kühnheit der Fahrmanöver wird meist begrenzt durch Hinfälligkeit der Fahrwerke und die zerstörerische Gestalt der Straßenoberflächen. Liebevoll werden Getriebezahnräder zusammengeführt am langen Schaltstabe, und das großzügige Lenkradspiel führt zu tänzerischen Verschlingungen haariger Pranken.

Aber der Großteil des öffentlichen Transports wird in kantigen Bussen zurückgelegt. Oft gelb, weiß, ocker, manchmal lila oder gnadenlos mit Werbung beklebt. Sie heißen nach der rätselhaft zwingenden Logik des Volksmunds Marshrutkis, wobei die Ableitung aus dem Deutschen wie eine verspätete Pointe eintrifft. Ähnliche Worte: Platzkart (für billigplätzige Liegewagen). Und natürlich ­Buderbrodnaja für die Spelunke. Dort frühstücken wir inmitten fröhlicher Alkoholiker, deren Formation und Laune sich auch bis zum Abendessen kaum verändert haben wird. Zuvor aber haben wir per Shiguli den Großmarkt „Siebter Kilometer“ in nämlicher Entfernung zur Stadt erreicht, wo es, um es möglichst exakt zu formulieren, praktisch alles zu kaufen gibt.

Ein gewisser Stolz verbietet es uns, die Taxipreise der Rückfahrt zu zahlen, die das Dreifache einer selbst organisierten Hinfahrt ausmachen. Also erfahre ich im billigen Kleinbus wieder dieses erstaunliche Phänomen russischer Wärme und lebendiger Gemütlichkeit, wie sie mir aus moosgedichteten Blockhäusern im verfrorenen Mordwinien oder von winterlichen Nachtreisen in kohlebeheizten Schlafwägen mit ­ihren Pflanzendekorationen und Samowaren her bekannt ist.

So sind auch diese im Grunde scheußlichen, ausgemusterten Mercedesbusse hier von warmer Herzlichkeit belebt, von Menschen, die meist richtig Sorgen haben, nicht das, was wir hier so nennen. Es gibt dick eingewickelte Babuschkas und daneben zart hochgeschossene Fräuleins, die man anderswo Top-Model nennen würde. Man sieht Teenager mit Earplugs, deren Kabel in der Tiefe abenteuerlich gefälschter Fantasie-Designjacken verschwinden, und man wetzt die Schultern an schweren alten Männern mit verschlossenen Gesichtern. Sobald der Bus voll ist, kann man abfahren. Wir alle schwingen im Takt der Schlaglöcher, die wie die Zinken einer Spieluhr ein Lied aus der ­gequälten Federung pressen, und während wir umständlich einige im Schnee liegen gebliebene Fahrzeuge umschiffen, erklärt meine Begleiterin, dass der trostlose Ort, den wir hier durchfahren, übersetzt „Nichtlangweilig“ heißt und dass wir uns auf seiner Hauptstraße befinden, der „Nichtlangweiligstraße“. Beim Aussteigen, jeder legt wortlos einen Geldschein im Wert von zirka 18 Cent neben den Fahrer, sagt der Chauffeur zu meiner Freundin, die versehentlich nicht für mich mitgezahlt hatte: „Will der junge Mann da nicht bezahlen?“ Mit hochrotem Kopf lege ich die 2-Grivna-Note hin. Jugend hat ihren Preis.