Leitartikel: Christian Rainer

Bitte kein Mehrheitswahlrecht!

Bitte kein Mehrheitswahlrecht!

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Zwei Themen werden in politischen Zirkeln derzeit intensiv diskutiert. Das eine Thema: Warum hat Willi Molterer Neuwahlen herbeigeführt, ohne sicher zu sein, dass er diese auch gewinnt? Mit Verlaub, mir erscheint diese Frage so naiv wie unfair. Molterer konnte gar nicht anders handeln. Die Forderung nach Volksabstimmungen in allen relevanten EU-Fragen – und dieser Bruch des Koalitionsübereinkommens verpackt in einem Leserbrief an die „Krone“ –, das war schlicht die größtmögliche Provokation der SPÖ gegenüber der ÖVP. Hätte Molterer mit Faymann und Gusenbauer weitergewurschtelt, dann hätte er sich auch gleich durch einen schnellen Schnitt in den Status eines Knabensoprans zurückversetzen können. Dass man solche Neuwahlen nicht unbedingt gewinnen muss, wie die aktuellen Umfragewerte der ÖVP andeuten, liegt in der Natur der Sache. Wolfgang Schüssel ist es nicht anders ergangen. Einmal, zur Mitte der neunziger Jahre, verlor er die von ihm ausgelösten vorzeitigen Neuwahlen, 2002 lohnte das Risiko.

Aus der Tatsache, dass sich nun eben nur ein zweiter Platz für die Volkspartei abzeichnet, ergibt sich das zweite weitläufig diskutierte Thema: Braucht Österreich ein Mehrheitswahlrecht? Denn, so die Spekulation, bei einem zweiten Platz und bei großen Verlusten würde die Partei in Opposition gehen. Und dann, so heißt es, wäre das Land „unregierbar“. Angesichts vieler Kleinparteien im Parlament wären nur zwei Mehrheiten möglich – Rot mit Schwarz oder Schwarz mit Blau plus Orange –, mit einer ÖVP in Opposition freilich gar keine. Daher also brauchte es ein Mehrheitswahlrecht, das der relativ größten Partei weit reichende Regierungsvollmachten einräumte. Und in der Folge ergehen sich die Diskussionen bereits in Details über die Ausgestaltung einer solchen Verfassungsänderung. Selbstverständlich müssten die Kleinparteien eine Chance haben, ins Parlament zu kommen, et cetera. Realistisch ist eine solche Verfassungsänderung – es wäre die größte seit 1945 – nicht. Denn die dazu notwendige Zweidrittelmehrheit im Nationalrat wird es nach den nächsten Wahlen nicht geben und eine Regierung mit einer solchen Mehrheit angesichts der „Unregierbarkeit“, die das ganze Dilemma ausgelöst hat, natürlich erst recht nicht.

„Nicht realistisch“ heißt aber nicht unbedingt „nicht sinnvoll“. Wäre ein Mehrheitswahlrecht also sinnvoll? Das ist eine Geschmacksfrage. Es gibt Länder wie Großbritannien, die damit gut leben. Und es gibt Länder mit einem zersplitterten Parteienspektrum wie Italien, die auch funktionieren. Deutschland wird bald in einer ähnlichen Situation sein wie Österreich: Die Linkspartei liegt in den Umfragen über 15 Prozent, die SPD bei 20, da werden stabile Mehrheiten auch schwierig.

Persönlich finde ich ein buntes Spektrum, wie es sich nun abzeichnet, durchaus charmant. Ob Minderheitsregierungen und wechselnde Mehrheiten zwingend und spätestens bei der ersten Budgetabstimmung zur Neuwahl führen, soll ausprobiert werden. Der Schaden an der Volkswirtschaft durch ein solches Experiment wird sich in Relation zum Schaden durch gelähmte große Koalitionen in Grenzen halten. Hinzu kommt, so denke ich, dass Österreich eine besondere Verantwortung gegenüber seiner besonderen Geschichte hat. Diese sollte zu Konsens statt zu Konfrontation mahnen. Ein Mehrheitswahlrecht verzichtet aber auf den Konsens der Parteien, es legitimiert – durchaus demokratisch – eine Diktatur auf Zeit.

Das Hauptargument der Befürworter einer Änderung – auch im profil – ist: Das dritte Lager habe sich als nicht koalitionsfähig erwiesen. Daher sei stets nur eine Koalition zwischen Sozialdemokraten und Bürgerlichen möglich, die große Koalition also. Das sei aber nicht wünschenswert, wie sich eben erst erneut erwiesen habe. Mein Argument dagegen: Eben erst erweist sich, dass sich das dritte Lager sehr wohl als koalitionsfähig erweist. Einerseits mathematisch: Mit FPÖ und BZÖ werden sich Mehrheiten darstellen lassen. („Niedergerungen“ – wie von Wolfgang Schüssel einst angekündigt – wurde da allenfalls eine Person, aber nicht eine Partei.) Andererseits real: Wer schließt aus, dass nicht doch mit Strache und Haider regiert wird? Die ÖVP schloss das 1999 aus, versprach, bei massiven Verlusten in die Opposition zu gehen – und ging 2000 mit genau solchen Verlusten und mit Haider und mit Schüssel als Kanzler in die Regierung. Außenministerin Plassnik sagt in diesem profil über eine mögliche Koalition mit FPÖ und BZÖ nur: „Ich werde jetzt auf gar keine Spekulationen eingehen.“

Das brächte wie 2000 wieder eine schwarz-blaue Koalition. Bei einem Mehrheitswahlrecht könnte die Sache anders ausgehen: Gar so viele Prozentpunkte fehlen der Kombination von FPÖ und BZÖ nicht auf den ersten Platz. Bei einem Mehrheitswahlrecht (und einer gemeinsamen Wahlplattform) bedeutete so ein Ergebnis: ein allein regierender Kanzler Strache (plus Haider) auf fünf Jahre. Laut aktueller profil-Umfrage fehlen Strache dafür nur fünf Prozentpunkte.