Das Prinzip Watte der Kanzlerin

Das Prinzip Watte: Eine zweite Amtszeit als Kanzlerin ist Angela Merkel sicher

Eine zweite Amtszeit ist Angela Merkel sicher

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Von Tom Schimmeck

Sie bleibt ein Rätsel. Seit 1990 steht die Politikerin im Rampenlicht, seit vier Jahren an der Spitze Deutschlands. Auf der „Forbes“-Liste der mächtigsten Frauen der Welt rangiert sie seit Langem auf Platz eins. Doch wer Angela Dorothea Merkel, 55, geborene Kasner, wirklich ist, weiß noch immer niemand genau.

Ende April fand sich in Berlin eine prominente Runde von Wissenschaftern und Journalisten zum Kolloquium ein. Schon der Titel sprach Bände: „Understanding Merkel“. Ein zähes Brainstorming setzte ein. „Sie ist die ewig Unterschätzte“, meinte die Korrespondentin des Deutschlandradios. „Sphinx, Analystin, Problemlöserin“, orakelte der Politikprofessor und Parteifreund Gerd Langguth. Sie sei „die Transitkanzlerin“, spottete ein „Spiegel“-Redakteur. „Für mich ist sie die oberste politische Sachbearbeiterin der Bundesrepublik Deutschland“ und obendrein „rätselhaft und mysteriös“, resümierte der Parteienforscher Elmar Wiesendahl.

Alle Umfragen besagen: Die Deutschen werden der in Hamburg geborenen, aber in der ehemaligen DDR aufgewachsenen Pastorentochter eine zweite Amtszeit schenken. Denn die SPD schwächelt notorisch. Ihr Herausforderer, SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier, liegt in den persönlichen Werten etwa 40 Prozentpunkte hinter seiner Kabinettschefin Merkel. Ihr „Wunschpartner“, die oppositionelle FDP, will sie unbedingt zur Kanzlerin wählen. Auch die SPD würde dies wohl wieder tun. Ihr bliebe wohl nur die große Koalition, schließt sie die Option einer rot-rot-grünen Mehrheit doch auf nationaler Ebene kategorisch aus. Die Grünen sind gar nicht begeistert, aber auch nicht kategorisch Anti-Merkel.

Sie hat Optionen in Fülle. Sie wird mit höchster Wahrscheinlichkeit wieder Kanzlerin. Aber das Mysterium bleibt.

Seit April 2000 führt die Parteichefin die CDU. Aufgestiegen in den Stürmen einer Parteispendenaffäre, hatte Merkel zunächst ihren Ziehvater Helmut Kohl, dann dessen Nachfolger Wolfgang Schäuble beiseitegeräumt – nicht die einzigen CDU-Männer, denen Merkels Machtkalkül in die Quere kam. Auch Lothar de Maizière, der letzte DDR-Ministerpräsident, und der ewige Westrivale Friedrich Merz mussten ihr weichen. Zuweilen raunte man in der Christenunion von der „schwarzen Witwe“. „Die Zahl ihrer Skalps ist enorm“, meint der CDU-Professsor Langguth nicht ohne Bewunderung.

Einlull-Wahlkampf. Sie zittern vor ihr. Das zeigte sich erst vergangene Woche wieder. Drei Landtagswahlen hatten am vorvergangenen Sonntag stattgefunden, ein letzter Stimmungsindikator vor dem bundesweiten Wahlgang Ende September. Ein Desaster für die CDU: In Sachsen blieb sie noch stabil, auf einem für dortige Verhältnisse niedrigen Niveau. Ansonsten erlitten die Konservativen im Osten wie im Westen verheerende Niederlagen. Der Merkel-Vertraute und Ministerpräsident Dieter Althaus verlor in Thüringen fast zwölf Prozentpunkte. Vier Tage später trat er zurück. Ministerpräsident Peter Müller büßte im Saarland gar 13 Prozent ein. Dort will die SPD eine Koalition mit Grünen und Linkspartei wagen.

Zwei CDU-Fürsten erledigt – doch Merkel gibt sich ganz gelassen. Sie hielt sich am Wahlabend von den Medien fern, ließ ihren Generalsekretär Ronald Pofalla passende Worte finden. So viel Coolness verstörte manche Christdemokraten dann doch. CSU-Chef Horst Seehofer mahnte, jetzt bitte mal „Vollgas“ zu geben. Die Junge Union forderte mehr „Emotionen“ ein. Ansonsten mussten Journalisten lange wühlen, um auf einen Kritiker zu stoßen. Einer fand sich in Josef Schlarmann, Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, der erklärte, bislang sei der Wahlkampf „inhaltlich profillos“. Merkel habe ihre Kampagne „vorrangig auf sich selbst zugeschnitten“.

Merkel rüffelte den vorlauten Mann am nächsten Morgen im Parteipräsidium. „Wir liegen vollkommen richtig“, verkündete die CDU-Vorsitzende darauf. „Wir waren uns vollkommen einig.“ All ihre Vizes, Minister und Landesfürsten nickten beflissen. Da können die Medien noch so viel Hohn über den „Watte-“ und „Einlull-Wahlkampf“ und die „Camouflage“ der „Chef-Anästhesistin“ ausgießen. „Guter Wahlkampf ist nicht Streit“, predigt Merkel und geht es betont locker an. Acht Wochen vor der entscheidenden Wahl weilte sie noch wandernd im Südtiroler Pustertal („Ein bisschen Muskelkater schadet schließlich auch nicht“).

Lässig wechselt sie zwischen den Welten, fliegt an einem Tag mit dem Regierungsairbus „Theodor Heuss“ zum Treffen mit dem russischen Präsidenten Dmitri Medwedew nach Sotschi, um am nächsten Tag im Saarland zur Sommerparty mit Grillwurst und Badespaß anzutreten. Auch vergangene Woche schien die Dramaturgie perfekt: Am Montag schaute Nicolas Sarkozy in Berlin vorbei. Am Dienstag traf sie bei der Gedenkfeier zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Wladimir Putin, Silvio Berlusconi und, ja, auch Werner Faymann auf der Danziger Westerplatte. Von dort flog sie weiter nach Schleswig-Holstein, ein bisschen wahlkämpfen.

Am Mittwoch leitete sie ihr Kabinett, eilte dann zu zwei Auftritten nach Rheinland-Pfalz. Am Donnerstag eröffnete sie die Internationale Funkausstellung, hielt danach Reden in Süddeutschland. Fürs Wochenende waren weitere Kundgebungen und ein Staatsbesuch des britischen Premiers Gordon Brown im Kanzleramt geplant. So mischt Merkel Staatsgeschäfte und Wahlwerbung. Die Krönung des Timings: In den Tagen vor der Abstimmung wird sie mit den Größen dieser Welt beim G20-Gipfel in Pittsburgh weilen. Bei Gipfeln macht sie meist gute Figur. Das stützt ihre wichtigste Botschaft: Ich regiere weiter.

Wahlkampf daheim hingegen war nie ihre große Stärke, eher lästige Pflicht. 60 Großkundgebungen sind geplant. Meist werden die Rolling Stones erklingen – zur Einleitung „Start Me Up“, zum Abschluss „Angie“ schnulzen. Auch das ist schon Routine. Dazwischen muss ein wenig Merkel sein. Das Land brauche eine Regierung, „die keine Experimente veranstaltet, die zudem den Staat rasch aus der Talsohle bringt“, sagte sie kürzlich auf dem Domplatz in Münster. Dann stellte sie sich in eine Reihe mit Staatsmännern, „denen wir alle viel verdanken“: Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Und gab ein Bekenntnis zu Guido Westerwelle ab: „Ich glaube, dass wir mit der Koalition mit der FDP den Pfad aus dem Tal heraus besser schaffen.“

Weil die Rednerin Merkel mit ihrem trockenen Satzbau und der von viel Schwerkraft herabgezogenen Mimik auf das Publikum eine eher sedierende Wirkung ausübt, kommt erneut ein „Team“ freudiger Jungmenschen zum Einsatz. Diese Begeisterungskomparsen schwenken „Angie“-Schilder und verteilen sie auch im Publikum, was den Mobilisierungswert der Fernsehbilder verbessert. Trotzdem ist es schon vorgekommen, dass Nachrichtenagenturen Berichte von Merkel-Auftritten storniert haben – „mangels Nachrichtenwerts“.

Majestäts-Plural. Wahl ohne Kampf. Kein Angriff nirgends. Die Sozialdemokraten werden schon ganz nervös, weil sie die Kontrahentin nicht zu packen kriegen. Die wolle sich „irgendwo da durchhangeln“, schimpft SPD-Chef Franz Müntefering. Es sei nicht sehr demokratisch, meint auch der grüne Fraktionschef Fritz Kuhn, „sich heimlich und ohne jede klare Aussage ins Kanzleramt schleichen zu wollen“.

Die CDU setzt auf das Prinzip Watte. Früher war es etwa in der Fraktion üblich, vor Wahlen Konzepte zu erarbeiten, welche Ziele mit wem bestmöglich zu erreichen seien. Diesmal blies Fraktionschef Volker Kauder alle Planungen ab – um keine Papiere zu produzieren, die womöglich in den Medien landen könnten. Stattdessen projiziert die CDU ein diffuses „Wir“ in die Welt, setzt auf wolkige Worte wie „Mitte“ oder „Kraft“. Wir haben alles gut im Griff, lautet die Kernbotschaft. Wir – ein Pluralis Majestatis für Angela Merkel.

„Unser Ziel heißt: Arbeit für alle!“, ruft Merkel. „Und Wachstum schafft Arbeit!“ Konkreten Debatten aber weicht sie aus. Dem Streit um Atomkraft etwa, durch eine Serie von Störfällen, Enthüllungen und Skandalen seit Monaten wieder hochaktuell. Ein Testlager für Atommüll ist akut einsturzgefährdet. Inzwischen sind eindeutige Indizien aufgetaucht, dass schon vor Jahren Gutachten für das geplante Endlager Gorleben auf Intervention von Regierungsvertretern gefälscht wurden. Die Physikerin Merkel aber erklärt nur: „Wir brauchen die Kernenergie als Brückenenergie länger als bis 2020.“

Auf Sicht. Wenn Merkel spricht, klingt sie eher sozialdemokratisch; sie geißelt die „maßlose Gier“ der Banker und spottet über Manager, die nun auf ihren Yachten über die Weltmeere kreuzen. Als vergangene Woche ruchbar wurde, dass Karl-Gerhard Eick, gescheiterter Chef des insolventen Handels- und Touristikkonzerns Arcandor, nach sechs Monaten erfolgloser Arbeit mit 15 Millionen Euro abtritt, zischte Merkel: „Dafür habe ich absolut kein Verständnis.“ Sonst aber bleibt sie selbst auf dem CDU-Kerngebiet der Wirtschaft in Deckung. Die vage Verheißung von Steuersenkungen, vor allem vom Wunschpartner FDP dringend gefordert, ist nach Ansicht von Experten bei einer explodierenden Neuverschuldung von 50 Milliarden Euro in diesem und bis zu 100 Milliarden Euro im kommenden Jahr wenig realistisch.

Macht die Krise sie sprachlos? Die Merkelogen sind zerstritten. Sie sei einfach pragmatisch, unideologisch, „ankerlos“, meinen die einen. „Sie hat keine Vorstellung von Zukunft, davon, wie Deutschland einmal aussehen könnte“, sagt Politologe Wiesendahl. Auch viele Journalisten kritisieren, die Kanzlerin erkläre selten, wohin die Reise geht, schweige sich aus über die größeren Linien ihrer Politik. Sie sei geradezu allergisch gegen klare Worte. Selbst jetzt, in Krisenzeiten, im Wahlkampf. Merkel selbst hat einmal erklärt, sie fahre „auf Sicht“.

Das Kalkül dahinter? Hauptsache Kanzlerin? Egal, mit wem? Womöglich begreift sie sich wirklich als erste Hausmeisterin der Republik. Merkel, meinen manche Beobachter, habe in der DDR von Kindesbeinen an Unauffälligkeit gelernt. Die Pastorenfamilie Kasner stand am Rand der sozialistischen Gesellschaft, ohne wirklich Opposition zu sein. Tochter Angela, „Kasi“ genannt, kam in die Pionierorganisation Ernst Thälmann, auch in die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Später, am Zentralinstitut für Physikalische Chemie, wirkte sie sogar als Mitglied der FDJ-Kreisleitung und Sekretärin für Agitation und Propaganda. Das sei „Kulturarbeit“ gewesen, erklärte sie nach der Wende.

Lernt man so, zweideutig zu bleiben, jedes Radar zu unterfliegen? Eher zufällig landete sie 1990 beim Demokratischen Aufbruch, der bei den ersten und letzten freien Wahlen der DDR ganze 0,9 Prozent der Stimmen einfuhr und bald in der CDU aufging. Merkel ergatterte den Job der Vizeregierungssprecherin. Ihre Ostförderer verblassten bald, sie aber wurde „Kohls Mädchen“. Acht Jahre lang war die Frau mit den spießigen Klamotten, dem unschuldigen Lächeln und der Topffrisur Bundesministerin im wiedervereinigten Deutschland. Dann kam die rot-grüne Koalition, die schwarze Macht ging flöten. Und der Höhenflug Merkels begann.

Dabei verkörperte sie rein gar nichts, was bis dahin als klassisch CDU gegolten hatte. Sie war keine Patriarchin und nicht katholisch. Sie hatte keinen schwarzen Stallgeruch, keine Schulung in bürgerlichen Ritualen. Sie besaß keine Machtbasis, kein gewachsenes Netzwerk, kein Talent zum Mitreißen. Sie kannte den Kapitalismus nicht, war weder national noch schwulenfeindlich, nicht einmal so richtig kernig antikommunistisch, obwohl sie aus dem Osten stammte. Und stieg doch im Nu zum Oberhaupt der konservativen deutschen Volkspartei auf.

Programmklau. Ist sie überhaupt konservativ? Unlängst, bei einer Matinee der Hamburger Wochenzeitung „Zeit“, zitierte der rechtskonservative Herausgeber Josef Joffe genüsslich Begriffe von der Website angelamerkel.de, die ihm allesamt ein Graus sind: „Solidarität und Gerechtigkeit“, „Arbeit für alle“, „Integrationsland“, „Klimaschutz“, „Gleichberechtigung“ und so fort. „Hat sich eigentlich Münte“ – der Spitzname von SPD-Chef Müntefering – „schon bei Ihnen wegen Programmklau beschwert?“, stichelte er. Merkel schien zunächst stoisch. Dann lächelte sie und sprach: „Ich kann für Sie heute morgen nicht extra konservativ sein.“

Die anderen sagen: Wartet nur ab! Alles Taktik. Denn vor der letzten Wahl 2005 hatte Merkel völlig andere Töne angeschlagen, sich wie eine Wiedergeburt von Margaret Thatcher präsentiert: mehr Privatisierung, weniger Staat. Als Reformmeister zauberte sie den Professor Paul Kirchhof aus dem Hut, der eine Flat Tax verkündete. Merkel warte nur auf die Koalition mit dem Wunschpartner FDP, um das Land endlich umzukrempeln, sagen die letzten Gläubigen der neoliberalen Heilslehre.

Einig sind sich alle nur darin: Die Frau ist äußerst beherrscht und gut organisiert. Ihr „Girl’s Camp“, der kleine vertraute Kreis im Kanzleramt, gilt als hocheffizient, mit der Chefin per SMS ständig verbunden. Sie schätzt Loyalität.

Und doch hört man leises Murren aus der Partei. Schon mäkelt Günther Oettinger, Landesfürst von Baden-Württemberg: „Im Schlafwagen werden wir die Wahl nicht gewinnen.“ Was umso spitzer ist, als Merkel Mitte September von Adenauers rheinischem Wohn- und Sterbeort Rhöndorf mit dem Rheingold-Express zur „Deutschlandreise“ bis Leipzig fahren will – in die „Heldenstadt“ der Wiedervereinigung. Via Bonn, wo am 15. September 1949 die 14-jährige Kanzlerschaft Adenauers ihren Anfang nahm, mit der knappen Parlamentsmehrheit von einer Stimme – seiner eigenen.

Das wird viele schöne Bilder bringen: 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Einheit. Da dockt die Kanzlerin aus dem Osten symbolträchtig an BRD-Geschichte an, mit der sie im Alter von 36 Jahren erstmals Kontakt hatte. Seit Jahren schon hängt ein Adenauer-Porträt von Oskar Kokoschka in ihrem Arbeitszimmer.

Sonst aber setzt sie jetzt lieber auf Boulevard, zeigt sich in der idyllischen Kulisse der heimischen Uckermark, spricht in Frauenblättern über Beethoven und Beatles, über Kochrezepte, Kuchenbacken und erste Küsse. Merkel sei „lebensfähig und lebenstauglich“, meldet die Zeitschrift „Focus“. In Berlin heißt es, im kleinen Kreis sei sie sehr witzig.