Deutschland: Das Machtschattengewächs

Angela Merkel will die erste Kanzlerin werden

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Eine Phalanx junger Helfer in orangen T-Shirts streckt die Arme gen Himmel, hält orange Tafeln über den Kopf, auf denen „Angie“ steht. Gute Stimmung sollen sie machen, wie auch die Band, fünf mittelalte Musiker, die zusammen mit einer hampelnden, recht knapp bekleideten Dame Evergreens über den Platz peitschen.

Es ist Wahlkampf. Da muss etwas passieren. Da wollen Emotionen geweckt, motivierende Bilder produziert werden. Da wird nichts dem Zufall überlassen, jeder Farbton überprüft, jede Kulisse gecheckt, jeder Satz abgeschmeckt. Damit die Kandidatin immer optimal rüberkommt.

Die Tafeln sind verteilt, die Musik schwillt an. Schon entsteht hinten auf dem Platz ein Unruhewirbel: Bodyguards und Kameras drängeln. Die Kandidatin kommt. Um einen „Riesenapplaus“ bittet der Einheizer am Mikrofon: „Begrüßen Sie die Zukunft, die Hoffnung und die Lösung unserer Probleme!“ Die Stimme überschlägt sich, heißt die „zukünftige Kanzlerin“ willkommen. Lächelnd betritt Angela Merkel die Bühne.

Nein, Show liegt ihr nicht. Sie ackert sich durch ihren Text, zwingt die Mundwinkel hoch. Nur jetzt nicht diese miese, sauertöpfisch wirkende Merkel-Miene aufsetzen, dieses „Tante-Emmi-Gesicht“, wie sie es selber nennt. Zuversicht soll sie verströmen. Ihr Kopf wird überlebensgroß vervielfacht von einer riesigen Videowand.

Immer wieder reißen Helferlein emsig die „Angie“-Schilder hoch, auch blaue Tafeln mit dem Kommando „Wechsel wählen“. Alles funktioniert: die Slogans und die ganze Choreografie; Ton, Licht und Farben stimmen. Angela Merkel gibt sich als redliche Reformerin, die Arbeit schaffen, aber die Menschlichkeit nicht vergessen will. Die Rentner kommen vor, die innere Sicherheit, auch die Türkei, die nicht in die EU soll. Oft sagt sie „Deutschland“, am Ende singt sie mit den Lokalgrößen die Nationalhymne. Zum Abschluss erklingt „Angie“, die traurige Ballade der Rolling Stones – obwohl deren Management bereits interveniert hat.

Die Kandidatin hat dieses Prozedere landauf, landab dutzende Male absolviert. Es läuft recht flüssig. Die Rede ist nicht fesselnd, doch nahezu fehlerfrei. Nur als sie dem pfeifenden, „Lüge“ brüllenden Pulk vorne rechts Paroli bieten will, verhaspelt sie sich. „Das Schöne an unserer Demokratie“, will Merkel wohl sagen. Heraus kommt: „Das Schöne an unserer Demonstration …“ Typisch Merkel. Spontan geht selten gut. Als sie vorvergangene Woche nach der Rolle des ewigen Rivalen Edmund Stoiber gefragt wurde, amüsierte sie die Presseschar mit dem Satz: „Über Edmund Stoiber und seine Rolle haben wir gemeinsam und jeder für sich alleine oft gesprochen.“ Im Juli bescheinigte sie dem Kanzler im Bundestag überraschend „Handlungsfähigkeit“ – da war ihr die Silbe „un“ abhanden gekommen. Gleich darauf wollte sie plötzlich mit der SPD koalieren. Gemeint war selbstverständlich die FDP. Kann passieren.

Man muss in Deutschland kein glänzender Orator sein, um zu siegen. Ihr Ziehvater Helmut Kohl hat 16 Jahre geherrscht und in dieser Zeit kaum einen grammatisch korrekten Satz herausgebracht. Vielleicht steigert das gar die Spannung. Wenn Merkel im TV auftritt, fiebert der Zuschauer nicht selten unfreiwillig mit. Wird sie diese Attacke parieren können? Wird sie diesen verqueren Satz doch noch einlochen?

Aber Begeisterung? Fehlanzeige. Auf den Marktplätzen sinkt der Enthusiasmus mit jedem Meter Entfernung von der Bühne – zumal im Osten, wo die Skeptiker wohnen. Und das, obwohl Merkel eine von ihnen ist. Doch die Spitzenkandidatin des CDU-Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern, im Juli mit einem DDR-Ergebnis von 99,3 Prozent nominiert, fürchtet den Herkunfts-Trumpf auszuspielen. Das könnte die Erfolgsstory beschädigen – von der forschen Frau, die in der westlichen Männerwelt siegen lernte. Viele Ostdeutsche sagen ohnehin: „Das ist keine von uns mehr.“ Sie redet zu viel von „Leistungsträgern“. „Wir wollen leben“, ruft ein Betrunkener dazwischen, „und keine Armut!“

Antityp. Immerhin hört man ihr zu. Die Bürger kommen in Scharen, neugierig auf diese Angela Merkel, die sich nach oben geboxt hat in diesem katholischen Männerverein namens CDU, trotz all ihrer vermeintlich unvorteilhaften Eigenschaften: Frau, Ossi, evangelisch, kinderlos. Nicht einmal Jura hat sie studiert. Kann die das schaffen?

Merkel will nicht begeistern. Sie weiß: Was dem Lächler Schröder mühelos zufliegt, muss sie sich hart erarbeiten. Sie hat nur Minimaltemperament zu bieten. Ihr Charisma ist stark unterentwickelt. Ihre Bewegungen wirken tapsig. Und wenn die Topdesigner und der Szenefriseur mit ihr fertig sind, sieht sie in der Regel immer noch nach Uckermark im Hosenanzug aus. Sollte Merkel gewinnen, schreibt Elisabeth Noelle, Grande Dame der deutschen Demoskopie, wäre dies „ein Einschnitt in der Geschichte der öffentlichen Darstellung von Politik“.

Aus der Not macht Merkel eine Tugend, verkauft sich als Antityp zum stets gewandten, charmanten, eleganten Noch-Kanzler, als die nüchterne Frau Doktor, die schlechte Nachrichten und bittere Pillen im Köfferchen hat. Sie wolle „ehrlich“ sein, sagt sie, „überzeugen“. Das trägt Früchte. Noch immer gilt Schröder beim Volk als weitaus schwungvoller, lockerer, sympathischer, humorvoller, auch als dreimal besserer Redner. Doch das Vertrauen ist dahin. Beim Wert Ehrlichkeit geht die Kandidatin mit Abstand als Erste durchs Ziel. Seine Rolle spiele Schröder perfekt, stichelt Merkel, aber „das Amt füllt er nicht aus“.

Und sie? Hat sie das Rüstzeug, es besser zu machen? Die Jugend der Pfarrerstochter im brandenburgischen Templin scheint behütet gewesen zu sein, geradezu idyllisch. Ihre Clique funktionierte, in der Schule war sie Klassenbeste, ohne als Streberin zu gelten, gewann Mathematik- und Russisch-Olympiaden. Boulevardblätter ergötzen sich in Merkel-Porträts gern daran, dass der nette Kumpel Angela schon als Teenie einer Art CDU angehörte: dem „Club der Ungeküssten“.

In der DDR lebte Merkel wie in Zeitlupe, eher unspektakulär – nicht rebellisch, nicht völlig angepasst. Sie hatte ein bisschen Ärger an der Schule, machte aber auch Kulturarbeit in der FDJ. Sie studierte, zeltete, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften, heiratete, ließ sich wieder scheiden. Beschleunigt waren nur die Kohlenwasserstoffteilchen, über die Merkel 1986 promovierte.

Doch das ist Geschichte, Schmalz von gestern. Die DDR ist seit 15 Jahren passé. Mit ihrem Ende begann das zweite Leben der Angela Merkel, ungleich rasanter und kurvenreicher. Sie ging zum Demokratischen Aufbruch, war im Nu Vizesprecherin der letzten Regierung de Maizière. Schon entdeckte sie der Kanzler Kohl, kürte sie zum Quotenmädchen seines Wiedervereinigungs-Kabinetts. Nicht einmal Astrologen hätten damals geahnt, dass sie ihn keine zehn Jahre später entmachten und an seine Stelle treten würde.

Angela Merkel wird notorisch unterschätzt. Dabei lernt sie offenbar blitzschnell. Ihren Mentor Kohl studierte sie genau, diesen Maschinisten der Macht, der die Republik per Telefon regierte, überall seine Fäden spann und regelmäßig auf Haltbarkeit prüfte. Längst hat sie auch im Herrschen eine Eins. Wie der Alte, heißt es, traktiere sie sonntags das Fernsprechgerät, bis alle Parteirollen hübsch verteilt und die Woche politisch wasserdicht ist. „Vielleicht hat Angela Merkel den Westen des neuen Jahrhunderts besser verstanden als der Westen sich selbst“, meint ihr alter Wissenschaftskollege, der heutige Theatermann Michael Schindhelm.

Wie tickt diese Frau? Haufenweise Porträts wurden geschrieben, dazu vier Biografien. Das Mysterium bleibt. Die Merkelogie treibt immer neue Blüten. Als sie 2000 Parteichefin wurde, setzte es Hymnen für die neue Jeanne d’Arc der Christdemokratie. Später schlug die Meinungsmacherlaune um. Nun war sie die „schwarze Witwe“ („Stern“), die mit kaltem Herzen und „Killerinstinkt“ („Die Zeit“) alle Widersacher beseitigt. Erst jetzt, da ihr das Kanzleramt nahezu sicher ist, schmiegt sich auch der journalistische Hofstaat wieder enger an die Leitfigur.

Hausputz. Das Phänomen M. unterliegt extremen Konjunkturschwankungen. Die Physikerin ficht das kaum an. Sie ist analytisch genug, die abstrusen Rituale des Berliner Politbetriebes zu durchdringen. Tatsächlich hatte die ambitionierte Merkel nach der Stoiber-Niederlage 2002 wohl keine andere Wahl, als sich mit harten schnellen Schnitten ein Maximum an Macht zu sichern. Fraktionschef Friedrich Merz musste weg – die Parteichefin brauchte diese zweite Basis für sich, sie hatte keine andere. Der von ihr abgelöste Interims-Parteichef Wolfgang Schäuble war viel zu eigenständig für den Spitzenjob des Bundespräsidenten. Den CSU-Rivalen Edmund Stoiber konnte sie auf Muppetshow-Format schrumpfen lassen. Und selbst die karrierefreudige Garde der CDU-Fürsten – angeführt von Roland Koch (Hessen) und Christian Wulff (Niedersachsen) – landete im Orchestergraben.

Binnen kürzester Zeit zog sie in Fraktion und Parteizentrale eine neue Ebene loyaler Gefolgsleute ein. Manche waren Überläufer, der Generalsekretär Volker Kauder etwa, einst Stoiber-Fan. Andere hat sie aufgebaut: ihren parlamentarischen Geschäftsführer Norbert Röttgen, den Wirtschaftssprecher Ronald Pofalla, auch den milchbubigen Eckart von Klaeden, der sich jüngst im Visa-Untersuchungsausschuss als Fischer-Ankläger versuchen durfte. So mehrt sich die Schar der „Merkelianer“, von Kritikern abschätzig die „Boy Group“ genannt. Auch unter den Ministerpräsidenten gelten einige als treu: Den Thüringer Dieter Althaus und den Saarländer Peter Müller holte sie gar in ihre Schattenmannschaft, „Kompetenzteam“ genannt.

Was aber hat die Abgeordnete des Wahlkreises Stralsund-Nordvorpommern-Rügen mit Deutschland vor? Wohin geht die Reise? Ihre CDU, im Bundesrat mit üppiger Blockademehrheit ausgestattet, handelte mit Kanzler Schröder allerlei aus, die Gesundheitsreform etwa oder das Paket der Hartz-Gesetze. Schröders und Merkels Einflüsterer sind teilweise identisch. Der Kanzler bewunderte Ex-Siemens-Chef Heinrich von Pierer. Die Kandidatin lobte ihn als „Eisbrecher“.

Grundsätze. Vor knapp zwei Jahren hielt Merkel eine Grundsatzrede, die beim Wirtschaftsflügel der Union die Hoffnung weckte, eine neue Margaret Thatcher sei geboren. „Quo vadis, Deutschland?“, fragte sie und wetterte gegen das „irrwitzige Dogma der Umverteilung“. Sie kündigte eine Umwälzung des Gesundheitswesens und jene radikale Steuerreform an, die sie nun mit der Berufung des konservativen Finanzprofessors Paul Kirchhof befördern will. „Es wird dabei Heulen und Zähneklappern geben“, prophezeite Merkel damals. „Aber es muss sein.“

Das Prinzip ist überall ähnlich: Die breite soziale Staffelung wird aufgehoben. Für Merkels Krankenversicherung mit Kopfpauschale zahlen Marktfrauen und Manager den gleichen Satz. Auch die Steuer soll nach Kirchhofs Ideal als Flat Tax erhoben werden: 25 Prozent für alle. Die Kandidatin will einen staatlich gestützten Niedriglohnsektor schaffen, den Kündigungsschutz weiter reduzieren, das Rentenniveau „langsam, aber deutlich“ senken und die Wochen- und Lebensarbeitszeit verlängern. Neoliberale stimmt dies hoffnungsfroh.

Nur die Nationalkonservativen fremdeln: „Das Eigenartige an dieser sich anbahnenden Wende ist ihre weltanschauliche Kühle“, moniert der Chefredakteur der Zeitschrift „Cicero“, Wolfram Weimer. „Die heißen Sphären der konservativen Denkwelt – die Nation, die Religion, die Familie, die Tradition – bleiben tief im Gefrierfach des Adenauerhauses verschlossen.“

Wie ein Schiff liegt die Parteizentrale am Landwehrkanal, ein geschwungener Bau, gefangen in einem riesigen Glasbassin, meist mit gigantischen Slogans verhängt. „Deutschlands Chancen nutzen“ steht dort derzeit in Riesenlettern auf schwarz-rot-goldenem Grund. Angelas Dampfer will bald ablegen.

Das Büro der Chefin liegt ganz oben, vorn im Bug. Darüber flattert die Parteifahne. Die Action aber ist im zweiten Stock, der Wahlkampfetage. Auch hier dominiert Orange, ein erfolgversprechender Farbton. CDU-Mann Ole von Beust triumphierte vergangenes Jahr in Hamburg mit Orange. Orange ist in – von Jörg Haider über den ukrainischen Aufbruch bis zu den israelischen Siedlern. Als Kontrast hängen im Flur uralte Plakate aus Zeiten, da Werbung noch handgestrickt war, mit Slogans wie „Wähl auch Du CDU“.

Im Kampfgeschoß rattern die Kopierer, die Werber von McCann Erickson und Shipyard Nice Media – noch ein Hamburg-Import – brüten immer neue Attacken aus. Hier haust auch das „teAM Zukunft“ – eine Schar Freiwilliger, die für eine Pizza und ein Bett Wahlkampf machen, per Telefon und Internet. Sie schreiben Newsletters und frische „Testimonials“ – Merkel-Bekenntnisse mit Foto. Sie beschaffen Ordner, Flugblattverteiler und viel fröhliches Publikum für die Angie-Events. 12.000 Unterstüt-zer seien schon beisammen, meldet der „teAM“-Manager. Die schräge Schreibweise soll die Initialen der Kandidatin hervorheben.

„Ich will für meine Kinder eine vernünftige Zukunft haben“, erklärt Helfer Axel Jührs, 46, und greift zum Telefon. „Politik ist mein Hobby“, bekundet Claudia Dunsche, 22, Studentin der Betriebswirtschaft und offenbar süchtig nach Agitation. „Das ist mein vierter Wahlkampf in einem Jahr“, sagt sie stolz; Angela Merkel sei „eine Frau, die ihren Weg machen wird“. An den Wänden hängen bunte Fotos der Kandidatin – „unsere Fan-Wand“. Auf einer Stelltafel läuft der Countdown: „Nur noch x Tage bis zum Wechsel in Deutschland.“ Die Zahl wird allmorgendlich kleiner.

Von Tom Schimmeck