Das Nursultan-Experiment

Die Weltorganisation OSZE und ihr bizarres Vorsitzland Kasachstan

Diplomatie. Die Weltorganisation OSZE und ihr bizarres Vorsitzland Kasachstan

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Spätestens an diesem Montag werden die Bewohner von Astana endgültig überzeugt sein, dass ihre Stadt der Mittelpunkt der Welt ist – ausgerechnet Astana, vor 15 Jahren noch ein Kaff im Nirgendwo der kasachischen Steppe, 2300 Kilometer von Moskau entfernt, 4500 von Brüssel, 9200 von New York und noch ein gutes Stück weiter von jeder internationalen Bedeutsamkeit.

Aber ab Anfang der Woche liegt Astana ganz im Zentrum der Weltpolitik. Aus New York reist UN-Generalsekretär Ban Ki-moon in die Hauptstadt der Republik Kasachstan an, aus Brüssel EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, aus Moskau Russlands Präsident Dmitri Medwedew. Weiters kommen US-Außenministerin Hillary Clinton, Frankreichs Staatschef ­Nicolas Sarkozy und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel: hohe und höchste ­Repräsentanten aus insgesamt 56 Ländern, darunter auch der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer.

Ein Auftrieb wie dieser muss gute Gründe haben. Aber diese sind je nach Perspektive recht unterschiedlich. Für die Leute von Astana dürfte der Eindruck entstanden sein, dass all die wichtigen Besucher nach Ka­sachstan eilen, um jenem Mann ihre Aufwartung zu machen, der seit Wochen von nahezu jeder Plakatwand der Stadt blickt: Präsident Nursultan Nasarbajew.
Für die Staatsgäste hingegen zählen in erster Linie jene vier Buchstaben, die neben den Konterfeis des Gastgebers prangen: Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) hält ihr erstes Gipfeltreffen seit elf Jahren ab. Ausgerechnet in Astana.

Das Gefälle könnte kaum größer sein:
hier die internationale Organisation, die sich der Sicherung von Demokratie, Menschenrechten, Meinungs- und Medienfreiheit verschrieben hat; dort der mit eiserner Hand regierende Autokrat Nasarbajew, der sich erst vor wenigen Monaten zum „Führer der Nation“ auf Lebenszeit ernennen ließ – ­dessen Land dennoch seit Jahresbeginn den prestigereichen Vorsitz der OSZE führen darf. Ein unauflösbarer Widerspruch? Nicht in der Logik der Diplomatie.

Die OSZE und Kasachstan:
Das ist die Geschichte einer Parallelaktion, die kaum bizarrer hätte ablaufen können.

Die OSZE, die nobel in der Wiener Hofburg residiert, ist eine honorige und ein wenig behäbige Institution: Ihr gehören alle Staaten Europas, die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sowie die USA und Kanada an. Zwischen Vancouver und Wladiwostok kümmert sie sich um Friedenssicherung und Konfliktbewältigung, bewertet die Abhaltung von Wahlen und beobachtet die Einhaltung von Menschenrechtsstandards. Normalerweise herrscht nicht sonderlich viel Aufhebens darüber, welches Land gerade den Vorsitz der OSZE führt. Heuer ist das anders.

Denn das Ansinnen Kasachstans, als erstes zentralasiatisches Land und erste Ex-Sowjetrepublik für die Präsidentschaft zu kandidieren, hatte bereits 2003 für Stirnrunzeln gesorgt. Vor allem die USA und einige EU-Mitglieder machten keinen Hehl aus ihren Vorbehalten. Zu weit schien ihnen die Regierung in Astana von den Grundsätzen der OSZE entfernt. Was Menschenrechtsorganisationen berichteten, stützte diese Zweifel.
Um sie zu entkräften, gab das Land bei einem Treffen in Madrid 2007 weitreichende Versprechungen ab: Es würde seine restriktiven Mediengesetze gemäß den Grundsätzen der OSZE reformieren, die Empfehlungen der Organisation in Bezug auf freie Wahlen umsetzen, die Rolle des Parlaments stärken und sicherstellen, dass dort nicht länger nur eine einzige Partei vertreten sei.

Das klang zwar gut, ließ die Skepsis aber nicht gänzlich verfliegen. Noch 2008 urteilte Richard Boucher, der für Zentralasien zuständige stellvertretende US-Außenminister, in einem Hearing der US Helsinki Commission: „Kasachstan hat in den vergangenen sechs Monaten keine wesentlichen Verbesserungen zum Schutz der Menschenrechte gemacht.“
Wenig später bekam der neuntgrößte Flächenstaat der Welt dennoch einstimmig den Zuschlag für 2010. Ein bisschen Vertrauen wollte man Präsident Nursultan Na­sarbajew denn doch entgegenbringen – nicht zuletzt aus Anerkennung dafür, dass er das Land nach dem Ende der Sowjetunion ohne Chaos und Blutvergießen in die Unabhängigkeit geführt hatte.
Die Frage, ob sich gerade dieser Mann als Aushängeschild der OSZE eignet, spielte plötzlich keine Rolle mehr.

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Nursultan Nasarbajew hält sich viel darauf zugute, ein bescheidener Mensch zu sein. „Ich habe immer versucht, über aller Eitelkeit zu stehen, und das bleibt meine Haltung“, verbat er sich bei den Feierlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag vor wenigen Monaten jeglichen Pomp.

Tatsächlich nimmt der Personenkult um den Langzeit-Staatschef aber immer mehr zu. Der Feiertag von Astana, das er ab 1997 als neue Hauptstadt aus dem Boden stampfen ließ, wird just an seinem Geburtstag zelebriert. Die kürzlich eröffnete Universität ist auf seinen Namen getauft. Im Ensemble des Unabhängigkeitsdenkmals Kazak Yeli kann man den ersten Präsidenten Kasachstans als Statue bewundern.

Um den Rückhalt der Bevölkerung braucht sich Nasarbajew nicht zu sorgen. Umfragen ergeben regelmäßig Zustimmungswerte um die 90 Prozent.
Das hat einerseits durchaus objektive Gründe: Mit der Entscheidung, das von der Roten Armee geerbte Atomwaffenarsenal aufzugeben, bewies er Weitsicht. Die immensen Gewinne, die das Land aus seinem Rohstoffreichtum erzielt, ließ er zumindest teilweise der Bevölkerung zukommen: Vegetierte noch vor zehn Jahren die Hälfte der Kasachen unterhalb der Armutsgrenze dahin, sind es inzwischen nur mehr zwölf Prozent. Nicht nur in Krisenzeiten, wie etwa während der politischen Unruhen im benachbarten Kirgisistan vor wenigen Monaten, erweist er sich verlässlich als Garant für Stabilität.

Andererseits hat das sagenhafte Image Nasarbajews im eigenen Land wohl auch damit zu tun, dass selbst jene Medien, die zufälligerweise nicht im Einflussbereich des Herrscherclans stehen, keine Kritik zu äußern wagen. Wie auch, wenn die Beleidigung des Präsidenten in Kasachstan mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden kann?

Kasachstan im Jahr des OSZE-Vorsitzes: Das ist genau jener Einparteienstaat, der es laut den Verpflichtungen von Madrid längst nicht mehr sein sollte; ein Land, in dem noch nie Wahlen abgehalten wurden, die internationalen Kriterien entsprochen hätten; eine Autokratie, deren oberster Führer bereits seit 20 Jahren ununterbrochen an der Macht ist und sich das Recht auf unbegrenzte Wiederwahl eingeräumt hat.

Nasarbajew reicht das aber offenbar immer noch nicht. Im vergangenen Juni, zur Halbzeit des OSZE-Vorsitzes, ließ er sich zusätzlich zum „Führer der Nation“ auf Lebenszeit ernennen. Verbunden ist dieser Titel mit einer Reihe von Privilegien: etwa umfassenden politischen Befugnissen auch nach einem allfälligen Ruhestand, Immunität vor Strafverfolgung auf Lebenszeit und Unantastbarkeit des Vermögens seiner gesamten Familie.

Womit die OSZE erstmals in ihrer Geschichte von einem Land geführt wird, dessen Staatsoberhaupt praktisch jeder demokratischen Kontrolle enthoben ist.

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Wer in der OSZE zu erfahren versucht, war­um der Vorsitz letztlich an Kasachstan vergeben wurde, bekommt zunächst hehre Argumente zu hören: etwa die Überlegung, das Land durch den Druck der Verantwortung schneller an westlich-demokratische Standards heranzuführen und Reformen anzustoßen.

Im Spiel waren aber auch durchaus pragmatische Erwägungen. Immerhin ist das Land nicht nur aufgrund seiner geografischen Lage, sondern auch seiner Öl-, Gas- und Uranvorkommen wegen strategisch bedeutend.
Vergangene Woche besiegelten die USA und Kasachstan in Genf den erfolgreichen Abschluss ihrer bilateralen Gespräche über einen Beitritt des zentralasiatischen Lands zur Welthandelsorganisation WTO. Die Amerikaner sichern sich damit die Öffnung des kasachischen Markts für ihre Waren.
Für die USA ist Kasachstan zudem ein wichtiger militärischer Verbündeter. 2003 war es das erste islamische Land, das die US-Truppen im Irak mit militärischem Personal – konkret: Entminungsexperten – unterstützte. Es gewährt amerikanischen Flugzeugen Überflugsrechte für Afghanistan und tritt dort gleichzeitig als großzügiger Sponsor von zivilen Infrastrukturprojekten auf.

Auch Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy stellt sich mit seinem Amtskollegen gut. Vergangenen Oktober lud er den Autokraten aus Astana nach Paris ein, wo Nasarbajew nach Ansicht der Tageszeitung „Le Monde“ geradezu „gehätschelt“ wurde. Claude Guéant, Generalsekretär des Elysée-Palasts, nannte das kasachische Regime beim Diner „eine Insel der Stabilität und der Toleranz“. Und diese braucht auch Frankreich nicht nur geschäftlich, sondern zudem als Umschlagplatz für Truppentransporte nach Afghanistan.

Gleiches oder Ähnliches gilt für eine ganze Reihe von OSZE-Mitgliedstaaten – und deckt sich zudem mit dem Interesse der Organisation, für Frieden und Sicherheit in der Region zu sorgen: Sich ausschließlich auf die Menschenrechte zu konzentrieren greife eben zu kurz, heißt es hinter vorgehaltener Hand bei den Pragmatikern.

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Am 23. November, keine zwei Wochen vor Beginn des OSZE-Gipfels in Astana, ging in den USA ein für Kasachstan höchst peinliches Gerichtsverfahren auf wundersame Weise glimpflich zu Ende. Der Lobbyist James Giffen bekannte sich eines kleinen Steuervergehens schuldig und ging daraufhin frei. „Für die kasachische Regierung hätte das Timing nicht besser sein können“, kommentierte die üblicherweise gut informierte Website EurasiaNet.org den abrupten Abbruch des Prozesses.

Denn eigentlich war Giffen angeklagt gewesen, Nasarbajew und andere Angehörige des Regimes mit nicht weniger als 84 Millionen Dollar für die Vergabe von Ölgeschäften geschmiert zu haben. Der Fall lag so klar, dass Kasachstans Präsident bereits einem Deal zugestimmt hatte, die in der Schweiz eingefrorenen Gelder einer Stiftung für arme Kinder zukommen zu lassen.

Aber von Bestechung im großen Stil wollte die US-Justiz am Ende gar nichts mehr hören, war doch inzwischen bekannt geworden, dass Giffen mit Deckung der CIA gezahlt hatte, die sich dadurch mehr Einfluss in Kasachstan erhoffte.

Der Fall wirft ein bezeichnendes Licht auf das Ausmaß der Korruption, die sich im Dunstkreis von Nasarbajew ausgebreitet hat. Dort rittern mehrere Clans nicht nur um Macht und politischen Einfluss, sondern auch um das große Geld.

Nasarbajews älteste Tochter Dariga hielt millionenschwere Banken-Anteile und gilt als Gründerin des staatlichen TV-Senders Khabar, den sie auch jahrelang leitete. Timur Kulibayev, Ehemann der zweiten Tochter des Präsidenten, ist im Ölgeschäft zum Milliardär geworden. Vergangenen Freitag enthüllte die französische Tageszeitung „Le Monde“, dass die Schweizer Justiz bereits im September eine Untersuchung gegen ­Kulibayev eingeleitet hat. Der Verdacht: Geldwäsche in Höhe von 450 Millionen Euro. Womit auch nachvollziehbar wird, warum zu den Privilegien des „Führers der Nation“ auch besonderer Schutz des Privatvermögens der Präsidentenfamilie gehört.

Unter der schützenden Hand Nasarbajews hatte es auch sein früherer Schwiegersohn Rakhat Aliyev geschafft, durch Investments in Medien, Unternehmen, Immobilien und unter Anwendung skrupelloser Methoden ein immenses Vermögen zusammenzuraffen – bis er 2007 in Ungnade fiel, wegen einer Reihe von Kapitalverbrechen zu 40 Jahren Haft verurteilt wurde und in Österreich untertauchte.

Auf der Flucht verlor Aliyev zwar große Teile seines Reichtums. Was blieb, reicht aber immer noch für ein angenehmes Leben und gibt einen Eindruck vom Ausmaß der Bereicherung im Dunstkreis Nasarbajews: Noch immer verfügt Aliyev über mehrere hundert Millionen Dollar, die unter anderem bei österreichischen Banken liegen.

Aliyev nimmt für sich übrigens in Anspruch, Nasarbajew den OSZE-Vorsitz schmackhaft gemacht zu haben: „Ich erklärte dem Präsidenten, dass er ihm außerordentliche Vollmachten und Möglichkeiten geben würde“, heißt es in seinem Ab­rechnungsbuch „The Godfather-in-Law“ (in etwa „Der Schwieger-Pate“). „Besonders gut fand Nasarbajew die Möglichkeit, ein ganzes Jahr lang kostenlose Werbung für Kasachstan im Westen betreiben zu können.“

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Von den internen Querelen und Machenschaften des kasachischen Regimes ist nicht viel zu bemerken im täglichen Getriebe der OSZE am Heldenplatz. Na­sarbajews Diplomaten machen bei der Vorsitzführung einen guten Job, darüber sind sich die meisten einig: hochprofessionell, ambitioniert, sauber – und als erfolgreiche Vermittler zwischen dem westlichen und dem russischen Lager.

In vielen Bereichen braucht das Vorsitzland nicht aktiv zu werden, die Maschinerie läuft von allein. Finden etwa in einem Mitgliedsland Wahlen statt, rücken die Experten vom Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) aus und verfassen einen Bericht. Ihr Report zu den Wahlen in Kasachstans Nachbarland Tadschikistan im Februar etwa fiel harsch aus. Der Urnengang „entspricht vielen wesentlichen OSZE-Kriterien nicht, die für demokratische Wahlen erforderlich sind“, heißt es darin, das Wahlgesetz müsse komplett reformiert werden. Kasachstan mischte sich nicht ein. Immerhin hat es versprochen, die etwa von Russland nur ungern gesehene ODIHR keinesfalls zu schwächen.

Dank der unbestreitbaren Expertise der OSZE-Leute zieht niemand die Autorität der Organisation in Zweifel, auch wenn die aktuelle Präsidentschaft selbst nicht eben eine Garantin für Demokratie ist. Doch es gibt Momente, in denen das Verhalten des Vorsitzlandes einen Schatten auf die Reputation der Organisation werfen kann. Als der chinesische Oppositionelle Liu Xiaobo in diesem Jahr den Friedensnobelpreis zuerkannt bekam, reagierte Peking wütend. Das Regime fordert ausländische Regierungen auf, der Zeremonie am 10. Dezember in Oslo fernzubleiben. Nur sechs Länder haben angekündigt, keinen Vertreter zu entsenden – darunter das OSZE-Vorsitzland Kasachstan.

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Man kann es durchaus eine unerfreuliche Premiere in der Geschichte der OSZE nennen: Ende April musste sich Kairat Abdrakhmanov, kasachischer Botschafter bei der OSZE und damit ihr Vorsitzender, vor seinen Kollegen gegen den Vorwurf eklatanter Menschenrechtsverletzungen verteidigen. Es ging um den Fall von Evgeny Zhovtis. Der Aktivist war in einen tödlichen Verkehrsunfall verwickelt gewesen und dafür zu vier Jahren Haft verurteilt worden – in einem umstrittenen Verfahren, hinter dem nicht nur NGOs politische Erwägungen vermuteten.

Was Angehörige der OSZE nicht so deutlich sagen dürfen, formulieren NGOs umso heftiger. „Der Vorsitz war eine Enttäuschung, die Reformen blieben kosmetisch“, sagt etwa Andrea Berg, Zentralasien-Spezialistin von Human Rights Watch (HRW).

Erst im vergangenen Juli hat Amnesty International wieder beklagt, dass Kasachstan zwar verschiedene Vereinbarungen gegen Folter unterzeichnet hat, bei deren Umsetzung aber säumig ist: Verdächtige würden „routinemäßig“ gefoltert, heißt es in einem Schreiben an den UN-Hochkommissär für Menschenrechte.

Allein im Jahr 2010 blockierte Kasachstan den Zugang zu mindestens zehn politischen Websites, darunter jene der oppositionellen Wochenzeitung „Respublika“. Fünf, nach anderen Angaben sogar acht Journalisten wurden Opfer von Übergriffen. Einer saß während des OSZE-Vorsitzes gerade eine dreijährige Haftstrafe ab, weil er aus einem Dokument zitiert hatte, das den Eingriff des Geheimdiensts auf ein Gerichtsverfahren belegte.

Die Mediengesetze erlauben beim Verdacht auf Verleumdung ruinöse Schadenersatzforderungen, deren sich auch staatliche Stellen gern bedienen. Die NGO Adil Soz rechnet vor, dass von insgesamt 149 heuer bereits eingebrachten einschlägigen Klagen 69 von Regierungsfunktionären kamen. Insgesamt belaufen sich die damit verbundenen Strafdrohungen auf umgerechnet 17 Millionen Dollar.

Allerdings gibt es auch Hoffnung: Im Februar hob ein Gericht das zuvor verhängte Verbot auf, über Korruptionsvorwürfe gegen den Nasarbajew-Schwiegersohn Timur Kulibayev zu berichten – ein Beispiel, das vom OSZE-Vorsitz oft herangezogen wird, um Fortschritte auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit und Menschenrechte zu belegen.

Und konterkariert das auch gleich wieder, indem es 28 usbekische Asylwerber trotz gültiger UN-Flüchtlingszertifikate und drohender Verfolgung in ihre Heimat abschieben will: eine Vorgangsweise, gegen die die OSZE nach eigenem Selbstverständnis eigentlich scharfen Protest einlegen müsste.

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Dass es Kasachstan mit diplomatischem Geschick und einiger Penetranz geschafft hat, die OSZE erstmals seit elf Jahren zu einem Gipfel zu vergattern, gilt jetzt schon als historisches Verdienst in der Geschichte der Organisation. Was jetzt noch kommt, soll aber auch in die Geschichtsbücher Kasachs­tans eingehen: die „Erklärung von Astana“. So oder so ähnlich wird das Abschlussdokument des Gipfels heißen. Und wenn es denn einigermaßen bedeutsam ausfällt, wird etwas von seinem Glanz auch immer auf Nursultan Nasarbajew fallen.

Dokumente wie die „Erklärung von Astana“ dienen der OSZE auf Jahre hinaus als Bibel. Jede Wahlbeobachtung, jede öffentliche Äußerung basiert auf den darin formulierten Leitsätzen. Sie bieten aber auch die Gelegenheit, in den Normen der Organisation durch Einfügen neuer Passagen oder durch Weglassen von alten Formulierungen Akzente zu setzen.

Einer der ersten Textvorschläge aus der Feder kasachischer Diplomaten wurde entsprechend kritisch unter die Lupe genommen. Und siehe da: Im Absatz Nummer neun – zum Thema Demokratie – fand sich zwar das Bekenntnis zu „freien und fairen“ Wahlen, allerdings fehlten die Beifügungen „genuin und periodisch“, was von hellhörigen OSZE-Diplomaten umgehend beanstandet wurde.

Wenn Astana diese Woche kurzfristig zum Zentrum der Welt wird und sich Gastgeber Nursultan Nasarbajew zwischen den Schwergewichten der internationalen Politik als Gleicher unter Gleichen fühlen darf, wird man wissen, wie die Formulierungen genau lauten.

Dann ist aber auch die Zeit gekommen, Bilanz zu ziehen. Nein, der Vorsitz Kasachstans hat die OSZE nicht substanziell beschädigt. In der Logik der Organisation, die in kleinen Schritten und großen Zeiträumen denkt, kann er wahrscheinlich sogar als Erfolg gelten. Für sie wiegt es auch nicht allzu schwer, dass ihre Mitglieder beim Gipfel die Staffage für den Personenkult um einen Autokraten abgeben werden.

Die unbestreitbaren Profiteure sind jedoch Nursultan Nasarbajew und sein Regime: Sie haben es geschafft, mit dem Vorsitz einer internationalen Organisation zu glänzen, die höchsten demokratischen ­Werten verpflichtet ist – und gleichzeitig ihr prädemokratisches Herrschaftssystem zu festigen, statt es subs­tanziell zu reformieren.

Wenn der OSZE-Vorsitz am 31. Dezember um 24 Uhr endet, wird sich Nursultan Nasarbajew nicht nur als „Führer der Nation“ fühlen dürfen, sondern auch als international anerkannter Initiator der „Erklärung von Astana“.

Der Bürgerrechtler Evgeny Zhovtis sitzt dann wahrscheinlich immer noch im Gefängnis, die Websites der Opposition sind weiterhin blockiert, die usbekischen Flüchtlinge möglicherweise schon abgeschoben. Und Kasachstan übernimmt umgehend eine neue Funktion: den Vorsitz bei der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) – wo es jede Menge Gelegenheiten geben wird, seine neu erworbenen Erfahrungen mit Demokratie und Menschenrechten anzuwenden.