Das 50.000-Euro-Epos

FC Bayern München - eine Neuerfindung

Fußball. Christian Seiler über die Neuerfindung des FC Bayern

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Am 7. November 2009 erschien in der „Süddeutschen Zeitung“ ein Interview mit dem rechten Außenverteidiger des FC Bayern München, Philipp Lahm. In diesem Gespräch, das nicht mit der Pressestelle des FC Bayern akkordiert war, sagte Lahm ein paar bemerkenswerte Dinge.
Erstens kritisierte er die Einkaufspolitik des FC Bayern. „Man darf“, sagte Lahm, „Spieler nicht nur kaufen, weil sie gut sind.“ Damit meinte er den jahrelang perfektionierten Reflex des deutschen Rekordmeisters, die besten Spieler der Bundesliga und andere Stars, die gerade zu kriegen waren, nach München zu holen und im Anschluss dem jeweiligen Trainer die Aufgabe zu überantworten, aus diesen Spielern eine Mannschaft zu machen, die Meisterschaften gewinnt.

Das war oft gelungen, aber nicht immer. Der FC Bayern lieferte zwar in schöner Regelmäßigkeit seine nationalen Erfolge ab, auch in der Champions League gab es respektable Saisons, ohne dass man jedoch an die grandiose Dominanz der 1970er-Jahre anschließen konnte, als die Legenden Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß und Gerd Müller den Klub und die europäische Fußballszene prägten.

2001 hatte man mit einer Mannschaft, die von Testosteronmonstern geprägt wurde – Kahn, Linke, Anderson, Effenberg – noch einmal die Champions League gewonnen, aber dann war man mit dem altbackenen Konzept einer Mannschaft, die von charaktervollen Leitwölfen automatisch zum Erfolg geführt wird, hinter modernere, konzeptionell ausgeklügelte Teams wie den FC Barcelona, Arsenal oder die mit sagenhaften Summen aufgerüsteten Mannschaften von Real Madrid, Manchester United oder den FC Chelsea zurückgefallen.

Neue Handschrift
Der Versuch, den Klub mit dem als Konzepttrainer geltenden Jürgen Klinsmann zu modernisieren, war in der Saison 2008/09 auf fast lächerliche Weise gescheitert; Klinsmann wurde nach nur zehn Monaten im Amt gefeuert. An seiner Stelle kam der autokratische Niederländer Louis van Gaal, der bereits Ajax Amsterdam und dem FC Barcelona seine Handschrift verpasst hatte. Er sollte die konzeptlose Mannschaft wieder in Ordnung bringen. Das war eine gute Idee.

Van Gaal hatte den Bayern mit strenger Hand ein Spielsystem verordnet, das, anders als in der Vergangenheit, auf vier Verteidiger, zwei defensive Mittelfeldspieler, drei offensive Mittelfeldspieler und nur eine Sturmspitze setzte. Das Projekt startete im Spätsommer 2009 gut, geriet im Herbst aber ins Stocken. Der FC Bayern tat sich in der Bundesliga schwer und stand in der Champions League, dem Königsbewerb, schon in der Gruppenphase vor dem Aus. Sofort wackelte, auch das beim FC Bayern ein reflexhafter Vorgang, der Trainer.

In dem Interview, das auf Wunsch von Lahm zustande gekommen war, stellte sich der damals 26-jährige Nationalspieler gegen alle bayrischen Konventionen hinter seinen Coach – und gegen die kritische Führungsgilde um Uli Hoeneß und Karlheinz Rummenige. Der Trainer, sagte Lahm, hat Recht. Wir müssen offensiver spielen. Aber wir brauchen zuerst ein eindeutiges Spielsystem und dann die besten Spieler für jede einzelne Position. Es ist Quatsch, schon wieder über den Trainer zu diskutieren, bevor dieser seine Vorstellungen umsetzen konnte. Van Gaal, sagte Lahm, ist der Richtige für uns.

Diese Stellungnahme war wegweisend.

Das Interview erschien am 12. Spieltag der Bundesligasaison 2009/10, Bayern spielte nachmittags gegen Schalke. Über das holprige 1:1 verlor niemand ein Wort, aber Philipp Lahms Interview war talk of the town. Lahm, der gerade erst ein hochdotiertes Angebot des FC Barcelona zugunsten eines neuen Vertrags beim FC Bayern abgelehnt hatte, musste zwei Tage später zum Rapport in die Vorstandsetage an der Säbener Straße. Dort wurde er von Uli Hoeneß und Karlheinz Rummenigge rituell zusammengefaltet. Er bekam eine Geldstrafe von 50.000 Euro für unautorisierte Kritik in der Öffentlichkeit verpasst.

Aber damit war das Gespräch nicht zu Ende. Als sich der erste Unmut gelegt hatte, konnte der Verteidiger mit den Big Bosses noch einmal in aller Ausführlichkeit über sein Anliegen sprechen: „über die Philosophie des Trainers, über die Spielweise des FC Bayern, über deren Auswirkungen auf unsere Transferpolitik und den Personalstand“. Am Ende meinte Uli Hoeneß, man sollte demnächst gemeinsam einen Cognac trinken.

Lahms eigenmächtiger Vorstoß sah schon am Ende der Saison 2009/10 ziemlich prophetisch aus. Der FC Bayern hatte mit seinem funktionierenden, offensiven Flügelspiel souverän die Deutsche Meisterschaft gewonnen, war Pokalsieger geworden und hatte durch legendäre Partien gegen den AC Florenz, Manchester United und Olympique Lyon das Finale der Champions League erreicht. Dort verlor man gegen den von José Mourinho trainierten italienischen Meister Inter Mailand zwar 0:2, die Niederlage schmerzte, aber sie war nicht unerträglich.

Charakter und Unterhaltungswert
Der FC Bayern spielte plötzlich attraktiven, modernen Fußball und gewann die Sympathien vieler Zuschauer, denen das maschinenmäßige, dominante Gerumpel der Vorgängergenerationen dieser Mannschaft noch auf die Nerven gegangen war. Diese Vorurteile galten nun nicht mehr. Der FC Bayern hatte am Ende der Saison 2009/10 einen neuen, feineren Charakter und ziemlich viel Unterhaltungswert – und war dennoch eine unfertige Mannschaft im Vergleich zu jener, die am 25. Mai in Wembley gegen Borussia Dortmund antritt, selbst wenn das Team in weiten Teilen des Personals dasselbe ist. Aber in den drei Saisons seit der Niederlage gegen Inter hat sich die Mannschaft episch verändert.

Zuerst musste Louis van Gaal gehen, weil er sich weigerte, die offensive Struktur seiner Mannschaft in die richtige Balance zu ihrer defensiven Rückversicherung zu bringen. Strukturelle Nachlässigkeiten in der Verteidigung brachten die Münchner um die Früchte ihrer offensiven Brillanz. Dann kam mit Jupp Heynckes ein vermeintlich pragmatischer Old-School-Trainer zum FC Bayern, der im Vergleich zu Jürgen Klopp, der Borussia Dortmund gerade ein jugendliches, euphorisches Spielsystem verpasste und damit Sympathien und Titel sammelte, ziemlich alt und anachronistisch aussah.

Aber Heynckes gelang, was Philipp Lahm schon unter Van Gaal öffentlich eingefordert hatte: Er stellte die notwendige Balance her, „das richtige Verhältnis zwischen Angriffslust und kompakter Verteidigung“.
Heynckes moderierte die Mannschaft mehr, als dass er sie strategisch prägte. Selbst die divenhaften Angreifer des FC Bayern mussten zur Kenntnis nehmen, dass gute Defensive weit in der Hälfte des Gegners beginnt. Heynckes baute sichtbar auf dem Spielsystem van Gaals auf, bereinigte aber dessen defensive Lücken. Er analysierte seine Spieler nicht nach ihren „Kicker“-Noten, sondern danach, wie gut sie ihre strategischen Aufgaben auf dem Platz erfüllten.

Heynckes war der erste Trainer des FC Bayern, der nach absolvierter Saison – die bekanntlich mit den bitteren Niederlagen gegen Borussia Dortmund im Pokalfinale und gegen Chelsea im Finale der Champions League endete – nicht nach neuen Stars rief, sondern exakt das tat, was Philipp Lahm in seinem Interview gefordert hatte: Er engagierte Spieler, die auf konkreten, nicht optimal besetzten Positionen helfen sollten. Er beharrte etwa darauf, dass für den weitgehend unbekannten Spanier Javi Martínez die Fantasiesumme von 40 Millionen Euro ausgegeben wurde, und spielte auf diese Weise Martínez’ Mittelfeldpartner Bastian Schweinsteiger frei, der von vielen schon abgeschrieben worden war, aber in der aktuellen Saison, perfekt sekundiert von Martínez, seine vielleicht besten Leistungen für den FC Bayern zeigen konnte.

Es war beeindruckend, wie konzentriert, ruhig und fast schon demütig der FC Bayern diese Saison absolvierte, in der Bundesliga eine ganze Reihe von Rekorden aufstellte und sich in der Champions League mit fast schon unhöflich brillanten Halbfinalspielen gegen den FC Barcelona für das Finale qualifizierte.

Philipp Lahm ist der erste Kapitän des FC Bayern seit Generationen, der seinen Testosteronspiegel unter Kontrolle hat. Er klopft sich, wenn er im Fernsehen auftritt, nicht unbedingt mit beiden Fäusten vor die Brust, sondern begnügt sich mit sachlichen, manchmal ins Phrasenhafte tendierenden Kommentaren. Sein ruhiges, konsequentes Spiel beruht auf höch­ster technischer Verlässlichkeit und einem unbestreitbar genialischen Spielverständnis. Lahm muss weder Gegner noch Mitspieler ins Ohr beißen oder öffentlich zur Schnecke machen, um sich Respekt zu verschaffen – eine Eigenschaft, die ihm von den Ohrbeißern und Zur-Schnecke-Machern oft als Führungsschwäche vorgehalten wurde. Von denen war zuletzt ­allerdings kaum mehr etwas zu hören.

Es könnte also sein, dass am Anfang der Neuerfindung des FC Bayern ein einziges Zeitungsinterview stand, das zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Entwicklungen auslöste. Die 50.000 Euro, die Philipp Lahm dafür bezahlen musste, waren jedenfalls gut investiertes Geld.

Christian Seiler schrieb mit Philipp Lahm das Buch „Der feine Unterschied“ (Kunstmann).