„Geld schießt keine Tore? Das ist Unsinn!“

Reif über die Angst der Deutschen vor der WM

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profil: Sie werden am 9. Juni das Eröffnungsspiel der WM, Deutschland gegen Costa Rica, für Premiere kommentieren. Ist das bei all dem Trubel um die WM auch für den Kommentator ein mulmiges Gefühl? Haben Sie Lampenfieber?
Reif: Das habe ich vor jedem Spiel, auch in der Bundesliga, ganz egal, wer spielt. Wenn ich das nicht mehr hätte, würde ich sofort aufhören. Das schafft eine Betriebstemperatur. Ich muss ja Emotionen empfinden und vermitteln. Aber ein WM-Spiel ist natürlich noch mal was anderes.
profil: Wie werden Sie den Kommentar anlegen, gnädig oder unbarmherzig?
Reif: Ich lege gar nichts an. Ich bin Dienstleister und hänge davon ab, was unten auf dem Spielfeld passiert. In jungen Jahren hab ich öfter den Fehler gemacht zu denken, wenn das Spiel schwach ist, muss ich besonders gut sein. Das geht immer in die Hose. Wenn das Spiel am 9. Juni ein Jubelfest ist, wird das für mich am einfachsten. Dann mach ich dreimal „uiuiui“, und die Nation sagt: Der hat aber schön gesprochen. Wenn es Schrott ist, kann ich zirpen wie ein Zeisig, und alle werden sagen: Der war auch nicht so toll.
profil: Bei der WM 2002, als Deutschland Zweiter wurde, kritisierten Sie die Mannschaft heftig. Unter anderem fanden Sie, die Deutschen seien „spielerisch ohne Hemd und Hose“. Werden Sie diesmal ein wenig patriotischer sein?
Reif: Ich bin deutscher Reporter für ein deutsches Publikum bei einem deutschen Sender. Natürlich bin ich parteiisch. Aber das darf ja den Blick nicht verstellen auf das, was auf dem Spielfeld passiert. 2002 habe ich auch zu Deutschland gehalten, aber wenn die Mannschaft schlecht spielt, kann ich es nicht ändern.
profil: Viel besser als damals dürfte es aber kaum werden.
Reif: Ich glaube nicht, dass die Deutschen Weltmeister werden. Nüchtern betrachtet ist die Mannschaft bestenfalls auf Platz sechs oder sieben. Es kann einen Ausreißer nach oben geben, es kann aber auch schon relativ früh aus sein. Das Achtelfinale gegen Schweden oder England zu überstehen, hielte ich für einen großartigen Erfolg. Und dann wird die Frage sein, wie viel Realismus es in diesem Land gibt. Von den Fans erwarte ich mir da nicht viel, die dürfen spinnen. Aber das Motto lautet ja „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Hoffentlich kriegen wir das auch hin, wenn Deutschland ausgeschieden ist und die WM dann noch zwei Wochen dauert.
profil: Ich habe den Eindruck, dass sich schon lange kein Land mehr so vor einer Fußball-WM gefürchtet hat. Es herrscht die Angst, man könnte etwas falsch machen, und zwar nicht nur beim Fußball, sondern auch als Gastgeber. Warum sind die Deutschen so panisch?
Reif: Es gibt nun mal keine positive Grundhaltung im Land. Ich halte es auch für eine gefährliche Tendenz zu sagen, diese WM soll alles, aber auch wirklich alles wieder zum Guten wenden. Damit überfordert man so ein sportliches Ereignis. Das kann einen schönen Schub geben, und natürlich werden die Leute euphorisch sein, aber man darf dem Fußball auch nicht zu viel zumuten.
profil: Derzeit sind die Fußballer unter anderem zuständig für das Wirtschaftswachstum, das Sinken der Arbeitslosigkeit, die Stimmung der Deutschen, die Verfassung der großen Koalition.
Reif: Ja, und wie soll das gehen? Da habe ich doch ein paar Bedenken. Und vieles andere, was in den letzten Wochen und Monaten passiert ist, zum Beispiel die Debatte um die Sicherheit in den Stadien, ist einfach sehr deutsch. Wenn wir in diesem Land ein Haar in der Suppe finden, dann holen wir es raus und legen es unters Mikroskop. Diese Lust, sich die Freude zu verderben, ist ein sehr deutsches Phänomen – das Suchen nach noch irgendetwas, das schlecht sein könnte.
profil: Der Teamspieler Christoph Metzelder sagte in einem Interview mit der „Zeit“ vor Kurzem: „Wir freuen uns auf die WM, aber ich glaube, wir sind auch alle froh, wenn sie wieder vorbei ist.“ Mit einem ähnlichen Gefühl würde man zum Zahnarzt gehen, wenn der Weisheitszahn wehtut. Freut sich Deutschland in erster Linie darauf, dass der Schmerz wieder nachlässt?
Reif: Ich glaube, so etwas schwingt mit. Es ist nicht der Grundtenor, aber alle haben ein wenig Bammel vor diesem Megaereignis. Man muss sich nur vorstellen, was an so einer WM heute alles dranhängt – an Geld und an Erwartungen. Man steht vor der ganzen Welt auf dem Prüfstand. Ihr werdet das auch merken bei eurer EM. Und dann sagt der Klinsmann auch noch, wir wollen Weltmeister werden.
profil: War es gescheit, die Erwartungen so hoch zu treiben?
Reif: Ich fürchte, es war eine nicht auflösbare Falle. Was soll einer sagen, wenn er neu anfängt? Ich hätte gesagt, mir reicht es, wenn wir Vierter werden. Aber da ist jeder ein anderer Charakter. Klinsmann hat ja auch nicht gesagt, wir werden Weltmeister, sondern wir wollen Weltmeister werden. Nur die Fans hören diesen Unterschied natürlich nicht. Und der Boulevard ist auch nicht auf Ausgleich getrimmt. In Deutschland ist der Umgang mit Fußball immer extrem. Wenn wir in Italien 1:4 verlieren, heißt es, wir sollten den Fußball in Deutschland überhaupt bleiben lassen. Dann schlagen wir die Bubimannschaft USA 4:1, und sofort sind wir auf dem Weg zur Weltmeisterschaft.
profil: Haben Sie sich über Jürgen Klinsmann schon ein abschließendes Urteil gebildet? Ist er so gut, wie der „Spiegel“ glaubt, oder so schlecht, wie „Bild“ findet?
Reif: Da ich nicht seinen Charakter bewerten muss, um ihn dann zu heiraten, beurteile ich ihn nach dem Ergebnis.
profil: Sie haben derzeit noch keine Meinung über Klinsmann?
Reif: Ich finde, dass vieles, was er angefangen hat, richtig ist. Aber die Art, wie er das tat, fand ich nicht besonders gelungen. Das hätte man diplomatischer und cleverer machen können. Wenn ich mich als Teamchef von einem Mann wie Sepp Maier trenne, dann mache ich das nicht in einer Lounge des Flughafens Teheran, sondern ich veranstalte einen Abschiedsabend, schmeiße ihn mit einer goldenen Uhr tot, umarme ihn und habe dasselbe Ziel erreicht, ohne mir einen Feind zu schaffen. Oder wenn ich einen Hockey-Nationaltrainer zum sportlichen Direktor machen will, muss ich vorher abklären, ob ich das durchkriege, notfalls auch mit „Bild“. Klinsmann ist offenbar davon ausgegangen, dass man ihm diesen Wunsch so knapp vor der WM nicht abschlagen wird. Aber da unterschätzte er die Trägheit der Platzhirsche im Verband, die gesagt haben: Jetzt reicht’s!
profil: Manchmal wirkt Klinsmann auch als Trainer ziemlich unbedarft. In einem Interview mit dem „Spiegel“ sagte er zuletzt folgenden Satz: „Ich glaube, wenn Wille und Aggressivität da sind, dann haben wir auch fußballerisch viel Talent.“ Hans Krankl hätte sich so ähnlich ausgedrückt, und der konnte es nachweislich nicht.
Reif: Klinsmann kommt mit sehr viel amerikanischer Attitüde daher – nach dem Motto: Man muss nur wollen, dann kann man auch. Wenn die Gegner das alle glauben, kann es ja funktionieren. Aber wenn die Gegner sagen, es ist uns wurscht, womit ihr daherkommt, jetzt spielen wir erst mal, dann wird es schon schwieriger.
profil: Ich kann es Ihnen nicht ersparen, eine Prognose abzugeben. Welche Teams kommen ins Halbfinale?
Reif: Falls nicht sowieso Deutschland Weltmeister wird?
profil: Für den unwahrscheinlichen Fall, ja.
Reif: Ich war bisher zu faul zu gucken, was von der Gruppeneinteilung her technisch möglich ist. Aber ich sage Ihnen meine Favoriten: Dazu gehört Italien – das ist der ungeheimste Geheimfavorit; England ist, wenn Rooney wieder spielen kann, grandios besetzt; die Holländer sind diesmal richtig gut, wenn sie nicht wieder an ihrer eigenen Arroganz scheitern. Brasilien wird die Mannschaft sein, die man schlagen muss. Aber ich glaube, wenn einer es schafft, ist es Argentinien. Mein Favorit ist Argentinien.
profil: Was überzeugt Sie an der Mannschaft?
Reif: Der Trainer hat die meisten Spieler schon in der Jugendauswahl trainiert, die kennen einander sehr gut. Die Argentinier sind individuell hervorragend besetzt, und sie haben gegen Brasilien eine Unmenge gutzumachen. Kaum ein anderes Team ist so hungrig. Die Brasilianer sind mir zu siegessicher. Das ist aber auch kein Wunder, weil ihnen jeder reinsingt, dass sie unschlagbar sind.
profil: Haben Sie Ronaldinho schon einmal persönlich getroffen?
Reif: Ich treffe Spieler ganz selten, weil ich mehr als doppelt so alt bin, und das führt zu sehr wenig Gesprächsstoff. Wenn sich Ronaldinho in Barcelona aufwärmt, stehe ich unten und gucke ihm zu.
profil: Das ist die sicherere Variante. Die paar Zitate, die es von Ronaldinho gibt, sind ziemlich enttäuschend.
Reif: Warum sollte ich mir also mein infantil-fröhliches Bild vom Fußball kontaminieren?
profil: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die meisten Top-Fußballer als Gesprächspartner so wenig hergeben? Fußball wäre ja eigentlich ein intelligenter Sport.
Reif: Als ich 25 war, hätte ich zu meinem Metier auch nichts Weltbewegendes abgesondert. Angenommen, Sie treffen Ronaldinho und haben zehn Minuten Zeit. Worüber werden Sie mit ihm reden? Über die Abholzung des Regenwalds am Amazonas? Eher nicht. Also fragen Sie ihn zu seinem Metier. Das hat er 200-mal gehört, und er wird sagen, was er immer sagt.
profil: Zur WM erscheinen insgesamt etwa 500 Bücher. Jeden Tag melden sich honorige Intellektuelle mit Betrachtungen zum Fußball. Gibt der Sport dafür genug her?
Reif: Das zeigt, dass der Fußball alle sozialen Schichten durchdringt. Wenn man heute mit ein paar Leuten am Tisch sitzt und jemand sagt, ich interessiere mich nicht für Fußball, dann gilt das eher als bedauerliches Einzelschicksal. Ob alles, was da geschrieben und gesagt wird, für die Nachwelt erhaltenswert ist, möchte ich jetzt nicht bewerten.
profil: Kann man vom Fußball wirklich etwas für das Leben lernen? Ist Ihnen persönlich das gelungen?
Reif: Ich habe gelernt, dass es manchmal anders kommt, als man sich das vorgestellt hat. Aber das ist eine etwas banale Erkenntnis. Nein, ich mag den Fußball nicht höher hängen, als er es verdient. Für mich birgt er keine Geheimnisse.
profil: Sie haben fast Ihr ganzes Berufsleben dem Fußball gewidmet. Gibt es Tage, an denen Ihnen das Thema zum Hals raushängt?
Reif: Ja, aber dann kommt ein Spiel, das so viel Freude macht, dass ich hinterher rausgehe und sage: Ich weiß wieder, warum ich seit 50 Jahren hinter dem Quatsch herlaufe.
profil: Es wird auch Spiele geben, bei denen Sie es nicht wissen.
Reif: Zum Glück habe ich immer noch die Hoffnung, dass das nächste Spiel das beste sein wird, das ich je gesehen habe. Ich sage immer: Es ist nur Fußball, aber es macht einen Heidenspaß. Und es ernährt den Mann. Viel mehr verlange ich davon nicht.
profil: Welches Spiel einer österreichischen Mannschaft haben Sie zuletzt gesehen?
Reif: Das war Bayern gegen Rapid.
profil: Ich habe es befürchtet. Rapid hat 0:4 verloren. Hatten Sie wenigstens Mitleid?
Reif: Ein wenig, ja. Die sind mit viel zu viel Respekt aufgetreten. Wenn man nach München fährt und eigentlich nur die Trikots tauschen will, bringt das nichts. Rapid hat sich zu wenig gewehrt und nicht wirklich etwas versucht.
profil: Die Angst vor einer Blamage ist eben groß, wenn eine österreichische Mannschaft in der Champions League spielt.
Reif: Die werden da nie Favorit sein. Aber man muss doch wenigstens sein Glück versuchen. Man weiß bei einem Fußballspiel nie, wie es ausgeht. Sicher ist bloß, dass Salzburg in den nächsten 20 Jahren österreichischer Meister wird und in Deutschland Bayern München.
profil: Was macht Sie so optimistisch für Salzburg?
Reif: Was dieses Jahr noch nicht funktioniert hat, wird sehr bald mit den notwendigen Mitteln repariert werden. Wenn Mateschitz dranbleibt, wird sich niemand gegen Salzburg wehren können – noch dazu, wenn euer freundlicher Kanadier
bei der Wiener Austria demnächst keine Lust mehr hat …
profil: Frank Stronach hat sich schon abgeseilt.
Reif: Na eben. Dasselbe gilt in Deutschland: Wenn Bayern einmal nicht Meister werden sollte, dann nur deshalb, weil sie beschlossen haben, nicht Meister zu werden. Von den Möglichkeiten her können sie jedes Jahr mit zehn Punkten Abstand Minimum gewinnen. Das ist traurig, aber kein exklusives Problem. Das Gleiche gibt es in Frankreich mit Lyon und in England mit Chelsea. Spanien hat mit Barcelona und Madrid wenigstens zwei Spitzenklubs. Das Geld geht dahin, wo schon Geld ist. Und wer Geld hat, kann den Erfolg konstant halten, und damit kommt noch mehr Geld. Es gibt da diesen Spruch: Geld schießt keine Tore. Das ist Unsinn. Das ist Quark.
profil: Rapid-Präsident Rudolf Edlinger hat das eine Zeit lang gerne gesagt.
Reif: Ja, das ist ein lustiger Spruch. Aber er stimmt nicht.
profil: Der FC Bayern München hat die Hoffnung offenbar aufgegeben, international in der obersten Liga mitzuspielen. Bayern-Manager Uli Hoeneß sagte vor Kurzem, an der Zweitklassigkeit der Bayern werde sich mittelfristig nichts ändern. Vor ein paar Jahren sah er das noch anders. Was ist da passiert?
Reif: Das war, bevor Abramowitsch bei Chelsea eingestiegen ist. Damals hatte man noch das Gefühl, dass sich die Dinge irgendwann auf einem halbwegs erträglichen Niveau einpendeln. Die Bayern hätten das Geld, aber es wäre in Deutschland politisch nicht korrekt, 50 Millionen für einen Spieler zu bezahlen.
profil: Warum nicht?
Reif: Das kann man nicht durchsetzen. Als Maradona nach Neapel kam, hing in einem der ärmsten Stadtviertel ein Spruchband über der Straße: „Es ist besser, mit Maradona zu hungern als ohne ihn.“ So denkt man nicht in Deutschland. Und das Image ist den Bayern wichtig.
profil: Sie haben in Ihrer Jugend selbst Fußball gespielt. Tut es Ihnen manchmal leid, dass Sie so früh wieder aufgehört haben?
Reif: Ich habe rechtzeitig erkannt, dass mir ein paar Gene fehlen. Es hätte nicht gereicht, um ganz oben mitzuspielen. Wenn ich sagen müsste, ich war ein verkanntes Talent, würde ich jetzt Bitterkeit spüren. Aber so war es nicht.
profil: Das kann man sich aber ganz leicht einreden.
Reif: Ich werde als Fußballer auch mit jedem Tag Rückschau besser. Aber ich glaube, das kann ich schon ganz gut einschätzen.
profil: Haben Sie je Panini-Bilder gesammelt?
Reif: Ich glaube, in jungen Jahren habe ich das gemacht. Aber es ist länger her. Heute würde mir das eher nicht mehr einfallen.
profil: Schaun Sie nicht so entsetzt. Es gibt erwachsene Männer, die sich mit kleinen Buben um die Sammelbilder raufen.
Reif: Es sind hoffentlich keine Fußballkommentatoren darunter.

Interview: Rosemarie Schwaiger