'Generation O' zieht nach Washington

'Generation O' zieht nach Washington: Eine neue Jugendbewegung formiert sich

Eine neue Jugend- bewegung formiert sich

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Das Buch war nicht zufällig gewählt. George Orwells „1984“ liegt auf dem Tisch von Josh Bolotsky. Im warmen Souterrain des kleinen „Tea Spot“ am New Yorker Washington Square, wo jeden zweiten Freitag ein Literatur-Club tagt, diskutiert eine kleine Runde kluger Köpfe die Parallelen von Orwells fiktional-faschistoidem Überwachungsstaat und dem amtlichen Spitzelwesen des Homeland-­Security-Ministeriums, die von Präsident George W. Bush gebilligt und befürwortet wurden. Trotz des sensiblen Themas wird es eine der entspanntesten Veranstaltungen seit Langem. Kein Wunder: Bush ist demnächst Geschichte. Die Erleichterung ist zu spüren.

Der 24-jährige Josh Bolotsky, einer der Initiatoren des Intellektuellenzirkels vom Tea Spot, hat einen langen Kampf hinter sich. Als einer der drei Gründer der progressiven Plattform mit dem flapsigen Titel „Drinking Liberally“ bastelte er jahrelang an einem engmaschigen Netzwerk ­liberaler Geister, die sich gegen die Bush-Administration organisierten. 2003 gleichsam als große öffentliche Selbsthilfegruppe unter dem Eindruck des Irak-Kriegs ins Leben gerufen, entwickelte „Drinking Liberally“ schnell schlagkräftige Untergruppen. Aktive Protestierer marschierten bei Antikriegsdemos auf, Blogger verbreiteten Bush-Kritiken im Netz, und die Kreativeren überzogen die „Stop“-Schilder landauf, landab mit „War“-Aufklebern.

„Nicht nur Bush ist der Verlierer der Präsidentenwahl vom 4. November, auch ich bin ein Verlierer“, witzelt Josh Bolot­sky. „Wir haben unseren Feind verloren und damit gewissermaßen unsere Existenzberechtigung.“ Und er zitiert das Politmovie aus den siebziger Jahren „Der Kandidat“, in dem Robert Redford den perfekten ­Politliebling mimt und schließlich am Abend seines Sieges nach endlosem Wahlkampf seinen Chefstrategen verdattert fragt: „Und was machen wir jetzt?“ Wo sollen die Aktivisten der vergangenen Jahre nun hin mit ihrem Engagement, der Energie, die über Jahre im kritischen Aktionismus gegen die ungeliebte Regierung Bush aufgingen? Verkommt das dicht gesponnene Netzwerk zum vereinsmeiernden Selbstzweck? Wogegen auflehnen, wenn der eigene Kandidat gerade Präsident wurde und die politische Mehrheit alle gewünschten Weichenstellungen zulässt?

„Und was machen wir jetzt?“
Barack Obamas Wahlsieg hat eine ganze Generation in den USA inspiriert, sich politisch zu engagieren – anders als Bush, im positiven Sinne. Mit einer Mehrheit von fast 70 Prozent waren es vor allem die Wähler zwischen 18 und 30, die ihn mit der Flut ihrer Stimmen ins Präsidentenamt schwemmten. Am 4. November erfüllten sich die Hoffnungen und Sehnsüchte der „Generation O“ mit einem Schlag. Kaum eine andere Generation hat nach einer so langen Durststrecke ihren Wunsch nach einem radikalen Wechsel so plötzlich erfüllt bekommen – zumindest was die Person betrifft. Die Ablöse Bushs durch Obama erschien vielen wie die Realisierung einer Utopie.

Identifikation. Der Sieg eines Weltoffenen mit klarem Bekenntnis zu Bildung und Wissensdrang schaffte eine neue Identifikationsfigur für eine Legion gebildeter, progressiver junger Menschen. Vor allem junge Menschen in urbanen Ballungszentren wie New York fühlen sich nun nicht mehr als Einwohner einer vom Rest des Landes abgekoppelten Enklave. Deren Energie will nun sinnvoll kanalisiert sein. „Wir haben mehr Zulauf denn je“, sagt Josh. „Viele wollen das Engagement, das sie im Wahlkampf bewiesen haben, irgendwie weiterführen.“ Rund vier Millionen Freiwillige volontierten für Barack Obama, hunderttausende davon aus New York, die in den nahen Swingstates Ohio und Pennsylvania Wahlkampf machten.
Jared Goldman war einer von ihnen. Der 22-jährige Literaturstudent aus New York fand in Pennsylvania Gefallen am ­politischen Engagement: erstmals für und nicht gegen etwas. „Wenn man sich einmal als Teil dieses großen Ganzen begriffen hat, ist es schwer, sich wieder gänzlich zurückzuziehen“, sagt er.

Und mit dem Wechsel von George W. Bush zum 15 Jahre jüngeren Barack Obama könnte die liberale „Generation O“ demnächst die alten Eliten in Washington ersetzen. „Man spürte immer eine tiefe Kluft zwischen der Regierung und den Menschen“, sagt Kyle Athayde. „Obama gibt einem das Gefühl, diese durch seinen neuen Stil schließen zu können.“ Kyle trägt seine Oba­ma-Kappe mit Stolz, auch wenn er damit auf dem coolen Campus der Columbia University von New York ein wenig deplatziert wirkt. Der 20-jährige stämmige Bartträger studiert eigentlich Jazz-Trompete. Seit er bei Obamas Wahlkampagne dabei sein durfte, bewirbt er sich ­jedoch auch um einen Studienplatz im Fachbereich Politik.

„Man darf Washington nicht den Anzugträgern überlassen“, sagt er. Wenn er auch viele seiner Konzerte im Dreiteiler gibt, lässt er sich mit seinem schäbigen ­T-Shirt und der gemütlichen Fleecejacke im schicken Washington nur schwer vorstellen. Seine Ziele sind nicht zu tief gesteckt: das Repräsentantenhaus als späterer Arbeitsplatz. Entweder als Mitarbeiter oder sogar selbst als Politiker. „Ich denke, Obama hat gezeigt, dass es mehr darauf ankommt, was man kann und wer man ist, als wen man kennt und wie man sich gibt. Das ist ein ganz neuer Stil.“

Vernetzung. Barack Obama hat es glänzend verstanden, die jungen Menschen an sich zu binden und sich so zu einem von ihnen zu machen. In seiner Biografie „Dreams from my father“ legte er nicht nur ein politisches Bekenntnis ab. Die Beschreibung all der Hürden auf seinem langen Weg zu sich selbst macht es heutigen Mittzwanzigern leicht, sich in ihm wiederzuerkennen. Und mit einer genialen Internetkampagne schien der brillante Rhetoriker direkten Konktakt zu jedem Einzelnen aufzunehmen. Von jenem Barack, den man bereits zu kennen glaubte, trudelten plötzlich personalisierte E-Mails oder SMS-Nachrichten im Postfach oder am Handy ein. Selbst konservative junge Mitglieder der evangelikalen Glaubensgemeinschaften ließen sich so zum Teil motivieren: In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen stimmte diesmal ein Viertel für den liberalen ­Kandidaten. Für den demokratischen ­Präsidentschaftskandidaten John Kerry stimmten vor vier Jahren keine zwölf ­Prozent.

Einer der Verantwortlichen dafür: Ethan Roeder, 33. Der entspannte Internetprofi mit dem schwarzen Filzhut passt selbst noch fast ins Schema der „Generation O“. „Anders als Politker in den Jahren zuvor haben wir das Internet nicht nur als Werbeplattform benutzt. Wir haben Menschen vernetzt und sie gemeinsam dazu gebracht, sich zu engagieren.“ Und die eigene Idee färbt auf ihn selbst ab: Selbst wenn der bärtige Brillenträger eine Washington-Karriere für sich immer ausgeschlossen hatte, jetzt verbleibt er doch in Obamas Diensten. Unter www.change.gov ließ der „President-elect“ übrigens schon eine neue Seite online stellen, um auch als künftiger Staatschef den so eng aufgebauten Kontakt zu seinen Unterstützern nicht zu verlieren.

Den wird er wahrscheinlich auch dringend brauchen können. Er wird mit seinen verschiedenen politischen Initiativen auf vehementen Widerstand von einflussreichen Machtgruppen stoßen. „Ich kann mir vorstellen, dass Obama seine Anhänger aufrufen wird, aktiv an diesem politischen Kampf teilzunehmen“, so Todd Gitlin, ­Soziologieprofessor an der New Yorker Columbia University. Die Wählerkoalition, die Obama im Wahlkampf schmiedete, könnte von langfristiger Bedeutung werden. Wie kein anderer Präsidentschaftskandidat vor ihm verlieh er den ethnischen Minderheiten eine Stimme. Rund 90 Prozent der Schwarzen votierten für ihn, unter den Latinos waren es stolze zwei Drittel. Selbst eine satte Mehrheit der aus Asien stammenden Amerikaner, die traditionell eher konservativ eingestellt sind, wählte ihn.

Inspiration. Die nichtweißen Minderheiten sind die Zukunft der USA: Nach jüngsten Studien werden sie schon mit der ­kommenden Generation zur Mehrheit in den USA. Die junge Generation von ­Amerikanern stammt nicht mehr aus den kleinen weißen Städten. Und sie ist zu­nehmend – wie Obama – mulitkulturell sozialisiert. Der 19-jährige Architekturstudent Asad Muhammed, Sohn afrikanischer Einwanderer, will sich neben dem Studium – wie einst Barack Obama – als Sozialarbeiter verdingen: „Wir Jungen konnten mit Politik jahrelang nichts anfangen. Jetzt ist jemand da, zu dem wir aufschauen können“, sagt Asad. Auch seine gleichaltrige Kollegin, Jill Schackner, einst glühende Anhängerin von Hillary Clinton, die jegliche Form von Personenkult ablehnt, räumt ein: „Kaum jemand anderer hätte so viele junge Menschen mobilisiert.“

Aqsa Shakoor hat einen kleinen Stand auf dem Unicampus der Columbia aufgebaut, an dem sie Infomaterial von Amnesty International verteilt. Im Zentrum ihrer Arbeit: die Situation pakistanischer Flüchtlinge. Sie selbst kam mit ihren Eltern vor elf Jahren aus Pakistan in die Staaten. „Im Gegensatz zu Obama bin ich zwar nicht der Meinung, dass man Pakistan den Geldhahn zudrehen sollte“, sagt die 22-Jährige, die sich in ihrem Medizinstudium auf ­Neurologie spezialisiert hat. Obama hatte das mehrfach gefordert, solange sich Pakis­tan als terroristisches Rückzugsgebiet erweise. „Aber er hat mich nicht zuletzt in­spiriert, mich selbst im politischen Bereich zu betätigen.“ Für die Außenpolitik der USA habe man sich in den Bush-Jahren nur genieren müssen, meint sie. Damit sei es Gott sei Dank vorbei.

Das freut auch Bill Olander. Er studiert Internationale Beziehungen an der School of International and Public Affairs (SIPA). „Obama ist jener kluge Kopf, der über die Grenzen hinweg die zerbrochenen Koalitionen mit der Welt neu aufbauen kann“, sagt er. „Er ist der Typ, der vor die UN-Vollversammlung treten kann, um zu sagen: Leute, wir haben Mist gebaut! Lasst uns das gemeinsam reparieren.“ Nach einer kurzen Karriere im Militärdienst hätte sich der 27-Jährige lange nicht mehr vorstellen können, der Politik auch nur nahezukommen. Und obwohl er nicht zu den enthusiastischsten Obama-Aficionados zählt, schreckt ihn eine Politkarriere in seinem Spezialgebiet des Krisenmanage­ments und der humanitären Hilfseinsätze nun viel weniger ab als noch vor dem ­4. November. Und Olander gibt sich als ­Realist: „Lassen Sie uns diese Zeit des ­Aufbruchs genießen, solange er anhält. Enttäuscht werden wir früh genug.“

„Und was machen wir jetzt?“
Die Frage schwebt noch immer über dem kleinen Tee-Tischchen im Souterrain des New Yorker Tea Spot. Josh Bolotsky schüttelt den Kopf. „Gegen Bush zu protestieren war wichtig.“ Einen Präsidenten Obama müsse man nun permanent an die Einhaltung seiner Wahlversprechen erinnern. „Unsere Generation war es, die ihn gerade in dieses Amt gewählt hat. Ein wenig Druck lässt sich da schon machen.“ Freilich aber auch nicht zu viel, sagt Josh: „Schließlich soll er 2012 ja wiedergewählt werden.“

Von Josef Barth, New York