Der gefährlichste Mann Europas

Alexis Tsipras: Der gefährlichste Mann Europas

Griechenland. Das riskante Spiel des Linkspopulisten Alexis Tsipras

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Terrorismus und organisierte Kriminalität, Klimawandel und Natur­katastrophen, Menschen-, Waffen-, Drogenschmuggel und vieles mehr: In ihrer „Internen Sicherheitsstrategie“ zählt die EU-Kommission ein gutes Dutzend Bedrohungen auf, gegen die sich Europa wappnen muss. Diejenige, die ihr momentan am meisten Sorgen bereitet, fehlt in der Auflistung: Alexis Tsipras, 37 – Grieche, Motorradfahrer, Krawattenverweigerer. Und Linksradikaler. Der Chef des Parteienbündnisses Syriza hat gute Chancen, die für 17. Juni angesetzten Neuwahlen in Griechenland zu gewinnen.

Schafft er es anschließend auch noch, eine Regierung zu bilden, tritt für die EU ein Worst-Case-Szenario ein. Ihr Ansprechpartner in Athen ist dann nämlich ein Mann, dem durchaus zugetraut werden muss, dass er sein zentrales Wahlversprechen auch einhalten will: Schluss mit dem von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) verhängten Sparprogramm zu machen, unter dem seine Landsleute seit zwei Jahren stöhnen.

Die Maßnahmen, die Tsipras plant, sind radikal: Erst will er die Rückzahlung der griechischen Auslandsschulden stoppen, danach das mit den internationalen Kreditgebern mühsam vereinbarte 130-Milliarden-Euro-Rettungspaket neu verhandeln. Zum Drüberstreuen stellt er auch noch die Verstaatlichung der Banken und die Einführung einer 75-prozentigen Reichensteuer in Aussicht.

Dass es ihm damit Ernst ist, hat der Syriza-Chef bereits bewiesen. Nach der Wahl vom 6. Mai, aus der seine Partei als zweitstärkste Kraft hervorgegangen war, war ihm eine Regierungsbeteiligung mehr oder weniger sicher. Allerdings hätte er dann Abstriche von seinem Kurs machen müssen. Tsipras ließ die Verhandlungen platzen.

Genauso wenig wie von der Möglichkeit, in Athen an die Macht zu kommen, zeigt er sich nun von der Drohung aus Brüssel beeindruckt, Griechenland das Geld abzudrehen – und es somit aus der Eurozone kippen zu lassen.
Es ist ein riskantes Spiel, auf das sich Tsipras eingelassen hat. Dennoch sind seine Chancen auf Erfolg im Gegensatz zu allen Behauptungen von Kommissionspräsident José Manuel Barroso, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und anderen Europa-Kapazundern durchaus gegeben.

Die Frage ist schlicht: Wer hat mehr zu verlieren? Und die Antwort muss nicht zwangsläufig „Griechenland“ lauten.

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Alexis Tsipras mag auf der Bühne der internationalen Politik unerfahren sein. Das Verhandeln mit scheinbar übermächtigen Gegnern ist ihm durchaus vertraut.

Geboren im Juli 1974, vier Tage nach dem Ende der griechischen Militärdiktatur, wuchs er in einer nicht übermäßig politisierten Familie auf. Die Gespräche am Küchentisch dürften sich eher um die Ergebnisse der Fußballmannschaft Panathinaikos Athen als um jene von Abstimmungen und Wahlen gedreht haben.

Nachweisliches Interesse an der Politik fand Tsipras erst, als 1990 die konservative Nea Dimokratia unter Ministerpräsident Konstantinos Mitsotakis an die Regierung kam und in der Folge ein rigides Sparprogramm verabschiedete, das auch den Bildungsbereich traf. 1991 brachen Jugendproteste dagegen aus, an denen sich der damals 17-jährige Tsipras beteiligte – unter anderem bei der monatelangen Besetzung seiner Schule.

„Er fiel mir als sehr intelligent, ruhig und gleichzeitig leidenschaftlich auf“, zitiert die britische BBC einen damaligen Mitstreiter. „Er schaffte es, ein paar hundert Kinder zu repräsentieren, die eigentlich nicht wirklich wussten, weswegen sie demonstrierten.“

Tsipras habe sich damals nicht nur als der einzige Schülervertreter hervorgetan, der wusste, wie man mit der Presse umgeht, sondern auch als unerschrockener Verhandler selbst dem Unterrichtsminister gegenüber. Dass es die Protestbewegung letztlich schaffte, der Regierung Zugeständnisse abzuringen, scheint Tsipras nicht unbeeindruckt gelassen zu haben.

Bauingenieursstudium, daneben Universitätspolitik, Jugendfunktionär der Kommunistischen Partei, 1999 Wahl zum Jugendsekretär des linken Wahlbündnisses Synapsimos (Koalition der Linken, der Bewegungen und der Ökologie): Fünf Jahre später war Tsipras bereits Mitglied im Vorstand, 2006 Stadtrat in Athen, 2008 Parteivorsitzender.

Um die Ochsentour hatte er sich nicht gedrückt: Nachbarschaftsbesuche, Stadtteilfeste, Wahlveranstaltungen – Tsipras war omnipräsent in Athen, immer ohne Krawatte, oft in Motorradkluft. Sein jugendliches Auftreten habe zu seinem Erfolg beigetragen, heißt es: „Es hat die Leute an die alten Zeiten erinnert, in denen Politiker beim Vornamen genannt wurden, jederzeit erreichbar waren und persönlich auf Fragen geantwortet haben“, sagt die Stadtbedienstete Elpida Ziouva.

Wohlkalkulierte Provokationen trugen zu seiner Bekanntheit bei: Als er etwa eine Gedenkveranstaltung an die Militärdiktatur in Begleitung einer schwarzafrikanischen Immigrantin besuchte, erstarrte das stockkonservative Griechenland vor Schock.

Linkspopulistische Parolen taten ein Übrigens: Die Auseinandersetzungen über das Sparprogramm bezeichnete Tsipras im vergangenen Oktober als „Krieg zwischen der Macht des Kapitals und der Macht der Arbeit in ganz Europa“, die Rezession im Land verglich er mit der „Nazi-Besatzung in der Zeit 1941 bis 1944“, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bezichtigte er „unvorstellbarer Lügen“. Das hat ihn in ­seiner Heimat zum Polit-Popstar gemacht. „Ich würde dich auf der Stelle heiraten“, postete ein weiblicher Fan auf der Facebook-Seite von Tsipras. Mehr als alles andere wird Tsipras aber als perfektionistischer, methodischer Planer beschrieben: ganz wie er es als Bauingenieur gelernt hat. Schon bald könnte dieser Mann einem gereizten Riesen gegenüberstehen: der Europäischen Union.

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Man beginnt Verhandlungen nicht idealerweise mit Zugeständnissen. Und wer eine wirksame Drohkulisse aufbauen will, muss glaubwürdig vermitteln, dass er zu allem bereit ist.

Beides gilt für Tsipras ebenso wie für die EU, und daran wird sich bis zum 17. Juni vermutlich nicht viel ändern.

Der Syriza-Chef muss den Griechen ­signalisieren, dass er zu keinerlei Zugeständnissen gegenüber der EU bereit ist – in der Hoffnung, damit sein Wählerpotenzial zu maximieren. Die EU wiederum muss den Griechen signalisieren, dass sie zu keinerlei Zugeständnissen beim Sparprogramm bereit ist – in der Hoffnung, die Wähler dadurch wieder den Staatsparteien Pasok (sozialistisch) und Nea Dimokratia (konservativ) zuzutreiben, mit denen sie das Rettungspaket ursprünglich ausgehandelt hat. Halten beide an ihrer Position fest, dann drohen tatsächlich beträchtliche Folgen. Sollte Griechenland das Sparprogramm aufgeben und die EU auf stur schalten, würde die Troika zunächst ihre Hilfszahlungen einstellen. Binnen weniger Wochen ginge der Regierung in Athen daraufhin das Bargeld aus, sie könnte Staatsbedienstete nicht mehr entlohnen und müsste den Pensionisten die Rente schuldig bleiben. Im Wissen darum wäre sie bereits vor dem Zahlungsausfall gezwungen, unter schwierigsten Bedingungen eine neue Währung einzuführen, die dramatisch gegenüber dem Euro abwerten würde.

Das Sparen wäre damit auch noch nicht vorbei, der Staatshaushalt noch lange nicht konsolidiert und die Gefahr einer Hyperinflation, die den Lebensstandard weiter senken würde, eminent. Es wäre eine Phase, die nur mit schwersten sozialen Verwerfungen, möglicherweise bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, vor sich gehen würde.

Ein Regierungschef Tsipras könnte die Schuld an der Misere aber möglicherweise auf die EU abschieben und die Bevölkerung damit hinter sich sammeln: in der Hoffnung, dass die Wirtschaft wieder anspringt, weil günstigere Wechselkurse das Land als Urlaubsziel attraktiv machen und die weichere Währung den Export begünstigt. Beides ist alles andere als sicher. Immerhin hat Griechenland den ausländischen Märkten außer Agrarprodukten kaum Nennenswertes anzubieten.

Dennoch: Es scheint möglich, dass sich das Land nach einiger Zeit wieder aufrappelt. Es wäre nicht das erste, das nach einem Bankrott den Neubeginn schafft. Zumal es sich Europa kaum leisten würde, ein – dann möglicherweise ehemaliges – Mitglied zum Failed State herunterkommen zu lassen.

Für die EU hätte ein Ausscheiden Griechenlands ein paar positive Effekte. Brüssel hätte ein Exempel statuiert, das seine Wirkung auf andere wirtschaftliche Wackelkandidaten nicht verfehlen würde. Und es wäre ein Fass ohne Boden los, in dem bereits viele hundert Milliarden Euro verschwunden sind. Übrig bleiben die privaten Gläubiger, wobei die Banken einen Teil ihrer Außenstände inzwischen ohnehin bereits vorsorglich abgeschrieben haben dürften.

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Was die EU im Zusammenhang am meisten fürchtet, ist „contagion“, also „Ansteckung“. Aus Furcht vor Staatsbankrott, Währungsumstellung und Entwertung haben die Griechen längst damit begonnen, ihr Geld im Ausland in Sicherheit zu bringen. Die Angaben über das Ausmaß der Kapitalflucht schwanken: Sicher ist, dass alleine am Montag vergangener Woche 700 Millionen Euro von Privatkonten abgehoben wurden. Seit der Wahl am 6. Mai sollen es bis zu fünf Milliarden Euro gewesen sein. Das Volumen der Spareinlagen betrug laut Angaben der Griechischen Nationalbank zuletzt 165,5 Milliarden Euro, 31 Milliarden weniger als noch vor einem Jahr. Mehreren kleineren Kreditinstituten geht inzwischen bereits das Cash aus.

Was, wenn diese Entwicklung nach einem Kollaps Griechenlands auf andere Länder übergreift? Was, wenn die Bevölkerung in anderen geschwächten Staaten ebenfalls beginnt, ihre Sparbücher zu plündern? „Das ist die Saat des Bösen“, erklärte der ehemalige britische Labour-Schatzkanzler Alistair Darling. „Wenn sie sich auf andere Länder ausbreitet, könnte es wirklich desaströs für Europa sein. Es könnte uns auf Jahre hinaus zur Stagnation verdammen.“

Sollte Griechenland die Eurozone verlassen, könnten die Folgen für das Finanzsystem so groß sein wie jene des Zusammenbruchs von Lehman Brothers im Jahr 2008, warnte Weltbank-Präsident Robert Zoellick vergangene Woche. Denn: „Die Kernfrage wird nicht Griechenland sein, sondern Spanien und Italien.“

Tsipras sieht das ähnlich: „Wenn Griechenland kollabiert, suchen sich die Märkte am nächsten Tag ein neues Opfer. Das ist der Weg in die Hölle“, prophezeite er vergangene Woche in einem CNN-Interview trocken. Soll heißen: Die EU kann es sich schlicht und einfach nicht leisten, das Land fallen zu lassen, weil das selbst der permanente 500-Milliarden-Euro-Rettungsschirm nicht aushalten würde. Ganz zu schweigen von den möglichen Folgen in Portugal, Spanien, Italien und anderen Staaten.

Und so, wie es in Griechenland nach einer Währungsumstellung mit dem Sparen nicht vorbei wäre, müsste die EU wohl weiter zahlen – in geringerem Ausmaß, aber doch. Die Europäische Zentralbank wäre gezwungen, die „Drachme neu“ durch Ankäufe zu stützen. Bleibt das Land in der EU, hätte es zudem weiterhin Anspruch auf Hilfszahlungen, für die alle 27 Mitgliedsstaaten blechen müssten. Bislang galt das nur für die Angehörigen der Eurozone.

Das heißt: Für Griechenland steht viel auf dem Spiel: Die Konsequenzen wären extrem bitter, aber zumindest absehbar. Die Folgen, die der EU bei einem Crash drohen, lassen sich hingegen überhaupt nicht abschätzen und könnten weit über die Eurozone hin­aus in eine neuerliche Weltfinanzkrise münden.

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„Wir werden alles tun, um Griechenland in der Eurozone zu halten“, bekräftigte Alexis Tsipras vergangene Woche gegenüber CNN. „Wir werden das Memorandum (die mit der EU über den Schuldenabbau getroffene Vereinbarung, Anm.) kündigen und neu verhandeln.“

Bis vor wenigen Tagen wäre es unmöglich gewesen, beides miteinander zu vereinbaren. Inzwischen scheint es aber nicht mehr völlig ausgeschlossen. Der Grieche profitiert nicht nur von der politischen Dynamik durch den Regierungswechsel in Frankreich, mit dessen neuem Präsidenten François Hollande er schon seit Längerem zusammentreffen möchte – bei einem für Anfang dieser Woche geplanten Besuch in Paris war allerdings nur ein Gespräch mit Jean-Luc Mélenchon, dem Chef der Linkspartei, vorgesehen. Auch der Paradigmenwechsel im Hinblick auf das Sparprogramm hilft Tsipras – und die Angst vor dem Ungewissen. Erste Reaktionen aus Brüssel und Berlin deuten bereits auf eine gewisse Verhandlungsbereitschaft seitens der EU hin.

Angela Merkel
, anfangs eine absolute Hardlinerin, stellt bereits zusätzliche Stimulus-Programme für Griechenland in Aussicht. Und José Manuel Barroso, der dem Land zuvor ebenfalls einen Austritt aus dem Euro nahegelegt hatte, spricht nunmehr davon, „den ­Stabilitäts- und Wachstumspakt intelligent anzuwenden“. Das deutet auf die Bereitschaft hin, den besonders unter Spardruck stehenden Euroländern eine Verschnaufpause zu verschaffen.

Ob sich Tsipras damit zufriedengibt?
Um zu erfahren, wie weit er der EU entgegenzukommen bereit ist und die EU umgekehrt ihm, muss er erst einmal an die Regierung kommen. Dann geht das Spiel erst richtig los. Aber dann kann es sich die EU möglicherweise nicht mehr leisten, gegen Tsipras zu gewinnen.