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Helmut A. Gansterer Gute Zeiten? Schlechte Zeiten?

Gute Zeiten? Schlechte Zeiten?

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„Ernest Dichter sagte, die Sehnsucht nach
vollendeter Harmonie sei des Menschen, der
als Individualist geboren wird, unwürdig“
Prof. Dr. Gerd Prechtl,
Unternehmensberater und Dichter-Freund

Die wichtigsten Universitäten sind die Gasthäuser. Sie sind Wissensvermittler von exemplarischer Qualität. Alle Arten von Gasthäusern sind zu loben, die Landwirtshäuser, die Bahnhofskioske, die Würstelstände, die Tag- & Nachtkneipen in der Nähe von vitalen Handelsplätzen wie dem Wiener Naschmarkt, die bürgerlichen Restaurants in den noblen Grüngürteln, die Kaffeehäuser und die Bars der großen Downtown-Hotels.
Sie sind Wundergärten der Recherche. Dort wird qualitative Marktforschung am zuckenden Menschenfleisch möglich. Dort gewinnt man vitale Einsichten. Sie sind unverzichtbares Gießwasser für die trockenen Daten der objektiv erstklassigen Marktforschungen von Karmasin, market & Co. Erst beides miteinander macht eine Flora. Wörter und Zahlen allein sind zu wenig. Man braucht zum Begreifen ein greifbares, dreidimensionales Bild, das auch tönt und duftet. Wenn meine Eltern sagten: „Mach dir ein Bild, bevor du blöd daherredest“, meinten sie dies. Die Macht des Bilds wird negativ-gegenständlich in Religionen erkennbar, die streng verbieten, sich von Gott ein Bild zu machen. Ein Bild würde das Begreifen erleichtern. Götter aber sollen nicht begriffen und geschaut, sondern geglaubt werden.

Die jüngsten zwanzig Wirtshausbesuche und Wirtshausgespräche waren der Frage gewidmet, wie es dem Mittelbau der Bevölkerung wirklich geht, rein persönlich und tief im Innersten. Es ging da nicht um meine Theorie des „Glücksfalls einer klugen, schweigenden Mehrheit“. Nicht die Klugheit im Ernstfall, die verhindern wird, dass die Rechtsaußen-Blödparteien jemals mehr als ohnehin schlimme 33 Prozent der Stimmen erhalten, wurde überprüft. Ermittelt wurde ausschließlich die psychologische Befindlichkeit von mittigen Herrschaften, die aktiv tätig, wohlsituiert, aber nicht reich sind und zunächst nur an sich selbst denken; also weder die Probleme der Kinder noch die der Alten teilen; und gewiss nicht jene der Verlierer, die keine Kraft zur Selbsthilfe mehr haben und verächtlich „Loser“ genannt werden.

Ergebnis: dramatische, persönliche Unglücksgefühle trotz allen Wissens, dass es „uns Österreichern noch gut geht“, vergleichbar dem Motto der einst erfolgreichen TV-Serie „Der ganz normale Wahnsinn“: „Warum geht es dem Einzelnen so schlecht, wo es uns allen doch so gut geht?“ In der Summe der Einzelgespräche drängte ein Begriff an die Oberfläche, den ich schon früher gehört, aber nie ernst ­genommen hatte: Sehnsucht nach Ruhe. Man beklagte die Hast der Zeit, den Terror der Innovationen, die Erfindung der Geschwindigkeit.

Ein Historiker unbestimmten Amtes und Namens, ein unauffällig-teuer gekleideter Gentleman, der als Witwer ­zurückgezogen lebt, Kontakte und Öffentlichkeit scheut, kurz vor dem Ruhestand steht und tatsächlich an den Hauptheld in Fernando Pessoas „Das Buch der Unruhe“ erinnert, erwies sich als idealer Kristall der Facetten dieser Gespräche. Er fand sich als Gast bereit, einen Abend lang zu erklären, warum er als langjähriger profil-Leser in keinem Punkt mit mir Optimisten übereinstimme. Da war es nur billig, dass er die ­Weine nach dem Prinzip seiner Stoffwahl (Zegna) wählte. Er eröffnete mit einem „Quattro“ vom Gager.

Ich raffe seine Worte zusammen: Österreich habe keineswegs seit dem Zweiten Weltkrieg 66 Jahre fortwährenden Friedens und Wohlstandszuwachses erlebt. Wäre dies der Fall gewesen, hätte es tatsächlich einer Glücks-Epoche der Hethiter geglichen, dafür stehe mir ein Historiker-Gutpunkt zu. Leider aber sei schon nach lächerlichen 13 Jahren das Ruhe-Bedürfnis der Kriegsgeschädigten verletzt worden. Von wirklicher, republikanischer Freiheit Österreichs könne man erst ab 1955 sprechen. Und die von mir vergötterte Arbeiter- & Studentenrevolution 1968 sei zwar ein einzigartiger Aufstand der Jungen gegen die Alten gewesen, habe aber per außerparlamentarischer Opposition und den Roten Brigaden genauso geendet wie alle früheren Revolutionen. Am Ende seien die Revolutionäre immer noch grausamer und machthungriger gewesen als die Besiegten. Ich erzähle, dass ich Raymond Lévy als Nachfolger des von den Brigaden ­ermordeten Renault-Chefs Georges Besse in Paris besuchte, zwecks Interviews für profil, „trend“ und ­„auto­revue“. Der Historiker gibt einen Gutpunkt „für die Tapferkeit, frische Gräber aufzusuchen“, und wechselt im Rotwein auf Krutzlers „Perwolff“.

So hanteln wir uns widerborstig bis in die Gegenwart. Ich begründe die Success-Story AUSTRIA. Er spricht dagegen. Alle Zäsuren kommen vor: die Ölpreis-Krisen der siebziger Jahre, die Kopfarbeit-löst-Handarbeit-ab-Revolution der achtziger Jahre, der Siegeszug von Digital über Analog der neunziger Jahre, das Mil­lennium 2000 als Aufstieg des Internets, schließlich Tunesien und Ägypten, von mir als langfristige Verheißung gelobt, von ihm als endgültige „Störung der Totenruhe aller Lebenden“ gegeißelt. Er greift erregt nach einem „Château Lafitte“ der sechziger Jahre. Damit ist selbst der profil-Spesenrahmen ausgereizt und die Kolumne auf Cent und Sekunde genau zu Ende.

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