profil: 1989 verkündeten Sie in einem großen Essay das Ende der Geschichte und wurden damit schlagartig weltberühmt. Seither werden Sie praktisch identifiziert mit dieser Idee. Ist das eher ein Vorteil oder eher ein Nachteil?
Fukuyama: Es hat ein paar negative Konsequenzen, unter anderem die, dass ich immer wieder danach gefragt werde. Andererseits, wäre ich damit nicht berühmt geworden, würde nicht so intensiv wahrgenommen, worüber ich mir sonst Gedanken mache.
profil: Sie wurden seinerzeit nicht nur kritisiert, sondern auch mit Spott bedacht: Sie verkünden das Ende der Geschichte und was folgt? Historische Ereignisse!
Fukuyama: Ich habe es längst aufgegeben, darauf zu hoffen, dass diese Kritiker meine These wirklich ernsthaft diskutieren. Vor allem verstehe ich nicht, dass es nicht wenige ehemalige Marxisten waren, die mich so demonstrativ nicht verstehen wollten. Gerade sie hätten sich doch noch daran erinnern sollen, dass sie einmal die Idee vertraten, die Geschichte habe ein Ziel, es gebe einen Fortschritt zu immer vollkommeneren Gesellschaftsformen. Ich habe damals nichts anderes gesagt, als dass die Evolution menschlicher Gesellschaften ihr Ziel erreicht hat: die liberale westliche Demokratie. Mit dem Untergang des Kommunismus ist die marktwirtschaftliche, pluralistische Demokratie zum konkurrenzlosen Modell für die Welt geworden. Große Ideenkonflikte gibt es nicht mehr. Ich meine, dass meine These noch immer stimmt.
profil: Zugegeben, nicht einmal die Linken glauben noch an Sozialismus oder Kommunismus oder irgendeine andere marxistische Gesellschaftsvision. Trotzdem: Es gab historische, einschneidende Ereignisse, zum Beispiel den 11. September.
Fukuyama: Ich will nicht den Rest meines Lebens meine Theorie verteidigen. Natürlich war der 11. September ein historischer Einschnitt. Aber meine These, dass der Modernisierungsprozess überall in der liberalen Demokratie mündet, wird davon nicht berührt.
profil: Aber stellt der Islamismus nicht eine neue große Idee dar, die mit der liberalen Demokratie in Konflikt steht?
Fukuyama: Ja, der Islamismus ist eine antiwestliche Doktrin. Er stellt eine direkte Attacke auf die Prinzipien der liberalen westlichen Demokratie dar. Mehr noch: Er wächst soziologisch aus ähnlichen Entfremdungserfahrungen der Menschen in der modernen Welt wie seinerzeit der Faschismus. Auch die Todesästhetik der islamischen Fundamentalisten erinnert an vergangene Totalitarismen. Und die Anti-Kommerz-Rhetorik der Islamisten erinnert wiederum ein wenig an die Kommunisten. Aber es gibt auch große Unterschiede: So übt der Islamismus nicht viel Anziehungskraft auf Menschen aus, die nicht schon Muslime sind. Und selbst unter den Muslimen hängt nur eine kleine Minderheit dieser Doktrin an. Die meisten Muslime würden gerne in einer modernen westlichen Gesellschaft leben.
profil: Sie sind immer für Überraschungen gut. 1989 feierten Sie den Sieg von Kapitalismus, Privatisierung und Marktwirtschaft. In Ihrem neuen Buch Staaten bauen betonen Sie die Bedeutung funktionierender, starker staatlicher Institutionen sehr erstaunlich für einen Reagan-Konservativen wie Sie.
Fukuyama: Man hat mich immer falsch eingeschätzt. Ich war nie ein Reagan-Mann in dem Sinn, dass ich der Meinung gewesen wäre, weniger Regierung sei immer gut. Und ganz gewiss hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass schwache Staaten das eigentliche große Problem unserer Zeit sind. Vor zehn Jahren wurde das noch nicht so gesehen. Die schwarzen Löcher der Rechtlosigkeit sind die Quellen der Konflikte unserer Zeit ob das nun Regionen in Zentralafrika oder Länder wie Somalia, Bosnien, Kosovo und Afghanistan sind. Die internationale Gemeinschaft muss lernen, in solchen Ländern den Aufbau starker staatlicher Institutionen zu fördern. Das ist ziemlich schwer. Und wir sind auch nicht besonders gut darin.
profil: Sie sind eine der schillerndsten Figuren der amerikanischen Neokonservativen. Jetzt haben Sie sich mit Ihren Gesinnungsgenossen angelegt und in einem großen Essay den Irak-Krieg kritisiert, die Illusionen und Fehler der Bush-Regierung. Die Europäer hätten mit ihrer skeptischen Haltung in fast jeder Hinsicht Recht behalten, schreiben Sie. Das werden Ihre Freunde nicht gern gehört haben.
Fukuyama: Die Neokonservativen stehen für ein paar Überzeugungen: dass die Demokratie ein universales Modell ist, dass wir unsere Außenpolitik an Werten orientieren müssen und die amerikanische Macht in diesem Sinn einsetzen sollen. Daraus folgt aber keineswegs, dass wir in den Irak einmarschieren mussten. Europäer und Amerikaner zeichnen zunehmend Karikaturen von der jeweils anderen Seite. Es gibt in Europa einen ziemlich geistlosen Antiamerikanismus, aber gleichzeitig verzerren viele meiner neokonservativen Freunde die Einwände und Bedenken der Europäer. Ich habe lediglich ein paar Dinge in Erinnerung rufen wollen: etwa, dass es wichtig ist, Verbündete zu haben. Ich habe nie verstanden, warum sich die Bush-Regierung geradezu bemüht hat, alte Freunde gegen sich aufzubringen.
profil: Nach dem 11. September genossen die USA die Unterstützung der Welt. Im Vorfeld des Afghanistan-Krieges ging die Bush-Regierung auch mit viel Bedacht vor. Warum hat sie dieses Kapital so leichtfertig zerstört?
Fukuyama: Manche hielten den Irak wirklich für eine akute Bedrohung. Bush dachte tatsächlich, dass die Gefahr groß sei und dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen an Terroristen weitergebe. Andere Kräfte in der Regierung dagegen wollten durchaus zynisch die Möglichkeit nicht auslassen, die Amerikaner in einen Krieg gegen den Irak zu führen. Und sie rechneten einfach nicht damit, dass Europa und auch andere Teile der Welt so aufgebracht reagieren würden. Schließlich haben sie wohl gehofft, dass die Kritiker verstummen würden, wenn der Regimewechsel im Irak zu einem Erfolg führe. Wären dann auch noch Massenvernichtungswaffen gefunden worden, erschiene die Invasion heute sicher legitim. Diese Strategen haben sich grandios verrechnet. Es ist absurd: Sie haben den Irak zu einem Hafen für Terroristen und mit ihrer Anti-Terror-Strategie die Terrorgefahr nur größer gemacht.
profil: Gibt es Hoffnung für den Irak?
Fukuyama: Vielleicht gelingt eine Art von Machtaufteilung und Stabilisierung. Ganz ausgeschlossen ist das nicht. Aber es sieht nicht gut aus. Und es erscheint unvorstellbar, dass die irakische Regierung in näherer Zukunft stark genug sein könnte, mit diesen Problemen fertig zu werden.
profil: Solange es Besatzung gibt, wird es Widerstand geben. Sollten die USA nicht so schnell wie möglich abziehen?
Fukuyama: Niemand will, dass sein Land besetzt wird. Aber es ist unmöglich, dass die USA abziehen. Das Land würde völlig in Chaos und Bürgerkrieg untergehen.
profil: Die Bush-Leute haben also haarsträubend hoch gepokert und finden jetzt keinen Weg mehr aus der Misere?
Fukuyama: Ja, aber wir sollten andererseits eines nicht vergessen: Diese Art von Risikobereitschaft, von Leadership ist nicht völlig neu. Es gab auch in den vergangenen Jahrzehnten eine Tradition amerikanischen Unilateralismus. Vergessen wir nicht, wie oft die USA auch in der Ära des Kalten Krieges vorangestürmt sind, die Europäer ein bisschen gedrängt, ein bisschen erpresst haben und durch den Erfolg ihrer Politik erst später die öffentliche Meinung in Europa auf ihre Seite brachten denken wir nur etwa an die Nato-Nachrüstung in den achtziger Jahren. Auch im Kosovo-Krieg gab es keine Unterstützung durch den UN-Sicherheitsrat. Politiker wie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sind dann zu dem Schluss gekommen, dass die Europäer unfähig seien, Problemen und Gefahren zu begegnen, und dass die USA sich dadurch in ihrem Handeln nicht behindern lassen dürften. Aber noch einmal: Ich halte das für grundfalsch. Weil die Regierung aufgehört hat, anderen Meinungen überhaupt nur Gehör zu schenken, hat sie Amerika großen Schaden zugefügt, der für lange Zeit kaum repariert werden kann.
profil: Würde sich das nicht mit einem demokratischen Präsidenten schnell ändern?
Fukuyama: Der stilistische Aspekt würde sich ändern. Die raubeinige Art, mit der Bush sich Freunde entfremdete, würde John Kerry etwa sicher nicht an den Tag legen. Aber es ist auch ein bisschen naiv zu glauben, dass mit einem demokratischen Präsidenten in Washington alle grundlegenden Spannungen schon beigelegt wären. Die Amerikaner und die Europäer denken einfach unterschiedlich über Fragen wie den Einsatz militärischer Gewalt oder die Legitimität internationaler Institutionen.
profil: Inwiefern?
Fukuyama: Amerikaner sehen Demokratie als einzige Quelle der Legitimität. Deswegen schätzen sie die Vereinten Nationen auch nicht so wie die Europäer. Sie sehen nicht ein, welche Legitimität eine Institution haben soll, in der Libyen der Menschenrechtskommission vorsitzen kann. Die Europäer wiederum haben die Erfahrung gemacht, dass nationale Souveränität ihren Kontinent in große Probleme gebracht hat, und schätzen daher internationale Institutionen besonders hoch. Daraus ergeben sich immer wieder Reibereien.
profil: Eine persönliche Frage: Haben Sie Bush vor vier Jahren gewählt?
Fukuyama: Ja.
profil: Und werden Sie ihn wieder wählen?
Fukuyama: Nein, ich werde ihn nicht mehr wählen.
profil: Also werden Sie für Kerry stimmen?
Fukuyama: Auch das fällt mir schwer. Er ist einfach ein schwacher Typ, ein unentschiedener Opportunist. Jetzt ist er plötzlich dafür, innerhalb von vier Jahren aus dem Irak abzuziehen. Aber jeder weiß, dass er diesen Standpunkt vertritt, weil es in den Umfragen schlecht für ihn aussieht. Sie sehen also: Es ist wirklich schwer, zwischen Bush und Kerry zu wählen.
profil: Bush gilt im Moment wieder als großer Favorit.
Fukuyama: Seit dem Parteitag der Republikaner sieht es eindeutig so aus. Ich finde es zwar ziemlich ärgerlich, dass das Bush-Lager den 11. September so schamlos für den Wahlkampf ausnützt. Aber es zieht.