Rainer Nikowitz

In einem Land vor unserer Zeit

In einem Land vor unserer Zeit

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Der Landeshauptmann war gerade dabei, in einem Akt gelebter Menschlichkeit die Fußfesseln eines neunjährigen Tschetschenen, der dereinst garantiert einmal vorbestraft sein würde – erstens lag es ihm nun einmal im Blut, zweitens war seine Großtante mütterlicherseits unlängst dabei ertappt worden, wie sie mit den unschuldigen Blütenblättern einer in Kärntner Landeseigentum stehenden Margerite „Er schiebt mich ab, er schiebt mich nicht ab“ gespielt hatte, und drittens schaute er irgendwie so –, ein wenig zu lockern, als sein Handy läutete.

Zum Glück kannte er die Gegend, in der sie sich befanden, seit seinem ersten Oben-ohne-Fotoshooting vor 21 Jahren wie die Tasche seines Hugo-Boss-Anzugs und wusste auch in stockdunkler Nacht, wo er vor den Schergen der Asylanten-Mitzi, die überall lauerten, selbst hier auf der Saualpe (also dem genuinsten Kärntner Boden überhaupt), Deckung finden konnte.
Nach einer eleganten Pirouette, für die sein erster Adjutant Petzner, der sich zwecks Tarnung für den heutigen Deportationsmarsch anstelle einer einfachen Gesichtsschwärzung für eine Verkleidung als Nscho-tschi entschieden hatte, für die also Petzner, wenn er einst seiner wahren Berufung, Eistanz-Juror zu werden, gefolgt wäre, die Traumnote 6,0 vergeben hätte, hechtete der Landeshauptmann in eine strategisch eher unglücklich positionierte Kanalratten-Losung und rollte sich anschließend behände direkt in einen Brombeerbusch. Nicht ohne seine mit zu hundert Prozent artenreiner Kärntner Spucke gefüllte Wasserpistole sofort wieder in Anschlag zu bringen.

Sein Falkenauge schweifte umher. Es waren keine feindlichen Truppen zu sehen. Er nestelte das Handy aus seinem Suspensorium und drückte, gerade als Gloria Gaynor in seinem Klingelton nach „I will“ auch noch „survive“ singen wollte, auf die grüne Taste. „Parole?“, fauchte er, so leise, wie es einem Wildkater wie ihm nur irgend möglich war. „Muammar!“, antwortete der Anrufer. Das stimmte. „Scheuch! Bist narrisch? Warum rufst du mi mitten im großen Trek an? I hab da 16 Tschetschenen, sechs Afghanen und an Wiener zum Abschieben, und wir stehen knapp vor der steirischen Grenz! Willst, dass sie uns derwischen oder was?“ „Muammar!“, wiederholte die Stimme am anderen Ende der Leitung verunsichert und fügte dann an: „Gaddafi!“ Er war es. „Muammar“, flüsterte der Landeshauptmann, „it is now really not a good time, because I … What? International alliance against Switzerland? Yes, sure. I kick them out of Kärnten. All three of them. I will find a reason. But I have to hang you up now, I am really very busy, o.k.? Greetings to Seif!“

Der Landeshauptmann seufzte. Was für Zeiten! Hannibal wurde in den Alpen übel mitgespielt, ein Böhm war Teamchef, Heide Schmidt Spitzenkandidatin, der angeblich serbische Wunderheiler, der Petzners Klugheit auf geniale Weise verdoppelt hatte (er hatte ihn mit einem Bandwurm infiziert) und von dem sich der Landeshauptmann Hilfe gegen diejenige der Stimmen in seinem Kopf, die permanent die „Internationale“ sang, erhoffte, rief nicht mehr zurück – und jetzt taten auch noch alle so, als könne er, der Landeshauptmann, nicht einfach so bestimmen, welcher Asylant ein Verbrecher war und darob ins Ausland verbracht werden musste. Niederösterreich war ja wohl ein sicherer Drittstaat. Außer für Kärntner natürlich, aber die wurden ja immer und überall verfolgt.

Sie waren jetzt seit sieben Stunden unterwegs und keineswegs so gut vorangekommen, wie es der Landeshauptmann geplant hatte. Die Asylanten leisteten heftigen Widerstand, indem sie sich mit ihren Ketten immer wieder absichtlich in Hindernisse am Wegesrand verhedderten. Und dieser zehn Monate alte Afghane war ein ganz Ausgeschlafener, der tat überhaupt so, als könne er nicht ordentlich gehen. Aber das würde ihnen nichts nützen. Schließlich hatten sie alle unterschrieben, dass sie freiwillig mitgegangen waren. Und notfalls würde der Landeshauptmann eben in der Morgendämmerung irgendwo ein sicheres Lager suchen und dann in der nächsten Nacht weitergehen. Mitzi würde sie nicht kriegen, so viel stand fest. Der Landeshauptmann lächelte jenes Lächeln, das ansonsten nur eine Happy Hour auf sein, wie er fand, immer noch bubenhaftes Gesicht zaubern konnte.
Doch was war das? Ein Rascheln vor ihm, ungefähr auf zehn Uhr. Der Landeshauptmann griff sich sein Nachtsichtgerät. Da war etwas, kein Zweifel. „Leck Oasch!“, sagte es mit einem Mal deutlich vernehmbar.
Der Landeshauptmann fühlte, wie ihn wieder einmal eine Welle der Menschlichkeit durchflutete. Hier war jemand, der dringend Hilfe brauchte. Der auf der Flucht war, vor Willkürjustiz und Verfolgung. Ein politischer Flüchtling reinsten Zuschnitts. „Hier sind wir, mein Freund“, sagte der Landeshauptmann. „Du hast es geschafft. Du bist in Kärnten. In ­Sicherheit.“
Und dann sank Peter Westenthaler weinend in seine ­Arme.