Irakische Apokalypse

Irakische Apokalypse

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Wenn ich aufgefordert würde, eine möglichst realitätsnahe Apokalypse an die Wand zu malen, dann sähe sie folgendermaßen aus: Der Irak versinkt in einer Mischung aus Bürgerkrieg zwischen fundamentalistischen Religionsführern, Sezessionskrieg zwischen Kurden und Arabern und Guerillakrieg gegen die amerikanischen Besatzer. Diesen bleibt nichts übrig, als ihre täglich durch Attentate dezimierten Truppen rund um die irakischen Ölfelder zu konzentrieren, um mit Zähnen und Klauen das eigentliche Ziel ihres Krieges zu verteidigen. Aber sowohl die Ölleitungen wie die auslaufenden Öltanker sind permanente Ziele irakischer Raketenangriffe, sodass der Preis des geförderten Öls in keinem Verhältnis zum Aufwand steht.

Gleichzeitig weiten sich die in den vorangegangenen Wochen beobachteten Terroraktionen fundamentalistischer Gruppen im gesamten Mittleren Osten zu Aufständen der unterdrückten, bestohlenen Bevölkerung gegen ihre mehrheitlich unfähigen und korrupten Regime aus, wobei als Erstes das saudische Königshaus die rechtzeitige Flucht in die Schweiz der Lynchjustiz vorzieht.

Natürlich besetzen die amerikanischen Truppen auch die saudischen Ölfelder sofort bis zum letzten Bohrturm, aber auch die Ölausfuhr aus diesem wichtigsten Ölland der Erde ist täglichen Raketenangriffen und Sabotageakten ausgesetzt.
Damit steigt der Ölpreis ins Astronomische.

Da sämtliche Volkswirtschaften von diesem Preis abhängen, geraten zuerst Japan, die USA und die EU, sehr rasch aber auch Indien und China gleichzeitig in eine Wirtschaftskrise, neben der die historische „Weltwirtschaftskrise“ als kurzfristige Störung erscheint: Trotz des sofortigen Ausbaus von Atomkraftwerken – auch in Zwentendorf – und der Erschließung der kaspischen Ölreserven bricht das Wirtschaftsleben, wie wir es kennen, für Jahrzehnte zusammen.

Zwar hegt niemand – auch nicht mehr die Grünen und die Pazifisten – den geringsten Zweifel daran, dass wir „Krieg für Öl“ führen müssen, dass also die saudischen Ölfelder von den USA notfalls bis hin zur Ausrottung aller Angreifer verteidigt werden müssen, weil „unsere“ Welt sonst untergeht – aber die menschlichen und moralischen Kosten sind so astronomisch wie die Kosten des geförderten Öls: Schießbefehle gegen alle, die sich den Förderanlagen oder Ölleitungen auf mehr als einen Kilometer nähern. Permanent über den Fördergebieten kreisende Kampfhelikopter, die auf jedes sich nähernde Fahrzeug schießen. Die Androhung des Einsatzes taktischer Nuklearwaffen für den Fall eines Angriffs seitens regulärer Truppen.

Aufgrund dieser Blockade, des Nichtverfügenkönnens über das eigene Öl sowie der vielfachen inneren Wirren kommt es zu einer noch größeren Verelendung der arabischen Bevölkerung, die in noch größeren Hass gegen die Besetzer der Ölfelder mündet, sodass deren Verteidigung noch schwieriger und teurer wird.
Und irgendwo in Washington George Bush, der erklärt: „Wir werden nicht gehen, ehe unsere Mission erfüllt ist.“

Das skizzierte Szenario ist keineswegs absurd, sondern besitzt durchaus eine Eintrittswahrscheinlichkeit, die ich bei mindestens fünf Prozent ansiedeln würde. Da die daraus resultierende Katastrophe die Größenordnung eines Weltkrieges besitzt, ergibt die übliche Multiplikation von Eintrittswahrscheinlichkeit und Gefahrenpotenzial ein Risiko, wie wir ihm, glaube ich, seit der Kuba-Krise nicht mehr gegenübergestanden sind.

George Bush senior hat die Fantasie besessen, sich dieses Risiko auszumalen, und ist deshalb im ersten Irak-Krieg, trotz heftiger Kritik von vielen Seiten, nach der Entsetzung Kuwaits nicht nach Bagdad weitermarschiert.
Sein Sohn hat diese Fantasie nicht besessen.
Ich auch nicht.

Aber ich habe mir wenigstens das Blutbad ausmalen können, zu dem die Eroberung Bagdads bei etwas gekonnterer Strategie Saddam Husseins vermutlich geworden wäre, und war mit dieser durch die Ereignisse glücklicherweise widerlegten Begründung gegen den amerikanischen Einmarsch.

Der ehemalige Generalintendant des ORF, Gerd Bacher, hat das Blut wie das Chaos gleichermaßen gefürchtet und mir am Tag des Einmarsches ein Szenario etwa des beschriebenen Inhalts angedeutet: Er sehe eine Katastrophe historischen Ausmaßes heraufdämmern.

Man sollte Leute seines Vorstellungsvermögens zu Präsidenten der Vereinigten Staaten machen. Stattdessen setzt man sie sogar ab, wenn man sie zufällig zum Generalintendanten des ORF hat.