Eatdrink: Klaus Kamolz

eatdrink von Klaus Kamolz Onkel Vanjas Erbe

Onkel Vanjas Erbe

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Damals, in den frühen achtziger Jahren, war die Suppe noch zu dünn. Deshalb war er immer wieder zu Gast in der Bäckerstraße, wobei man sagen muss, dass er nicht einfach ins „Oswald & Kalb“ hineinspaziert ist. Nein, er ist dort erschienen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, weil ich als Student von diesem Lokal in der Wiener Innenstadt gehört hatte und ebenso fürwitzig wie naseweis beinahe jeden Abend vorstellig wurde, weil dort jenes Wien Hof hielt, das mich damals faszinierte: die Journalisten, die Künstler, die Bohemians, die Schnorrer; Letztere waren manchmal sogar die Spannendsten, sie ernährten sich von den Resten in stehen gelassenen Weingläsern, überredeten die Herren Ober (das waren wirklich Ober und nicht Kellner), ihnen einen schnellen Schnitt zu zapfen – und gaben nicht selten die aberwitzigsten Geschichten zum Besten.

Ach ja, der Erschienene. Er nannte sich zuletzt – das war auf der Flucht in Manila – Alfred Semrad, hieß früher auch Serge Kirchhofer und ging als Udo Proksch, nachdem die Suppe zu dampfen begonnen und kräftig an Odeur gewonnen hatte, in die Kriminalgeschichte ein. Dass er im Kalb, wie gesagt wurde, einmal die Luster von der Decke geschossen haben soll, kann ich nicht bestätigen; an dem Abend, so es geschah, muss ich krank gewesen sein. Dass er trotz der damals schon drückenden Verdachtslage hofiert wurde, erzählt auch ein bisserl was über das Wien jener Tage. Dem Kalb haben seine Auftritte nie geschadet.

Das Kalb. Mir fällt seit den neunziger Jahren kein Etablissement mehr ein, das die Boheme der Stadt auf wenigen Quadratmetern – es handelt sich hier um ein Bürgerhaus aus dem 16. Jahrhundert – vereint hätte. 1979 wurde es von den kunstaffinen Charismatikern Evelyn Oswald und Kurt Kalb gegründet, deren damals noch keineswegs virtuelles soziales Netzwerk ausreichend groß war, um die beiden Räume jeden Abend zu füllen. Ein Team von Obern aus allen Teilen des in jenen Tagen noch existierenden Jugoslawien sorgte mit seither selten beobachteter Souveränität dafür, dass sich einfach alle dort wohlfühlten. Vanja, Savo, Bane, Neno, ein Achtel Messwein bitte noch. Einige der Kellner waren am Lokal beteiligt; irgendwann verkauften alle Teilhaber. Das Kalb war – man muss es sagen – tot. Ich bin vor Kurzem daran vorbeigegangen und habe mir gedacht, hier war es einmal, obwohl es ja immer noch existierte, der Name über dem Eingang stand und Licht aus den Fenstern drang.

Die kleine Reihe über gastronomisches Wiener Urgestein gebot aber nun wieder einmal den Schritt über die Schwelle. Wir besetzen den dritten Tisch, der Rest des Gewölbes bleibt den lieben, nicht allzu langen Abend leer. Nur eines ist noch wie damals: Die Suppe ist zu dünn. Die Rindsuppe. Mit den Grießnockerln drin, bei denen man zu einem harten bröseligen Kern vorstößt. Sie ist auch zu dünn in diesem magenschonenden Spitalstafelspitz mit dem geschmacklich verblichenen Apfelkren und der philadelphiaartigen Schnittlauchsauce. Wollen wir gerecht sein: Es gibt ein gut abgestandenes Kalbsrahmgulasch, dem ja grundsätzlich eine gewisse Abgestandenheit gut bekommt, und die Kalbsleber ist hübsch rosa. War das vielleicht immer schon so? Das Essen jedenfalls stand hier nie im Vordergrund, es war feste Grundlage für einen hochinteressanten Abend. Aber was soll ich heute hier außer, für ein Gasthaus relativ teuer, essen? Oder üppig geschmalzene Preise für glasweise Weine zahlen? Und in 45 Minuten mit drei Gängen abgespeist werden?

Um 21:37:08 Uhr mache ich ein Foto. Es zeigt ein leeres Oswald & Kalb. Wir zahlen, und noch einen kurzen Moment bleibe ich stehen, blicke in den leeren Gewölberaum und schließe die Augen: Ich höre Stimmengewirr und sehe dort drüben den Kanzler sitzen und diskutieren, dessen Leibwache draußen an der Theke mit einseitig ausgebeulten Sakkobrüsten (die Bodyguards haben aber, soweit ich mich erinnern kann, nie den Luster von der Decke geschossen) antialkoholische Getränke konsumiert und die Gäste mustert. Ich sehe den berühmten Schriftsteller, der die deutsche Star-Literaturkritikerin anbrät, als gäbe es morgen keine Frauen mehr auf der Welt. Und ich lausche der in der Bäckerstraße Nr. 14 allabendlich aufgeführten Symphonie von der Rettung der Welt in Abertausenden gesprochenen Sätzen.

Ach was, gute Nacht, Oswald & Kalb.

Oswald & Kalb
Bäckerstraße 14, 1010 Wien
Tel.: 01/512 13 71
Hauptgerichte: 13,90
bis 19,50 Euro

[email protected]