Guten Morgen, Libyen!

Reportage. Wie Libyen nach der Revolution versucht, alles richtig zu machen

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Von Gregor Mayer, Tripolis

In Tripolis ist jeden Abend Volksfest. Tausende Menschen strömen auf dem Märtyrer-Platz zusammen, der zu Muammar Gaddafis Zeiten noch Grüner Platz hieß. Mehr als zwei Wochen nach dem Zusammenbruch des Regimes wird dort noch immer der Sieg der Revolution gefeiert. Die Libyer singen, tanzen und verspotten den verjagten Diktator. Es ist, als müssten sie jeden Abend aufs Neue den bösen Geist austreiben, der mehr als vier Jahrzehnte ihr Leben beherrscht hat.

Gefeiert werden die jungen Männer der Revolution, die Milizionäre der Aufstandsbewegung. Mit ihren bizarren Fahrzeugen und Kriegsgeräten posieren sie wie stolze Pfauen. Ganze Familien kommen, kleine Kinder klettern auf Pick-ups mit den aufmontierten Flak-Geschützen herum, Väter schießen mit dem Handy Erinnerungsfotos für das Familienalbum. Ihre heranwachsenden Töchter flirten inzwischen ungeniert mit den Soldaten in den verwegenen Outfits: Turnschuhe, Halstücher, Sonnenbrillen und Che-Guevara-T-Shirts. Anything goes, die Freiheit hat über die Tyrannei gesiegt.

Immer wieder ballern die Milizionäre in die Luft, nicht nur mit ihren Kalaschnikows, sondern auch mit den Flak-Geschützen. In den Arsenalen des Regimes haben sie unermessliche Mengen an Waffen und Munition erbeutet. Gelegentlich verletzen oder töten die herabfallenden Geschosse arglose Passanten.

„Die Jungs kommen alle aus anderen Städten, aus Misrata, Al-Sawiya, Yafran und Jadu“, sagt der Graveur Rami Abdoul, der in der Nähe wohnt und jeden Abend hier am Platz ist: „Wer wird sie entwaffnen? Wer kontrolliert sie? Was ist, wenn lokale Rivalitäten ausbrechen und sie mit ihren Waffen übereinander herfallen?“

Libyen hat sich nach einem sechsmonatigen Aufstand vom dienstältesten Despoten der Welt befreit. Am 1. September hätte Gaddafi den 42. Jahrestag seiner Machtergreifung zelebriert. Sein Regierungssystem beruhte auf Stammesloyalitäten und Patronage, der Herrschaft so genannter „Volkskomitees“ sowie auf Geheimdienstterror.

Die Institutionen des modernen Staates spielten kaum eine Rolle; politische Parteien, demokratische Wahlen oder eine Verfassung hat es hier nie gegeben, ebenso wenig ein Gerichtswesen, das dem Bürger eine Handhabe gegen Übergriffe der staatlichen Behörden gewährt hätte. Und eine Zivilgesellschaft – ein wichtiger Faktor etwa beim Ausbruch des „arabischen Frühlings“ in Ägypten – war unter Gaddafi undenkbar. Das Land muss sich praktisch neu erfinden.

Dabei hat es einerseits alle Chancen: Sein Ölreichtum würde ihm etwa Möglichkeiten sonder Zahl eröffnen. Gleichzeitig lauern aber auch viele Gefahren: Gleitet Libyen ins Chaos ab, könnten radikale Islamisten ins Machtvakuum vorstoßen.

Vorerst scheint die Entwicklung aber in eine gute Richtung zu gehen. Die Führung des Übergangsrats ist sich der Risiken bewusst und ruft nahezu mantrahaft zu Einheit und Versöhnung auf.

Der Vorsitzende des Gremiums und damit praktisch der provisorische „Präsident“ des Landes ist Abdul Mustafa Jalil. Unter Gaddafi war er ein ungewöhnlich kritischer Justizminister, auch wenn ihn das Regime regelmäßig überging. Gleich am Anfang lief er zu den Aufständischen in Bengasi über. Der Quasi-„Regierungschef“ ist Mahmoud Jibril, ein technokratisch denkender Ökonom, der eine Zeit lang vergebens versucht hatte, im System Gaddafi Wirtschaftsreformen auf den Weg zu bringen. Die Übergangsregierung hat auch aus dem warnenden Beispiel des Irak gelernt und die Institutionen des alten Regimes nicht von einem Tag auf den anderen zerschlagen. So kann sich der Nationale Übergangsrat nun auf erfahrene Beamte und Experten stützen.

Das Ergebnis: Ein kurzfristiger Zusammenbruch der Strom- und Wasserversorgung von Tripolis nach dem Umsturz war rasch wieder behoben. „Unsere libyschen Partner hatten schon Monate zuvor Pläne dafür entwickelt“, sagt Panos Moumtzis, der UN-Koordinator für die humanitäre Hilfe in Libyen: „Wir konnten gut darauf aufbauen.“

Auch der schnelle Fall von Tripolis war nur dank minutiöser militärischer Planungen möglich. Monatelang schienen die Aufständischen über den östlichen Teil des Landes mit der Rebellenhochburg Bengasi nicht hinauszukommen. In Wahrheit wurde in dieser Zeit der Aufstand in Tripolis vorbereitet.

Während die militärische Infrastruktur des Regimes durch NATO-Luftangriffe geschwächt wurde, arbeiteten die Aufständischen erfolgreich daran, Mitstreiter aus dem engsten Kreis des Gaddafi-Regimes zu rekrutieren. Parallel dazu wurden diskret Waffen an revolutionäre Zellen in der Hauptstadt verteilt. Gleichzeitig rückten Rebellen aus dem Nafusa-Gebirge, das bis knapp vor Tripolis reicht, im Sommer immer weiter vor.
Der 20. August wurde ganz offen als Tag der Entscheidung angekündigt: „Wir nahmen unsere Gewehre und befreiten unsere Gegend“, erzählt ein Student in Kampf­uniform, der das Freitagsgebet auf dem Märtyrer-Platz sichert. Nach kurzen, heftigen Kämpfen flohen Gaddafi, seine Söhne und ihr Anhang in Panik aus Tripolis.

Tausende politische Häftlinge kamen frei. Rund 1200 von ihnen schmachteten im berüchtigten Staatssicherheitsknast Abu Salim, als die Wachmannschaften die Tore öffneten und davonliefen. In den weiß getünchten Zellen blieben die Matratzen zurück, einige Unterhemden, Fotos von Moscheen oder Blumen, die jemand an die Wand geklebt hatte. Die Gefangenen saßen hier ohne Gerichtsurteil, ohne Anklage, ohne Wissen um die Dauer ihrer Haft. Beim Lokalaugenschein wirkte das Gefängnis weniger schrecklich als ähnliche Anstalten in anderen Nahost-Ländern wie etwa Abu Ghraib bei Bagdad oder Tora bei Kairo. Die Zellen waren offenbar nicht überbelegt. An jede von ihnen schließt eine kleine Küche und ein Klo mit Dusche an. Aus zwei Oberlichten fällt Sonnenlicht. Lampen sorgen für ordentliche Beleuchtung.

„Das sind relativ neue Verbesserungen, zu unserer Zeit war es hier viel schlimmer“, erzählt Osama Abdulkader Sankuli. Der 42-jährige Buchhalter ist an seinem traditionellen weißen, knöchellangen Gewand und seinem Vollbart als gläubiger Muslim zu erkennen.

Sankuli und zwei seiner Freunde waren hier von 1997 bis 2001 gefangen. Ihr Verbrechen? „Wir sind gläubig, beten in der Moschee und kümmern uns um Gottes Gebot“, sagte Sankuli. „Das ist der einzige Grund, warum man uns eingesperrt hat.“

Damals waren die Haftbedingungen in Abu Salim weitaus schlechter. „Küche und Klo gab es nicht, für die Notdurft nur einen Kübel, und von der Decke hing lediglich eine nackte Glühbirne“, erinnern sie sich. Kranke blieben unversorgt. „Ich sah, wie etliche an Tuberkulose starben“, so Sankuli. Beschwerden der Häftlinge wurden von der Gefängnisleitung mit der Bemerkung quittiert: „Wenn ihr euch weiter beschwert, werdet ihr erschossen.“

Das war keine leere Drohung.
Im Juni 1996 kam es in Abu Salim zu einem Massaker. Nach einer Revolte wurden hier bis zu 1200 Gefangene erschossen. Sankuli hat diesen Ort des namenlosen Grauens wieder aufgesucht, um mit seiner traumatischen Erinnerung fertig zu werden. „Ich will Mut daraus schöpfen und mein Leben weiterbringen“, sagte der Vater zweier Kinder. „Und das nächste Mal bringe ich meine Familie mit, um ihr zu zeigen: So war es unter Gaddafi!“

Und so soll es auch nie wieder werden, sagen die Menschen in Libyen. Doch noch sind Teile des Landes nicht befreit. Bis Freitag vergangener Woche hielt sich der gestürzte Diktator irgendwo versteckt und versuchte, seine letzten Getreuen mit Durchhalteparolen aufzuhetzen. Ein rund 1000 Kilometer langes Gebiet von der Mittelmeer-Küstenstadt Sirte über die Oase Jufra und die Garnisonsstadt Sebha bis zur Grenze zu Niger und zum Tschad war weiterhin unter Kontrolle der Gaddafi-Loyalisten. Und die Wüstenstadt Bani Walid wurde von den Milizen des Übergangsrates belagert. In der Stadt, einer Hochburg des lange Zeit Gaddafi-treuen Warfalla-Stamms, hatten sich 100 bis 200 schwer bewaffnete Gaddafi-Anhänger verschanzt – während die Mehrzahl der Einwohner angeblich bereits auf die Seite der neuen Regierung gewechselt waren.

In Bani Walid hätte jederzeit ein Blutbad stattfinden können. Aber auch das ist charakteristisch für diese Revolution: So martialisch sich ihre Kämpfer in Macho-Posen werfen und sinnlos in die Luft schießen – so besonnen gehen ihre Kommandanten gleichzeitig vor. In einer Moschee am Südrand von Tarhuna, etwa 50 Kilometer vor Bani Walid, wird in erster Linie versucht, eine friedliche Lösung zur Übernahme der Stadt zu finden. Abdullah Kanschil, der Verhandlungsführer der neuen Machthaber, ein ruhiger und geduldiger Mann, beschwört immer wieder: „Ein Blutvergießen wollen wir unbedingt vermeiden.“

Gegenüber der Moschee haben junge Ärzte aus Tripolis in einer aufgelassenen Krankenstation ein Feldlazarett eingerichtet, für den Fall, dass am Ende doch um die Stadt gekämpft werden muss. Einer von ihnen, der 28-jährige angehende Unfallchirurg Muhanned Ben Dalla, unterbrach sein Studium in Deutschland, als er von der Vertreibung des Gaddafi-Regimes aus Tripolis erfuhr. „Ich will meinen Beitrag zur Revolution leisten“, sagt der junge Mann mit dem freundlichen, runden Gesicht und Dreitagebart. „Nicht mit der Waffe in der Hand, sondern mit meinem ärztlichen Können.“

„Der Sturz Gaddafis war bis vor Kurzem nur ein Traum, jetzt ist er Realität“, meint er. Seine Familie sei gegen Gaddafi gewesen, aber offen habe man darüber nie gesprochen. Die Eltern sind am renommierten Al-Khadra-Krankenhaus in Tripolis ­tätig, bis zum Umsturz eine Bastion der Gaddafi-Kader und -Anhänger. „Sie mussten da vor allem Leute des Regimes behandeln“, erinnert sich der junge Arzt. Die Kollegen belauerten einander, die Vorgesetzten beobachteten ihre Untergebenen genau. Ein falsches Wort, eine unverhohlene Sympathiebekundung für den Aufstand hätte sie ins Gefängnis gebracht.

Ben Dalla gibt sich optimistisch, dass die Libyer mit der Zeit ein demokratisches Gemeinwesen aufbauen können. Die Gefahr, dass radikale Islamisten in Zukunft den Ton angeben könnten, sieht er nicht: „Die Fundamentalisten haben an der Seite der Revolution gekämpft, es hat damit keine Probleme gegeben.“

Libyen sei ein islamisches Land, dem werde auch jede künftige Ordnung Rechnung tragen. „Wir sind nicht so liberal wie Tunesien oder die Türkei, aber auch nicht so konservativ wie die Golfstaaten“, versucht er, die libysche Befindlichkeit einzuordnen. Er erwarte, dass das Land einen guten Mittelweg finden werde.

Einer der Islamisten, die für die Revolution gekämpft haben, ist Abdel Hakim Belhaj, der Militärkommandant von Tripolis (siehe Kasten Seite 72). An seinem Schicksal lässt sich die fragwürdige Haltung des Westens zu Gaddafi ablesen.

Belhaj, ein Führer der Libyschen Islamischen Kampfgruppe (LIFG), wurde von den Amerikanern in Malaysia verhaftet und nach Libyen gebracht, wo er im Gefängnis von Abu Salim verschwand. Jetzt überlegt er, Washington dafür zu klagen. Groll gegen die westliche Welt im Allgemeinen hegt er aber nicht. Ihm liege ebenso am Aufbau eines demokratischen Libyen wie anderen politischen Kräften auch, beteuert er.

Innerhalb von acht Monaten will der Übergangsrat eine Verfassung ausarbeiten und einer Volksabstimmung vorlegen. Grundlage ist eine Charta, die bereits in Bengasi beschlossen wurde. Sie enthält das Bekenntnis zu demokratischen Grundwerten und zu den Menschenrechten. Wie die Grundgesetze anderer islamischer Länder beinhaltet sie auch eine Bestimmung, die besagt, dass die Scharia – das traditionelle islamische Recht – die Hauptquelle der Gesetzgebung ist. Nach der Annahme der Verfassung sollen dann innerhalb eines Jahres erstmals freie Wahlen über die Bühne gehen.

Als der Nationale Übergangsrat vor wenigen Tagen in Tripolis einzog, lautete die beharrlich vorgebrachte Botschaft des provisorischen Präsidenten Jibril: Demokratie kann nur gelingen, wenn sich Recht und Gesetz durchsetzen.

Eines, das weiß er aber ganz sicher, ist dafür die unabdingbare Voraussetzung: „Wir müssen gegen uns selbst gewinnen. Und das ist die größte Herausforderung.“


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