Kampfbereit

Libyen: Was passiert, wenn die EU Bodentruppen schickt?

Libyen. Was passiert, wenn die EU Bodentruppen schickt?

Drucken

Schriftgröße

Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, und die Wand ist in diesem Fall das Meer. Gleich zu Beginn der Revolte gegen Muammar al-Gaddafi haben sich die Bewohner von Misurata den Aufständischen angeschlossen. Inzwischen ist ihre Stadt die letzte im Westen Libyens, die dem Regime immer noch trotzt – zu einem immens hohen Preis.

Bis vor wenigen Wochen war Misurata ein geschäftiges Wirtschafts- und Handelszentrum mit dem Anspruch, die reichste Stadt Libyens zu sein. Inzwischen ist es zum Sinnbild für das Versagen der Anti-Gaddafi-Koalition geworden, die libysche Zivilbevölkerung trotz Flugverbotszone wirkungsvoll vor der Gewalt des Regimes zu schützen.

Gaddafis Truppen haben einen Belagerungsring um Misurata gezogen und nehmen die Rebellenstadt wahllos unter Beschuss. Immer wieder gehen Raketen und Artilleriegranaten auf Wohngebiete nieder, Scharfschützen ballern mit großkalibrigen Waffen auf Zivilisten. Videomaterial, das dem TV-Sender Al Jazeera zugespielt wurde, zeigt ein halbwüchsiges Mädchen, dem Ärzte ein gut zehn Zentimeter langes Projektil aus dem Rücken schneiden müssen.

Der einzige Weg aus der Stadt führt über Qasr Ahmed, den Hafen von Misurata. Dort prügelten sich vergangene Woche Tausende Flüchtlinge um viel zu wenige Plätze auf einer Passagierfähre, die nach Ägypten auslaufen sollte. Als die aufgebrachte Menge das Gittertor zur Mole niederzureißen begann, feuerten Wachleute in die Menge.

„Zwischen den Schüssen der Wärter sind in der Ferne dumpfe Explosionen zu hören. Gaddafis Truppen haben wieder begonnen, die Stadt zu beschießen“, beschrieb der deutsche Journalist Jonathan Stock, der es vergangene Woche auf einem Fischkutter in die Stadt geschafft hatte, auf „Spiegel online“ die Situation. Gehen hier schon bald österreichische Soldaten an Land?

Orientierungslosigkeit.
Die EU hat sich entschlossen, zur Linderung der „humanitären Notlage“ in Teilen Libyens notfalls auch militärische Mittel einzusetzen. Das heißt konkret, Truppen ins Kriegsgebiet zu schicken, die etwa internationale Organisationen beschützen oder dafür sorgen, dass Hilfslieferungen unbeschadet ans Ziel kommen. Einen Beschluss der Außenminister, der das erlaubt, gibt es bereits seit mehr als einem Monat.
Dabei würde auch Österreich zum Zug kommen: Das Bundesheer stellt im ersten Halbjahr 2011 permanent 180 Soldaten für eine so genannte Battle Group, die multinationale bewaffnete Krisenfeuerwehr der EU („Schluss mit lustig“, profil 40/2010). Zwei derartige Verbände sind zumindest theoretisch ständig in Bereitschaft, sollen binnen weniger als einer Woche an bis zu 6000 Kilometer entfernten Einsatzorten aufmarschieren, sich dort bis zu 120 Tage durchschlagen und – wie der Name schon sagt – im Falle des Falles auch kämpfen können.

Bislang ist noch nie eine Battle Group zum Einsatz gekommen. Das könnte sich nun ändern.

Seit 1. April wird in Rom ein Hauptquartier für die Militärmission „Eufor Libyen“ aufgebaut, das Unterstützungsmaßnahmen für humanitäre Aktionen der UN planen und koordinieren soll. Österreich entsendet dazu vorerst zwei Offiziere in die italienische Hauptstadt. Dort wurden vergangene Woche dem Vernehmen nach zwei Grundvarianten geplant: eine, bei der es nur um die Verteilung von Hilfsgütern geht – und eine, die „robuste“ Maßnahmen zum Schutz von Hilfsorganisationen und Zivilisten einschließt.

In weiterer Folge sei der Einsatz einer Battle Group mit Bundesheersoldaten „nicht auszuschließen“, erklärte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums vergangene Woche. Eigentlich warte man nur noch auf eine Anforderung durch die Vereinten Nationen, genauer gesagt: durch das UN-Büro für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (OCHA). Militär-Insider hielten es für wahrscheinlich, dass die EU anschließend jene Battle Group anfordern würde, an der sich derzeit Österreich beteiligt – und dass diese schließlich nach Misurata abkommandiert werden könnte.

Aufregung an der Heimatfront: „Bundesheer im Libyen-Einsatz“, schlagzeilte die „Kronen Zeitung“, die FPÖ sah einen „offenen Bruch des Neutralitätsgesetzes“, das BZÖ rief nach dem nationalen Sicherheitsrat. Unterdessen spricht sich Manfred Nowak, Menschenrechtsjurist und langjähriger UN-Sonderberichterstatter über Folter, unter gewissen Bedingungen klar für einen Einsatz aus.

Tatsächlich geschah zunächst etwas, das eindringlich vom Ausmaß der Orientierungslosigkeit im Umgang mit der Libyen-Krise zeugt. Denn die Vereinten Nationen wollten sich vergangene Woche erst einmal gar nicht von europäischen Soldaten helfen lassen. Die humanitären Ziele seien bislang „ohne jede militärische Unterstützung ­erreicht“ worden, teilte OCHA-Chefin ­Valerie Amos der EU-Außenbeauftragten Catherine Asthon kühl mit.

Alarmbereitschaft.
Gleichzeitig wurden auch schwere Unstimmigkeiten innerhalb der EU deutlich. Frankreich und Großbritannien sprechen sich für eine Ausweitung der militärischen Aktionen in Libyen aus, um die Pattsituation zu beenden, in der Gaddafi und seine Gegner gefangen sind. Deutschland, Schweden und Finnland – alle drei stellen derzeit Soldaten für eine Battle Group und haben gleichzeitig Truppen in Afghanistan – votieren heftig dagegen.

Wenn es dringenden Bedarf an der ­militärischen Sicherung von Hilfsmaßnahmen gibt, dann wohl in Misurata, der umkämpften Küstenstadt, die 220 Kilometer östlich von Tripolis mitten in Gaddafi-treuem Territorium liegt. Zwei Monate dauert ihre Belagerung nun schon an, vor den Toren von Misurata hat sich offenbar die berüchtigte Khamis-Brigade eingegraben, die von einem Sohn des Revolutionsführers kommandiert wird.

Wo genau die Frontlinie verläuft und wie viele der offiziell 550.000 Einwohner von der Außenwelt abgeschnitten sind, ist ebenso unklar wie die genaue Opferzahl. Nach unterschiedlichen Angaben wurden bis Ende vergangener Woche zwischen 300 und 700 Tote und zwischen 1000 und 2300 Verwundete gezählt. Immer wieder unternehmen Gaddafi-Truppen Vorstöße, immer wieder wurden sie bislang zurückgeschlagen. Teile der Innenstadt liegen in Schutt und Asche, in der zentral gelegenen Tripolis-Straße, um die zeitweise besonders heftige Auseinandersetzungen tobten, stehen zerschossene und verlassene Panzer, das Wassernetz funktioniert nicht mehr.

Dennoch ist das zivile Leben in Misurata noch nicht zusammengebrochen. Ein Bericht der Nachrichtenagentur Agence France Press sprach Ende vergangener Woche von einer „überraschend guten“ Versorgung der Stadt mit Nahrung, Wasser und Medikamenten. Viele Verwundete seien mit Schiffen außer Landes in Sicherheit gebracht worden.

Bislang funktionierte die Lieferung von Hilfsgütern über den Seeweg ganz passabel. Auch Waffen wurden auf diese Weise nach Misurata gebracht. Jeden Tag löschten ein bis zwei Kutter, Frachter oder Fähren ihre Ladung und nahmen Flüchtlinge auf.

Das mag mit ein Grund für die UN-Hilfskoordinatoren gewesen sein, militärische Unterstützung vorerst abzulehnen: Sie hätten sich damit sofort dem Vorwurf ausgesetzt, parteiisch zu sein. „Offenbar ist man sich auch nicht sicher, ob die notwendige humanitäre Hilfe militärisch vermittelbar ist“, vermutet Heinz Gärtner vom Österreichischen Institut für Internationale Politik gegenüber profil.

Inzwischen scheinen die Kampfhandlungen aber immer näher an den Hafen heranzurücken und die Versorgung zu gefährden. Am Donnerstag vergangener Woche soll ein Raketenangriff dort mindestens 13 Menschenleben gekostet haben – dabei dürften auch mehrere Frauen und Kinder gestorben sein, die auf ihre Evakuierung warteten.

Könnten EU-Truppen hier etwas ausrichten?
Eine Battle Group verfügt über bis zu 2500 Soldaten, gepanzerte Fahrzeuge und Hubschrauber. „Damit ist es beispielsweise möglich, einen größeren Hafen zu sichern“, beschrieb Major Andreas Loschek, Kommandant des derzeit in Alarmbereitschaft stehenden österreichischen Kontingents, vergangenes Jahr gegenüber profil die ­Kapazität des Verbands. Das war bei einem Manöver in den Niederlanden, bei dem die Bundesheer-Einheiten im September 2010 gemeinsam mit niederländischen, deutschen, finnischen und litauischen Truppen für einen gemeinsamen Battle-Group-Einsatz trainierten – und Loschek konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass sechs Monate später in Libyen ein Bürgerkrieg ausbrechen und eine Hafenstadt unter Belagerung geraten würde.

Besatzungstruppen.
Militärisch wäre es wohl kein Problem, den Hafen von Misurata zu übernehmen. Es wäre auch sinnvoller als anderswo: Benghazi und andere Rebellenhochburgen im Osten des Landes sind ohnehin fest in der Hand der Aufständischen. Der Westen steht komplett unter Kontrolle des Regimes. Und entlang der Küste verschiebt sich die Front ständig hin und her: Dort würden EU-Verbände unweigerlich zur Kriegspartei.

Das ist allerdings auch in Misurata nicht ausgeschlossen. Eine Operation dort hieße de facto: EU-Bodentruppen auf libyschem Territorium – und damit völkerrechtliche Unwägbarkeiten. In der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats zur Militärintervention in Libyen ist der Einsatz von „Besatzungstruppen“ definitiv ausgeschlossen.

Der Einsatz von Battle Groups falle nicht unter diesen Begriff, versichert das österreichische Verteidigungsministerium zwar unter Hinweis auf eine Erklärung des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees der Europäischen Union (PSK): Derartige Einheiten kämen in Libyen „nur zeitlich begrenzt“ zum Einsatz, die Soldaten seien außerdem nur „leicht bewaffnet“ – und daher keine Besatzungstruppen.

Für die Feinspitze der europäischen ­Juristerei mag das eine ausreichende Begründung sein, für die ums Überleben kämpfende Gaddafi-Diktatur wohl kaum. „Hilfsmaßnahmen in Uniform sind eine Kriegserklärung, und jedes Land, das sich daran beteiligt, sollte sich der Konsequenzen seines Handelns bewusst sein. Das libysche Volk ist bewaffnet“, sagt etwa Ibrahim Asharif, als Minister für Sozialordnung zuständig für die staatlich organisierten humanitären Hilfsmaßnahmen.

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass ein Battle-Group-Einsatz in Misurata oder anderswo in Libyen, so humanitär angelegt er auch sein mag, sehr rasch einige brisante Fragen aufwerfen würde: Wo endet der Schutz für Hilfsmaßnahmen? An der Laderampe eines Frachtschiffs? An der Mole? Am Tor des Hafens? Bei der Verteilungsstelle? Oder an der Stadtgrenze? Setzt man überhaupt einen Fuß auf libysches Territorium? Wenn ja: Beteiligt man sich dann auch an der Verteidigung der Stadt? Wenn nein: Sieht man von See aus zu, wenn am Land ein Massaker stattfindet?

Es sind Fragen, um deren Beantwortung nicht herumzukommen ist, wenn sich die EU tatsächlich dazu entschließt, humanitäre Hilfsmaßnahmen zu unterstützen – und wenn die UN diese Hilfe tatsächlich in Anspruch nehmen.
Es sind aber auch Fragen, auf deren Beantwortung die Bewohner der umkämpften Stadt Misurata möglicherweise nicht mehr warten können.

Lesen Sie im profil 16/2011 ein Interview mit Manfred Nowak, langjähriger UN-Sonderberichterstatter für Folter, über die Gefahren für EU-Battle-Groups in Libyen.