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Lob der Amateure

Lob der Amateure

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In jedem Land gibt es eine Zeitschrift, die vif genug war, als erste eine Erfindung von „Time“, der Urmutter aller Magazine, zu adaptieren. Die Wahl der „Person of the Year“ ist immer spannend. Sie ist sachlich ergiebig und geschäftlich interessant, weil das betroffene Heft gern gekauft wird. Zum Licht gesellt sich zuweilen der Schatten des Miss­griffs. Da man gerne Grenzgänger zum „Mann des Jahres“ oder zur „Frau des Jahres“ wählt, ist ein Grundrisiko da. Selbst scheinbar solide Fackeln brennen oft ab wie Wunderkerzerln. Mancher Ausgezeichnete wurde sogar durch die Ehrung zum Sozialfall. Er verbog sich charakterlich unter der Bürde der Würde oder geriet in den Suchstrahl des Neides und der Steuerbehörden. Besonders spannend wird es, wenn in Ausnahmejahren der „Mann des Jahres“ durch einen Gattungsbegriff ersetzt wird. Das Wirtschaftsmagazin „trend“, in Österreich die Nr. 1 beim „Mann des Jahres“, sah sich dazu veranlasst, als im Zuge des Höhenflugs Jörg Haiders die Fremdenfeindlichkeit bedrohlich anwuchs. Man zeichnete den „Einwanderer“ aus, als kulturell interessante und ökonomisch wichtige Ergänzung eines fertilitätsschwachen Landes. Die negativen Reaktionen der üblichen Verdächtigen blieben nicht aus, waren aber im Verhältnis ein Klacks gegen die Reaktion der Amerikaner, als „Time“ im Dezember 2006 seine „Person of the Year“ vorstellte: „You“. Die Le­serInnen sahen ihr eigenes Porträt in einem 10 x 15 Zentimeter großen Titelblatt-Spiegel aus Mylar, der sieben Millionen Exemplaren von „Time“ aufgedruckt worden war. Das hätte wohl keine kluge Leserin und keinen schönen Leser gestört. Nur war mit „You“ nicht wirklich jeder „Time“-Käufer gemeint. Sondern jene Mitbürger, die heute im Wege von Web 2.0 mit ihren Chat-Beiträgen, Gedichten, Tagebüchern, Nachbarschaftsreportagen, Haustierhörspielen, Kompositionen, Fotos und Intimvideos den Inhalt des Internet zunehmend dominieren. Die Fachjargons dafür lauten „blog“ (von Weblog = World Wide Web + Logbuch) und „podcasts“ (iPod + Broadcasting), die entweder auf eigenen Websites der Amateurschöpfer lauern oder auf gemeinsame Plattformen hochgeladen werden. Die größte davon, YouTube, machte ihre jungen Erfinder Hurley, Chen und Karim zu reichen Männern, als der Laden von der Company Google aufgekauft wurde, die drauf und dran ist, Microsoft als Digitalriesen abzulösen.

Ein Aufschrei ging durch Amerikas Medienlandschaft. Die Lautstärksten waren „Time“-Redakteure im eigenen Haus. Sie sahen in der Entscheidung ihrer Chefs eine Selbstverstümmelung. Man rufe zum eigenen Schaden „die Stunde der Amateure“ aus. Man weihe den Schrott von Komplexlern und frei laufenden Geisteskranken. Man rede dem endgültigen Qualitätsruin das Wort, als genügten nicht schon die vielen „Frau im Goldenen Haar“-Magazine, die Society-Postillen und auflagenstarken Boulevardzeitungen. Mir imponierte die Auszeichnung der Amateurkreativen des Web 2.0, das als neuartige zweite Welle des globalen ­Infonetzes so bezeichnet wird. Auch das damalige Editorial von „Time’s“ Managing Editor Richard Stengel gefiel: „Web 2.0 ist nur dann bedrohlich, wenn du glaubst, ein Exzess an Demokratie sei gleichbedeutend mit einem Absturz in die Anarchie.“ Ergänzung am Rande: „Time“ ist in Demokratiefragen beweglich. Ein Jahr später (Dezember 2007) hieß der „Mann des Jahres“ Wladimir Wladimirowitsch Putin.

Ich versuche eine persönliche Deutung, was Web 2.0 für die Gesellschaft und die derzeitigen Medien bedeuten könnte. Um es gleich zu gestehen: Ich sehe fast nur Vorteile. Zunächst bezaubert, wie viele Jugendliche sich mithilfe ihrer, im Gegensatz zu Eltern und Lehrern geduldigen, nervenstarken und toleranten Freunde PC und Digi-Cam kreativ austoben. Wenn wahr ist, was Joseph Beuys sagte, dass jeder als Künstler auf die Welt komme, der in der Schule getötet werde, kann dies ein Korrektiv sein. Ah, wie amüsant, die Kinder chatten zu hören oder mit der online verlinkten Microsoft Xbox 360 gegen deutsche, englische und indische Internetfreunde im Formel-1-Rennen zu erleben, mit unfassbar unfairen Manövern, die grenz­überschreitend entzücken. Fazit: PC, Konsolen, Internet, Web 2.0 sind kein Prob­lem der Kinder. Die gehen damit gut und selbstverständlich um. Sie sind eher ein Problem der Erwachsenen. Diese sind zur Hälfte zu indolent, ihren Digitalführerschein zu machen. Und wenn sie das Zeug beherrschen, gehen sie in Isolationshaft. Sie werden zu Eingeschnorchelten und finden das für Kinder gefährlich. Psychologisch: Sie projizieren ihr eigenes Problem auf die Jugend. Ad Medien finde ich es lächerlich, wenn Qualitätsjournalisten wie die „Time“-Redakteure vor Web 2.0 Angst zeigen. Sie sollten dankbar sein. Die viele Kacke, die dort zweifellos dampft, wird zu einer kritischen Masse des niedrigen & billigen & kurzatmigen & bunten Journalismus führen. Es wird ein Sehnsuchtsschwenk ins Anspruchsvolle folgen. Aber hoffentlich nicht ins Bitterernste. Ich fühle als Leser eine Gravität zu boshaftem First-Class-Tratsch, boshaften Satiren und boshaften Gemälden. In profil lese ich zuerst die Ro, dann den Niko, dann begehe ich die Car­toons. Erst dann wende ich mich seufzend dem Ernst des Lebens zu. Man darf mir meine Darlings nicht nehmen, sonst kündige ich mein profil-Abo.