Europa: Der schwarze Kontinent

Mitte-rechts-Parteien legen zu: So konservativ war die EU schon lange nicht

So konservativ war die EU schon lange nicht

Drucken

Schriftgröße

Von Georg Hoffmann-Ostenhof und Gunther Müller

Rechtsruck in Europa? Ganz so fatalistisch will es Martin Schulz nicht sehen. „Das kann man nicht so sagen. Fast alle Regierungen – linke wie rechte – haben verloren“, sagt der deutsche Fraktionsführer der europäischen Sozialdemokraten im Straßburger EU-Parlament. „Es gibt kein europäisches Wahlergebnis. Es ist ein Puzzle, das sich aus den Wahlresultaten vieler Länder zusammensetzt.“

Betrachtet man das Puzzle jedoch genauer, dann ist doch ein klares Bild zu erkennen. In den wichtigsten EU-Ländern stimmt die Interpretation, dass einfach die Parteien an der Macht abgestraft wurden, schlichtweg nicht. In Frankreich blieb die Partei des Präsidenten Nicolas Sarkozy am stärksten, die oppositionellen Sozialisten stürzten ab. Detto in Italien: Da konnte der bizarre Langzeitpremier Silvio Berlusconi noch so sehr als erotomanischer Korruptionist sein Land blamieren, die Italiener hielten ihm die Treue. Auch in Deutschland: Die Sozialdemokraten sitzen dort zwar mit am Kabinettstisch. Alles wird gemeinsam mit der konservativen CDU von Kanzlerin Angela Merkel beschlossen. Aber die SPD erlebt ihr historisches Waterloo. Die Konservativen bleiben solide.

Zudem sind die Ergebnisse der Europawahlen vom 7. Juni, die Schulz als uneinheitlich herunterspielt, nur der Ausdruck einer schon längst vollzogenen Tendenz. Ein Blick auf die politische Landkarte genügt: Europa ist zu einem schwarzen Kontinent geworden. In nur noch drei der insgesamt 27 Mitgliedsländer stellen die Sozialdemokraten die Alleinregierung.

Wie war das noch vor elf Jahren: Ganz Europa war rot eingefärbt. Der „dritte Weg“ der sozialdemokratischen Regierungschefs Tony Blair, Lionel Jospin und Gerhard Schröder machte Furore. Und Andreas Khol, damaliger Klubobmann der ÖVP und einer der Vordenker seiner Partei, ­fragte sorgenvoll in einem profil-Gastkommentar, ob die Konservativen je wieder Land sehen würden. „Wird das Pendel 2008 wieder nach rechts gegangen sein?“ Und Khol war visionär. Mit Sicherheit nahm er an, dass die ideologische Zerklüftung der Sozialdemokraten in Europa es ihnen schwer machen werde, „Entwürfe aus einem Guss zu entwickeln und durchzusetzen“. Bedingung für eine rechte Renaissance sei aber, meinte Khol, dass die Konservativen „neue Gesellschaftsentwürfe vorlegen ­könnten“.

Mit seiner Einschätzung der Sozis hatte der jetzige Senioren-Chef der ÖVP Recht behalten. Eines neuen konservativen Gesellschaftsprojekts bedurfte es jedoch nicht, damit das Pendel wieder in seine Richtung schwingt. Dafür genügte die tiefe Krise der Linken. „Die Stärke der Konservativen ist die Schwäche der Sozialdemokratie“, diagnostiziert der von seiner Partei fallen gelassene grüne Europapolitiker Johannes Voggenhuber. Gewiss, bei den EU-Wahlen gibt es „Ausreißer“: Sozialdemokraten gewinnen in Griechenland, Schweden, Malta und Rumänien, sonst aber wurde durch die Bank gegen sie gestimmt – ob sie nun in der Regierung oder in der Opposition sind.

Ein Paradoxon. Die globale Wirtschaftskrise könnte direkt aus einem marxistischen Drehbuch der politischen Ökonomie entstammen – mit allem, was dazugehört: bösen Spekulanten und massenhaften Kündigungen, taumelnden Banken und multiplen Firmenpleiten. Böte das nicht den Nährboden für einen Linksrutsch? Das Gegenteil passierte. Und das hat mehrere Gründe: Zunächst tendieren die Menschen dazu, rechts zu wählen. Das ist eine Erfahrungstatsache. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust und Abrutschen in die Armut macht vorsichtig, ganz nach dem Motto: Lieber das Altbewährte erhalten als unsichere Neuerungen wagen.

Europäische Mitte-links-Parteien stecken in einer tiefen Identitätskrise. Lang hat es gedauert: Doch schließlich haben sie sich dem so genannten neoliberalen Zeitgeist, der seit den achtziger Jahren über den Globus weht, angeschlossen. Und gerade noch haben sie sich wie die Konservativen für einen möglichst unregulierten freien Markt ausgesprochen. „Die Linke hat sich vom Wirtschaftsliberalismus kontaminieren lassen“, sagt der Brüsseler Politologe Jean Michel De Wael. „Jetzt, da sie wieder zu ihren ideologischen Wurzeln zurückkehren will, ist ihre Glaubwürdigkeit verloren.“ Noch pointierter drückt es Johannes Voggenhuber aus. Mit den „altlinken Kamellen“ lockten sie keinen Hund hinter dem Ofen hervor. „Als Mitläufer des Neoliberalismus aber bekommen sie jetzt die Rechnung präsentiert.“

Zudem haben die Konservativen, allen vor­an die Christdemokraten, in den vergangenen Jahren genau dasselbe gemacht wie die einstigen Stars der europäischen Sozialdemokraten vor über zehn Jahren: Sie sind in die Mitte gerückt. War Angela Merkel noch vor vier Jahren mit dem ultraliberalen Ökonomieprofessor Paul Kirchhof in den Wahlkampf gezogen, so hat sie bald ihren Irrtum erkannt. Sie regiert seither aus der politischen Mitte heraus. Ähnlich Nicolas Sarkozy, der, kaum gesiegt, ein multikolores Kabinett bildete, heute gerne gegen den ungezähmten Liberalismus poltert und außerdem verspricht, den Kapitalismus „neu zu erfinden“. Der Tory-Führer David Cameron imitiert allzu offensichtlich den smarten linksliberalen Habitus des einstigen Labour-Helden Tony Blair. Und selbst Österreichs Josef-Pröll-Team signalisiert eine klare Abgrenzung vom Schüssel-Bartenstein-Grasser-Kurs vergangener Jahre.

Die Konservativen sind aber nicht nur ideologisch nach links gerückt. Auch im politischen Tagesgeschäft haben sie sich gewandelt. Problemlos übernehmen sie in der Krise Rezepte von John Maynard Keynes, den sie durch Jahre hindurch als Urvater des Schuldenmachens verteufelt hatten. Heute betreiben sie europaweit Deficit Spending und schnüren Arbeitsbeschaffungsprogramme mit einer Selbstverständlichkeit, als ob sie das immer schon getan hätten. Die Sozialdemokratie mag weg vom Fenster sein. Sozialdemokratische Politik ist aber hoch im Kurs – vor allem auch bei den Mitte-rechts-Parteien.

„Die Konservativen sind Pragmatiker, sie wollen vor allem Machterhalt“, ätzt der EU-Sozialist Schulz. „Wir Sozialdemokraten erheben den Anspruch, neben Machterhalt auch ideologisch die Linie zu halten. Genau da liegt unser Problem.“ Allein: Linie gehalten haben die Roten gewiss nicht.
Der österreichische Politikwissenschafter Anton Pelinka verweist auf die linke internationalistische Tradition. Er vermisst derzeit den europäischen Geist. „Ängstlich und kleinlaut verschweigt die Sozialdemokratie ihre europäische Identität, sie ist gelinde gesagt in Europafragen von erstaunlicher Blässe“, sagt Pelinka. Die demokratische Linke überlasse den Grünen die Rolle der einzigen politischen Strömung, die bedingungslos proeuropäisch eingestellt ist.

Pendelschlag. Auf die Konservativen sei, wenn es um die EU gehe, mehr Verlass als auf die Sozis, meint auch der geschasste Grüne Voggenhuber. Die hätten klug mit einer Politik der sozialen Marktwirtschaft auf die neuen krisenhaften Verhältnisse reagiert. „Wenn sich zeigt, dass ein Integrationsschub in Europa unaufhaltbar ist, werden sie das eher verstehen als die Sozialdemokraten.“

Gehen wir also einer langen Ära konservativer Herrschaft in Europa entgegen? Ist die konservative Wende, die der Kontinent gerade erlebt, nachhaltig? Oder bloß ein kurzfristiger Pendelschlag? Die Europawahlen von Sonntag vergangener Woche haben es deutlich gezeigt: Die Ergebnisse für die Mitte-rechts-Parteien waren nicht von Begeisterung des Elektorats getragen. Die Konservativen haben meist nicht wirklich gesiegt, sondern bloß weniger verloren als ihre sozialdemokratischen Rivalen. So konnten sie ihre Stellung als stärkste Parteienfamilie im Straßburger Parlament stärken. Die wirklichen Sieger kamen vom Rand: antieuropäische Rechtspopulisten, antipolitische Protestparteien – wie etwa Hans-Peter Martin bei uns oder die Piraten-Partei in Schweden – und die pointiert proeuropäischen Grünen (das schwache Ergebnis der österreichischen Grünen war die Ausnahme). Echte Wenden sehen anders aus.

So wie jene in Amerika. Dort hat nach achtjähriger Herrschaft des neokonservativen Republikaners George W. Bush vergangenen November nicht bloß ein Demokrat gewonnen. Alles spricht dafür, dass Barack Obama eine Zeitenwende eingeläutet hat, die sich in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen des Landes niederschlägt: Das neue Amerika ist gesellschaftlich liberaler; es strebt nach sozialer Gerechtigkeit; es will Vorreiter im kommenden ökologischen Zeitalter sein; und es setzt außenpolitisch wieder auf Diplomatie statt auf Konfrontation. Die tiefe Krise der oppositionellen Republikaner dürfte nachhaltig und die linksliberale Vorherrschaft in den USA für eine Generation gesichert sein. So wie Ronald Reagan mit seiner konservativen Revolution vor 30 Jahren eine ganze Ära begründete.

Sosehr der Antiamerikanismus in Europa zeitweilig grassieren mag: Der Zeitgeist kommt allemal von jenseits des Atlantiks – mit einiger Verzögerung – zu uns herüber. Die 68er-Protestbewegung hatte ihre Vorläufer an den kalifornischen Universitäten. Auch der Neoliberalismus war ein Produkt angloamerikanischer Politökonomie, die von da aus ihren Siegeszug in der ganzen Welt antrat. Ideologie und Praxis des amerikanischen Marktradikalismus fanden nicht nur in den konservativen Parteien Anhänger. Die Hinwendung der EU-Sozialdemokratie zum Wirtschaftsliberalismus schien der demokratischen Linken Europas geradezu neue Kraft zu verleihen: Tony Blair, Lionel Jospin, Gerhard Schröder, ja, auch Viktor Klima brachten ihre Parteien mit mehr oder weniger Mühe auf Reformkurs, ließen sich dafür öffentlich und parteiintern als Verräter an der Ideologie geißeln – und gewannen auf ihrem „dritten Weg“ Wahlen.

Die Zeit ist vorbei. Und sollte nicht auch diesmal Amerika die Avantgarde des Neuen sein, das zeitverzögert nach Europa überschwappt? Und wenn das passiert, wer wären dann die Träger dieser Entwicklung? Die „neuen Gesellschaftsentwürfe“, die Khol von Mitte-rechts vor nunmehr elf Jahren einforderte, unterscheiden sich wohl einigermaßen von den Zukunftsvisionen eines Barack Obama. Und so pragmatisch werden selbst die pragmatischsten Konservativen nicht sein, als dass sie dieser neuen aus Amerika kommenden Politik folgen könnten.

Wo sind also die Obamisten Europas? Bei den Sozialdemokraten ist jedenfalls niemand in Sicht, der auch nur annähernd ähnliche Kraft und Vision wie der amerikanische Präsident hätte. „Den Mitte-links-Parteien fehlt es dafür schlichtweg an geeigneten Führungspersönlichkeiten. Im Moment gibt es niemanden, der die europäische Linke mitreißen könnte wie etwa Tony Blair Ende der neunziger Jahre“, so Pelinka.

Und im jetzt konservativen Lager sieht es freilich auch nicht besser aus. Als paradigmatisch für die Situation mag jene Politpersönlichkeit gelten, die aller Wahrscheinlichkeit nach von den Regierungschefs der 27 Staaten der Union erneut zum Präsidenten der EU-Kommission gekürt werden wird: José Manuel Barroso, der wohl glanz- und kraftloseste Mann, den man sich an der Spitze Europas vorstellen kann. Kein Zweifel: Die konservativen Parteien Europas haben allen Grund, die Sektkorken knallen zu lassen. Allzu bequem sollten sie sich aber nicht in der Jubelstimmung einrichten. Denn, wie Andreas Khol schon im vergangenen Jahrhundert wusste: Das Pendel kann schnell zurückschlagen.

Georg Hoffmann-Ostenhof