Peter Michael Lingens

Österreich hat keine Wahl

Österreich hat keine Wahl

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Alexander Van der Bellen hat beim Bundeskongress der Grünen erwartungsgemäß zurückgerudert: Dass eine Koalition mit der ÖVP leichter als mit der SPÖ fiele, habe er so nicht gesagt, sondern nur, dass die ÖVP derzeit die kleineren Hürden überspringen müsste. Ob er dem linken Flügel seiner Partei damit den Wind aus den Segeln genommen hat, ist ungewiss, denn dort hatte man ihn eindeutig verstanden. Ob er denn wirklich meine, dass man in Fragen der Bildung oder der Integration mit der ÖVP koalieren könnte, wurde er gefragt. Zumindest jeder neutrale Beobachter müsste darauf ein klares „Nein“ zur Antwort geben. Die Differenzen in der Bildungs- und Ausländerpolitik sind auf Bundesebene unüberbrückbar. Die beiden Parteien sind in zwei der zentralsten Fragen gegenteiliger Ansicht.Trotzdem hat Van der Bellen vom Standpunkt der Partei her Recht, wenn er eine Koalition mit der ÖVP jener mit der SPÖ vorzieht. Denn in dieser Koalition repräsentierte er das linke Gegengewicht zum schwarzen Schwergewicht. Er kann am Ende der Legislaturperiode damit rechnen, dass Wähler, die „linke“ Interessen stärken wollen, zu ihm überlaufen. In einer Koalition mit der SPÖ wäre es dagegen genau umgekehrt: Am Ende einer Legislaturperiode müssten sich die Wähler sagen, dass sie, wenn sie die Linke stärken wollen, doch lieber gleich beim roten Schmied statt beim grünen Schmiedl anheuern. Anschauungsunterricht bot der Niedergang des „rechten“ Schmiedls Jörg Haider neben dem „rechten“ Schmied Wolfgang Schüssel. Heinz-Christian Strache hat daraus bekanntlich die Lehre gezogen und wünscht sich eine Koalition mit der SPÖ statt der ÖVP.

Das für mich Unbegreifliche ist, dass Österreichs Wähler dieses Spiel mitspielen, statt zu begreifen, dass es dem Land zwingend Stillstand beschert: Die Koalition zwischen ÖVP und SPÖ bedingt den Stillstand, den wir zurzeit erleben, denn die beiden nehmen in zwei zentralen Bereichen – Bildung und Zuwanderung – gegenteilige Standpunkte ein.
E Die Koalition zwischen den Grünen und der ÖVP, wie sie Van der Bellen taktisch zu Recht anstrebt, bedingte denselben Stillstand, weil die beiden in denselben zentralen Bereichen – Bildung und Zuwanderung – dieselben gegenteiligen Standpunkte einnehmen. Und die Koalition zwischen FPÖ und SPÖ, wie Strache sie anstrebt, bedingte zum dritten Mal denselben Stillstand, weil die beiden in zentralen Bereichen – Bildung und Zuwanderung – gegenteilige Standpunkte einnehmen. Es muss den Wählern doch irgendwann dämmern, dass wir ein politisches System haben, bei dem, wenn alle das taktisch Beste für ihre Partei tun, das für den Staat Schlechteste herauskommen muss – nämlich Stillstand durch gegenseitige Lähmung.

Das ist so lange keine Katastrophe, als die Regierung nichts Ernsthaftes entscheiden muss. Aber in nächster Zeit kommen sehr ernsthafte Herausforderungen auf sie zu: Die US-Finanzkrise ist längst nicht ausgestanden und kann sehr wohl zu einer gröberen Rezession führen. Dann werden wirtschaftliche Entscheidungen, die man derzeit auch schwachsinnig treffen kann – wie etwa der unterlassene Verkauf der AUA – zur Todsünde.
E Und die Globalisierung ist zweifellos die größte Herausforderung des Jahrhunderts. Wie wir sie meistern, hängt davon ab, wie groß unser Stock an hervorragenden Technikern, Physikern, Chemikern, Biologen usw. sein wird. Das wieder hängt von zwei Entwicklungen ab: von der Zuwanderung – ob es uns gelingt, die besten Leute aus dem ehemaligen Ostblock oder diversen Schwellenländern für uns nutzbar zu machen; und von der Bildungspolitik – ob es uns gelingt, Qualität statt Mittelmaß zu produzieren. Entscheidungen in der Zuwanderungs- und Bildungspolitik werden daher Schicksalsentscheidungen sein. Dennoch beharren wir auf einem Wahlrecht, das nur in Ausnahmefällen klare Verhältnisse für klare Entscheidungen schafft. Wir fordern den Stillstand heraus. Der Widerstand gegen ein mehrheitsförderndes Wahlrecht hat zwei zentrale Ursachen: Die in der Bevölkerung herrschende Vorstellung, dass die „große Koalition“ mit ihren ständigen Kompromissen besonders leistungsfähig sei – obwohl das Gegenteil wahr ist: Die Alleinregierungen Klaus und Kreisky haben mit Abstand mehr weitergebracht. Und die Regierung Schüssel, in der zwei „rechte“ Parteien zusammengearbeitet haben, weil Haider noch nicht ahnte, dass das zu seinem Niedergang führen musste, war wirtschaftlich zumindest die zweitbeste Lösung. Der massivste Widerstand kommt aber von den Grünen und der FPÖ: Wenn es, wie sie meinen, um ihre Existenz geht, ist ihnen das Wohl des Staates zwangsläufig egal. Aber es geht nicht um ihre Existenz: Es gibt mehrheitsfördernde Systeme, die, wie etwa in Frankreich, keineswegs zum Untergang der kleineren Parteien führen. Richtig ist allerdings, dass sie so lange nicht mitregieren können, als sie nicht selbst zur stärksten Partei geworden sind. Wenn Van der Bellen die Idee aufgegeben hat, dass die Grünen das jemals werden könnten, sollte er das sagen. Wenn er der Meinung ist, sie müssten mitregieren, selbst wenn es sie die Seele kostet, auch.

Peter Michael Lingens ist Mitglied des Proponentenkomitees der Initiative Mehrheitswahlrecht.