Zeitgeschichte: Geheimakte Prag '68

Operation Urgestein - Sensationelle Akten über den Prager Frühling ausgegraben

Sensationelle Akten über den Prager Frühling

Drucken

Schriftgröße

Dabei wäre die Lektüre durchaus kurzweilig: Ostblock-Bonzen, die um ihre Macht fürchten und ständig dreinschlagen wollen; ehemalige Helden, die flugs zu Verrätern werden, und österreichische Politiker, die in der Stunde der Entscheidung ganz einfach nicht in der Nähe eines Telefons sind und alles verschlafen.
Der Grazer Zeithistoriker Stefan Karner und sein Team vom Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung haben gemeinsam mit der russischen Akademie der Wissenschaften in den vergangenen zwei Jahren in Moskauer Archiven abertausende Akten studiert, die dort unter „Streng geheim!“ abgelegt waren: Protokolle der Politbürositzung der KPdSU, Mitschriften aus dem Zentralkomitee, Gesprächsaufzeichnungen der Ostblockgipfel, Berichte von Botschaftern.
Mit der kommentierten Veröffentlichung dieser Papiere wird die Geschichte des „Prager Frühlings“ und seiner Niederschlagung durch die Truppen des Warschauer Pakts neu geschrieben.*
Das Niederwalzen der Demokratisierungsversuche der tschechoslowakischen KP-Führung am 21. August 1968 war der Beginn des zwanzig Jahre währenden Zusammenbruchs des Kommunismus. In den folgenden Monaten zerriss es fast alle kommunistischen Parteien Westeuropas an der Frage, ob hier die Konterrevolution oder die Demokratie zermalmt wurde. Auch die KPÖ verkam nach dem Drama von Prag zur Sekte. Alle Illusionen, es könne einen „Kommunismus mit mensch­lichem Antlitz“ geben, verdampften mit ­einem Schlag. Der August ’68 setzte auch dem Mai ’68 ein jähes Ende: Nicht dass die antiautoritären und neuen Linken große Hoffnungen in den Kreml gesetzt hatten – aber das schöne Wort „Sozialismus“ trug nun die Blutspuren vom Wenzelsplatz.

Es ist kein Zufall, dass das Experiment, eine kommunistische Partei zu demokratisieren, just in Prag stattfand. Die Tschechoslowakei war vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, mit Ausnahme der Schweiz, die einzige funktionierende Demokratie Mitteleuropas gewesen. Die KPTsch war 1946 durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen: Sie hatte 40 Prozent der Stimmen erreicht, auf die Sozialdemokraten waren weitere zwölf Prozent ge­fallen. 1948 murksten die Kommunisten die Demokratie freilich schon wieder ab und veranstalteten stalinistische Schau­prozesse.
Ein Vertreter der Repression war Parteichef Antonín Novotn´y, der den 1953 verstorbenen Stalinisten Klement Gottwald beerbt hatte. Im Dezember 1967 wurde es für Novotn´y eng: Bei der Sitzung des ZK übte der slowakische Parteichef, der 46-jährige Alexander Dubcek, heftige Kritik an seiner Politik der harten Hand. Im Jänner wurde Novotn´y von Dubcek als KP-Vorsitzender abgelöst.
Allmählich änderte sich das Klima in Prag: Im Februar wurden Sitzungsberichte der Parteigremien in der Presse veröffentlicht, am 4. März wurde die Pressezensur aufgehoben. Schon zwei Tage später wurde in Moskau erstmals die Möglichkeit einer militärischen Intervention erwogen, sollten sich die Dinge in der CSSR weiter
so entwickeln. Es war der dumpfste Hau­drauf im Ostblock, der bulgarische KP-Chef ­Todor Schiwkow, der dem Ober-­Sowjet Leonid Breschnew diesen Gedanken nahelegte. Ein nicht untypischer ­Vorgang, wie die nun veröffentlichten ­Protokolle der Geheimtreffen zeigen: Die roten Kleinfürsten, der Pole Wladyslaw Gomulka, der DDR-Spitzbart Walter Ulbricht und eben Schiwkow, drängten schon zum Losschlagen, als Breschnew noch nach einer politischen Lösung suchte. Sie fürchteten ein Übergreifen des Demokratie-Virus auf ihr Land.
Ende März wird Novotn´y auf Druck der Reformer auch als Staatspräsident gestürzt und durch den alten General Ludvík Svoboda ersetzt. Die KPTsch veröffentlicht ihr Aktionsprogramm „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“.

Der aufgebrachte SED-Chef Ulbricht übermittelt dem ZK-Plenum in Moskau umgehend ein Memorandum, in dem er „kollektive Hilfe bis hin zu äußersten Maßnahmen“ fordert. Polens Gomulka spricht von „bewaffneter Intervention“. Breschnew wiegelt ab: „Wir werden uns wegen dieser Dinge wohl wieder treffen müssen.“

„Konterrevolution“. Als der tschechische Schriftstellerverband Ende Juni sein legendäres „Manifest der 2000 Worte“ veröffentlicht, in dem „Irrtümer des Sozialismus“ angeprangert werden, sind selbst die Reformer um Dubcek etwas irritiert. Vom Volk wird das Manifest begeistert aufgenommen. Zwei Wochen später, Mitte Juli, treffen sich die Ostblock-Granden in Abwesenheit der Genossen aus der CSSR in Warschau. Auch die Protokolle dieser Sitzung sind Teil des nun geborgenen Aktenschatzes.
Der Bulgare Schiwkow will sofort Truppen in Marsch setzen. Der ungarische Parteichef János Kádár zögert und wird vom ostdeutschen Stahlhelm Walter Ulbricht zusammengestaucht: „Der nächste Schlag der Konterrevolution wird gegen euch, die ungarische Volksrepublik, geführt werden.“
Zurück in Moskau, weist Breschnew seine Militärs an, Vorbereitungen für eine Invasion zu treffen. Noch zweimal – bei Treffen in Cierna nad Tisou in der Ostslowakei und am 3. August in Bratislava – sucht er in Direktgesprächen eine Lösung. In Bratislava stellt er bereits ein Ultimatum: Dubcek müsse den Fernsehdirektor Jirí Pelikán, Radiodirektor Zdenek Hejzlar und Innenminister Josef Pavel – drei ­entschlossene Reformer – austauschen. Dubcek zeigt sich kompromissbereit – und tut nichts. Am 13. August kommt es zu einem erregten Telefonat: Breschnew wirft Dubcek den Bruch seiner Zusagen von Bratislava vor. Dubcek reagiert gereizt.
Die Sowjets haben zu diesem Zeitpunkt bereits einen Brief mit der Bitte um „brüderliche Hilfe“ in der Tasche: Der Generalsekretär der slowakischen KP, Vasil ­Bilak, ein Moskau-Treuer, hatte ihn der sowjetischen Delegation am Rande des Treffens in Bratislava auf einer Toilette zugesteckt. Die Sowjetunion wird ihn am Tag der Invasion veröffentlichen und behaupten, man handle nur auf dringenden Wunsch der „gesunden Kräfte“ im Land.
Am 20. August tritt das ZK der KPTsch in Prag zu einer Sitzung zusammen, die sich bis in die Nachtstunden zieht. Kurz vor Mitternacht wird vom Prager Flug­hafen gemeldet, ein sowjetischer Kommandotrupp habe soeben den Tower gestürmt. Die Invasion hat begonnen. Hektisch wird eine Erklärung formuliert, die den Einmarsch verurteilt. Die Bevölkerung wird zur Ruhe aufgerufen. Um 1.30 Uhr ist der Text fertig.
Eine halbe Stunde später wird in Wien der 35-jährige Diplomat Thomas Klestil, engster Mitarbeiter von Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP), aus dem Schlaf gerissen. Der Anruf kommt aus dem Verteidigungsministerium: Die Gruppe Nachrichtenwesen habe soeben berichtet, die Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei sei angelaufen.
Dumm nur, dass der Bundeskanzler wie auch der Verteidigungsminister unerreichbar sind. Sie urlauben – und zwar ohne Telefon.
Die nun in Moskau gefundenen Akten erhellen auch, wie improvisiert und possenhaft die österreichische Politik während der Krise manchmal reagierte.

Abwesenheiten. Die politische Führung des Landes hatte sich nach der vermeintlichen Einigung in Pressburg ab dem 3. August in den Urlaub verfügt: Bundespräsident Jonas weilte in Mürzsteg, Verteidigungsminister Georg Prader spannte am Erlaufsee aus. Er hatte ebenso wie der im niederösterreichischen Wolfpassing urlaubende Kanzler Josef Klaus keinen Telefon­anschluss im Haus. Der Innenminister war in Kitzbühel. Ferien machten auch der Generaltruppeninspektor, der Chef des Nachrichtendienstes und der zuständige Generalstäbler.
Dass die für den Grenzsicherungseinsatz vorgesehenen Einheiten dennoch bereits ab acht Uhr Früh marschbereit waren, lässt vermuten, dass die Heeresleitung ihre Hausaufgaben vorher gemacht hatte.
Tatsächlich hatte der Heeresgeheimdienst bereits im März vor Zoff gewarnt: Informanten hatten berichtet, in Polen würden Wegmarkierungen in kyrillischer Schrift Richtung Süden angebracht.
Ab 24. Juli – die Rote Armee hatte tags zuvor mit Großmanövern in der Ukraine begonnen – wurden die Vorbereitungen des Bundesheers intensiviert und liefen unter einem Codewort: „Aktion Urgestein“. Freilich: Schon am nächsten Tag musste der Verteidigungsminister seinem Generalstab auf Wunsch von Bundeskanzler Klaus mitteilen, die Einheiten dürften sich im Ernstfall der Grenze nur auf 30 Kilometer nähern, um den russischen Bären nicht zu reizen.
Als das Bundesheer am Nachmittag des 21. August die erlaubten Stellungen einnahm, lagen einige der vorweg eingerichteten Kommandostände ein gutes Stück vor den Linien – das hatte es in der Militärgeschichte noch nie gegeben. In der Bevölkerung löste es Bitterkeit aus, als grenznahe Kasernen, wie etwa Weitra, geräumt und die Garnisonen nach Süden verlegt wurden. Noch dazu war durchgesickert, Kanzler Klaus wolle sich aus dem zu grenznahen Wien absetzen und von der Bezirkshauptmannschaft Zell am See aus regieren.
Schon bei seiner ersten Rundfunkrede, um sieben Uhr Früh jenes denkwürdigen 21. August 1968, hatte der Kanzler jede Wertung der Ereignisse vermieden und nur die Verpflichtung zur Neutralität betont. Der damals im Studio anwesende ORF-Generalintendant Gerd Bacher – ein Klaus durchaus verbundener Mann – schreibt im Berichtsband der nun erschienenen Dokumentensammlung, ihm sei die Erklärung des Kanzlers sehr „leisetreterisch“ erschienen: „Ein Ruhmesblatt war sie nicht.“

Wenige Stunden nach dem Einmarsch kam es zu einer fragwürdigen Weisung des Außenministeriums an die Botschaft in Prag: Tschechoslowakische Staatsbürger, die im Gebäude Schutz suchten, sollten „durch gütliches Zureden zum Verlassen desselben bewogen werden“. Der aus dem Urlaub nach Prag zurückeilende Botschafter Rudolf Kirchschläger ignorierte die Anordnung ebenso wie den wenige Tage später eintreffenden Wunsch, keine Visa mehr auszustellen.
Wie unterwürfig die Haltung der österreichischen Politik war, illustrieren die in Moskau ebenfalls gefundenen Aufzeichnungen des sowjetischen Botschafters in Wien, Boris Podcerob.
Nachdem es am 21. April zu Aufklärungsflügen der Sowjets über österreichischem Staatsgebiet gekommen war, bat Außenminister Kurt Waldheim Podcerob zu sich. Zum Erstaunen des Botschafters erklärte ihm Waldheim, die Truppen seien nur zur Beruhigung der Bevölkerung in Grenznähe verlegt worden, er möge diesen Vorgang nicht überbewerten. Protest gegen die Überflüge legte der Außenminister nicht ein. Selbst als zwei Tage später ein Sowjethubschrauber im Weinviertel landete, gab es keinen offiziellen Protest.
Waldheims Vorsicht war bisweilen fragwürdig. So sprach er Podcerob am 28. August auf einen Artikel in der Sowjetzeitung „Literaturnaja Gazeta“ an. Darin war behauptet worden, US-Spezialeinheiten seien in der Salzburger Schwarzenbergkaserne stationiert. Podcerob antwortete kühl, das Blatt sei eine Vereinszeitung, auf die der Staat keinen Einfluss habe. Waldheim schluckte diese Lüge. Als Podcerob im Gegenzug die „einseitige“ Berichterstattung von ORF und österreichischer Presse beklagte, entgegnete ihm der Außenminister eilfertig, er habe ohnehin „schon mehrmals mit Zeitungsredakteuren gesprochen und ihnen Anweisung gegeben, die Ereignisse unter Berücksichtigung der österreichischen Neutralität zu beleuchten“. Podcerobs Aktennotiz nach dem Treffen: Waldheim habe ihm zugestimmt, „dass die bestehende Pressefreiheit Grenzen habe, die ihr durch die Verpflichtungen Österreichs durch den Staatsvertrag auferlegt werden“.
Da war ORF-General Bacher schlauer: Schon im Frühjahr hatte er sich ein Gutachten des Salzburger Rechtsgelehrten René Marcic besorgt. Dessen Schluss: „Die Neutralität verpflichtet den Staat, aber nicht den Staatsbürger.“ Dieses Papier hielt Bacher auch dem SPÖ-Vorsitzenden Bruno Kreisky unter die Nase, als dieser die ORF-Berichte als neutralitätswidrig bezeichnete.

Gerüchte. Andere Vorwürfe der Sowjets waren ernsthafter als die windigen Behauptungen in „Literaturnaja Gazeta“. Schon am 8. Mai hatte Breschnew laut Dokumentenlage gemutmaßt, „Geheim­agenten verschiedener imperialistischer Nachrichtendienste“ würden über Österreich in die Tschechoslowakei eingeschleust. Der spätere Parteichef Jurij An­dropow, 1968 noch KGB-Chef, sprach im Oktober im ZK der KPdSU über „500 österreichische Polizisten in Zivil“, die in Sanitätswagen Waffen in die CSSR geschmuggelt hätten. Blanker Unsinn.
Mehr Substanz hatte die Behauptung der Nachrichtenagentur TASS vom ­De­zember 1968, Öster­reichs Militärgeheimdienst konzentriere seine Tätigkeit auf die Tschechoslowakei: Tatsächlich horchte das Bundesheer seit 1962 von der mit NATO-Geld gebauten Lauschstation Königswarte bei Hainburg tief in den Ostblock hin­ein. Die entsprechenden Aufzeichnungen wurden postwendend an US-Stellen in Deutschland weitergeleitet.

Die jetzt geborgenen Akten lassen aber auch so manchen Helden des Prager Frühlings in einem anderen Licht dastehen.
Parteichef Alexander Dubcek war schon vier Stunden nach der Landung der ersten Kommandotruppen festgenommen und nach Moskau gebracht worden. Dubcek, der mit seinen Eltern bis zum 17. Lebensjahr in der Sowjetunion gelebt hatte und akzentfrei russisch sprach, wurde umgehend von Leonid Breschnew zu „Verhandlungen“ empfangen. Breschnew war klar, dass eine Absetzung oder gar ein Verschwinden Dubceks bürgerkriegsähnliche Zustände in der CSSR schaffen würde, also bot er ihm ein Schlupfloch an: „Wir wollen dir nicht persönlich vorwerfen, dass du schuld bist. Du könntest das ja auch nicht gewusst haben.“ Dubcek blieb unbeugsam: Er warf den Kremlherren schlicht eine „realitätsferne Be­urteilung“ vor. Der Einmarsch habe „die kommunistische Bewegung vor das schwierigs­te Problem gestellt, vor dem sie jemals stand“.
Der tschechoslowakische Staats­präsident Svoboda war über die Inhalte dieses Gesprächs nicht informiert, als er wenige Stunden später im Kreml eintraf. Das Protokoll dieser Aussprache ist ein Schlüsseldokument über das von stalinistischem Schrecken geprägte Klima in der Ostblock-Nomenklatura. Auf Breschnews listige Frage am Beginn des Gesprächs, was denn nun geschehen solle, antwortete der bis dahin als Symbol des Prager Frühlings gehandelte Svoboda: „Gen. Dubcek solle nach Prag kommen, sich schuldig bekennen und seine Machtbefugnisse ablegen.“ Als er merkte, dass der Hase anders lief, schaltete er blitzschnell um: „Wenn er von seinem Posten zurücktritt, wäre es für uns alle besser. Wenn er auf seinem Platz bleibt. Bitte schön.“
Am Abend desselben Tages strahlte das Prager Radio zur Beruhigung des Volkes eine Botschaft Svobodas aus, wonach er bei den Verhandlungen in Moskau auf der weiteren Teilnahme Dubceks bestanden habe. Seither gilt der 1979 verstorbene Svoboda als Held der Reformära.

Dubcek durfte bis April 1969 im Amt bleiben, freilich jeglicher Macht beschnitten. Die folgenden zwanzig Jahre brachte er sich als Gärtner durch. Nach der „samtenen Revolution“ von 1989 wurde er Parlamentspräsident.

Am 1. September 1992 starb Alexander Dubcek bei einem bis heute nicht geklärten Autounfall in Mähren.

Von Herbert Lackner